Outback Todesriff. Manuela Martini
getan. Wenn man um die Liebe gebracht wird, ist es aus.
Die Kopie des Briefes lag bei den Akten. Die Handschrift hätte von einer Dreizehnjährigen stammen können. Er schluckte, und sein Magen fühlte sich plötzlich an, wie damals auf dem Schiff.
„He, vertragen Sie die Luft hier nicht?“ Paddy, der gerade hereinkam, warf ihm einen musternden Blick zu. „Ich sag Ihnen, es wird noch viel heißer, das ist erst der Anfang.“
„Kannten Sie Betty Williams?“, fragte Shane und hatte sich wieder im Griff.
„Wie kommen Sie denn auf die?“ Paddy kratzte sich am Kinn. „Naja, ist hier als Kind aufgewachsen, war lange weg und kam dann auf Besuch, um sich umzubringen.“
„Seltsam, oder?“
Paddy zog die Schublade auf und holte eine Tüte heraus. „Hab schon Seltsameres erlebt.“
„Ihr Bruder hat sie gefunden“, beharrte Shane.
„Versteh gar nicht, warum Sie sich dafür interessieren“, sagte Paddy mit vollem Mund. Er hielt einen Donut in der Hand.
„Können Sie mir keine normale Antwort geben?“, fuhr Shane ihn an. Paddy hörte auf zu kauen und musterte ihn. „Sie verlieren schnell die Nerven, was? Das ist die Stadt. Der Lärm, der Dreck, die vielen Menschen. Sie sollten sich wirklich überlegen, ob Sie sich nicht ein ruhigeres Plätzchen suchen, ich meine ... man hat ja nur ein Leben, und ich kenn ein paar solcher Typen wie Sie. Mit fünfzig hatten die ihren ersten Herzinfarkt und ihren Fünfundfünfzigsten haben Sie mit Petrus und den Engeln gefeiert. Nicht, dass Ihnen ...“
„Meine Schwester hat sich umgebracht“, fiel Shane ihm ins Wort ohne dass er es gewollt hatte. Und Paddy verstummte augenblicklich.
„Hat sich in ihrem Abschiedsbrief für das schlechte Timing entschuldigt. Es war Weihnachten“, redete Shane weiter. Irgendwie konnte er jetzt nicht aufhören.
Paddy blickte zu Boden.
„Bitte vergebt mir meinen miserablen Sinn für den richtigen Zeitpunkt, hat sie geschrieben.“ Shane kannte die Worte auswendig.
„Tut mir leid“, brachte Paddy schließlich hervor und legte den angebissenen Donut zurück in die Tüte. „Wollen Sie `n Rum?“ Ohne Shanes Antwort abzuwarten nahm er eine Flasche Bundaberg Rum und zwei Gläser aus dem Schreibtisch und goss ein. Es war das erste Mal, dass Shane Sympathie für den dicken Polizisten empfand.
„Coke ist mir ausgegangen“, sagte Paddy.
Sie tranken den Rum pur und schwiegen. Dann verabschiedete sich Paddy, murmelte: „Charly wird schon ungeduldig“ Shane brauchte einen Moment, um sich wieder daran zu erinnern, dass Charly ja das Auto war und Paddy zu seiner Kontrollfahrt aufbrach.
Shane lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und hätte gern einen weiteren Rum getrunken. Heute Abend würde er nicht mehr viel in die Wege leiten können. Hoffentlich fand Eliza endlich etwas Brauchbares heraus. Dieser Fall schien sich sonst irgendwo im Nebel zu verlieren. Er bemerkte, dass Kathy McKenzie vom Missing Persons Bureau ihm eine Mail geschickt hatte:
Zwei Personen waren von ihren Angehörigen in Charleville als vermisst gemeldet worden. Doch die Beschreibungen passten nicht auf die Leiche. Shane schickte eine Mail an Kathy und bat sie in einem weiteren Umkreis nach Vermissten zu suchen. Er wusste: alle achtzehn Minuten wurde im ganzen Land eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Fünfunddreißigtausend Menschen verschwanden jährlich – und das bei kaum fünfundzwanzig Millionen Einwohnern. Die Hälfte der Vermissten waren Jugendliche, die ausrissen, sich aus Abhängigkeiten befreiten, ein neues Leben oder überhaupt ihr Leben beginnen wollten. Und nicht immer wollten sogenannte „Vermisste“ wieder gefunden werden.
Vielleicht, dachte er, war der Tote aber auch woanders ermordet und dann erst nach Coocooloora geschafft worden. Dann stünde er nicht auf der Liste. Es könnte natürlich auch möglich sein, dass der Tote niemals als vermisst gemeldet worden war, weil er weder Familie noch Freunde hatte, keinen Beruf, kein Bankkonto, kein Auto. Doch an diese Möglichkeit wollte Shane nicht denken, jetzt noch nicht. Wer also war der Tote?
Sein Gespür sagte ihm, dass hier einige Leute mehr wussten als sie zugaben. Der Fall würde sich noch eine ganze Weile hinziehen – wenn er ihn überhaupt lösen könnte. Mit dem nächsten Telefonat ließ er sein Zimmer im Pub für eine Woche reservieren.
Andy
Andy war mit Brady zur Tankstelle gefahren, hatte aber nicht gewagt, ihn zu fragen, warum er in der letzten Nacht so seltsam wegen der Axt reagiert hatte. Am Nachmittag würde er auf den Schwager des Tankstellenpächters warten, der in Lambina gewesen war. Danach würde er entscheiden, was er tun wollte. Allmählich machte er sich immer mehr Gedanken über sein Vorhaben. Am Anfang war alles noch so einfach gewesen. Er hatte sich zu Bernie ins Auto gesetzt und war losgefahren. Jetzt aber, gerade mal zweihundert Kilometer weiter, hatte ihn der Mut verlassen.
Seit zwei Tagen wartete er. Nein, eigentlich wartete er seit Jahren. Auf die Kommandos seines Vaters, auf einen Opal-Fund, auf den nächsten Tag, auf das Glück. Gestern hatte er auf den gewartet, der ihn mitnehmen sollte, und jetzt auf den Schwager eines fremden Tankstellenpächters. Das alles gefiel ihm nicht.
Andy schlenderte am Pub vorbei und überlegte was wohl passieren würde, wenn er da noch mal hineingehen würde. Auf der anderen Seite sah er im Schaufenster des Lebensmittelladens Jo. Sie klebte Plakate mit Sonderangeboten auf die Scheibe. Andy winkte ihr zu, doch sie schien zu erschrecken.
Dennoch ging er in den Laden. Die Türglocke bimmelte und Jo stieg aus dem Schaufenster. Ihr Gesicht war rot, bemerkte er jetzt. Die Vorstellung, dass sie geweint hatte, machte ihn verlegen.
„Ich dachte, du bist längst weg“, sagte sie und wich seinem Blick aus.
„Sie sagen, dass es keinen Sinn hat, nach Lambina zu gehen.“
„Was hat schon Sinn?“ Sie sah ihn an, bis er sich losriss.
„Ja, dann ... Auf Wiedersehen“, sagte er und drehte sich um. Er öffnete die Tür als ihn das Geräusch eines dumpfen Schlages herumfahren ließ. Jo riss die Tür zum Büro auf und stürzte die Treppe zum Büro hinauf. Andy stand da und wartete – auf irgendetwas.
Sie rief nicht, sie schrie. Und er rannte die Treppe hinauf, darauf gefasst, etwas Schreckliches zu sehen. Er stolperte über einen dicken Teppich auf ein rötliches Licht zu, das aus einer Tür fiel.
Jo stand vor zugezogenen Vorhängen, unfähig etwas zu tun. Und dann sah er ihn. Im Schlafanzug auf dem Teppichboden auf dem Bett, daneben ein umgekippter Rollstuhl. Zuerst dachte Andy wirklich, der Mann sei tot und beugte sich über ihn. Da bemerkte er, dass sich der Brustkorb hob und senkte.
„Er wollte ins Bett“, sagte sie und kniete sich neben ihn. Andy nahm die Sache in die Hand. Er fühlte sich ungewöhnlich stark. Er schob den Rollstuhl zur Seite, griff mit einem Arm unter die Schulter und mit dem anderen unter die Kniekehlen des Mannes und hob ihn hob. Er war schwerer als er dachte. Andy legte ihn aufs Bett. Sie deckte ihn zu. Schuldbewusst, wie er fand.
„Danke“, sagte sie zu Andy und er dachte, dass es ganz schön hart für sie sein musste, den Laden zu führen und ihren Vater zu pflegen. Doch da fiel Andys Blick im Hinausgehen auf eine Fotografie. Dort hatte der Mann seinen Arm um Jo gelegt, er sah darauf viel jünger aus und sie lachten beide in die Kamera.
Langsam stieg Andy die Treppe hinunter. Als er sich unten umdrehte stand sie hinter ihm. Ihre Hände umfassten sein Gesicht, zogen ihn zu ihrem Mund. Es geschah so schnell, dass er sich nicht wehren konnte – aber das wollte er auch gar nicht. Er erschrak ein bisschen, aber dann überwältigte ihn ein ganz neues, unbeschreibliches Gefühl als er ihre weichen, warmen Lippen auf seinen spürte, und ihre Zunge seine berührte ... Heftig verscheuchte er das Bild ihres hilflosen Mannes eine Etage über ihnen. Andy wusste plötzlich, dass es richtig war, hier zu bleiben, richtig gewesen war, seinen Vater zu verlassen. Das Glück ist jetzt und hier, oder nicht? Er würde es festhalten. Ganz fest .
„Hi!“
Andy