Kullmann unter Tage. Elke Schwab

Kullmann unter Tage - Elke Schwab


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der Anfang einer vorzeitig eingestellten Strecke. Dort sind wir nur einige Meter vorgestoßen, bis die Planungsabteilung die Arbeiten wegen des Abbaustopps beendet hat.«

      »Also sowas wie eine Sackgasse?«

      »Genau. Am Montag, wenn die Auszubildenden das erste Mal unter Tage arbeiten, lasse ich sie diesen Eingang zumauern.«

      »Wofür werden die Männer überhaupt noch ausgebildet?«

      »Sie können mit den Fertigkeiten, die sie hier lernen, in Gruben im Ruhrgebiet sofort zu arbeiten beginnen – solange die Gruben dort noch in Betrieb sind. Oder ins Ausland gehen.«

      Ann-Kathrin setzte ihren Weg fort. Die beiden Männer folgten ihr, bis sie auf eine Heiligenfigur in einer Wandnische stießen. Darunter standen die Namen: Karl Fechter und Winfried Bode.

      »Was ist den beiden passiert?«, fragte sie.

      Remmark schnaubte und schob sich das nächste Stück Kautabak in den Mund. Hektisch bewegte er seine Kiefer, als er antwortete: »Dort ist vor Jahren ein Stollen eingebrochen.«

      »Wann war das?«

      »Vor elf Jahren – im Herbst 1999«, antwortete Remmark. »Haben Sie nichts von dem Unglück gehört?«

      Ann-Kathrin überlegte eine Weile. »Gehört schon. Ich kann mich aber nicht mehr an Einzelheiten erinnern.«

      »Mehrere Bergleute sind hier verschüttet worden. Alle konnten nur noch tot geborgen werden.« Eine kurze Pause entstand, dann fügte Remmark an: »Bis auf diese beiden.«

      Die Stille, die nun folgte, war bedrückend.

      »Gehörten diese beiden Kameraden zu Ihrer Gruppe?«, fragte Schnur.

      »Eher umgekehrt. Fechter war vorher der Steiger und ich gehörte zu seiner Partie. Winni Bo war Streckenhauer. Er hing immer mit Fechter zusammen.«

      »Winni Bo?«, fragte Schnur staunend.

      »So nannten wir Winfried Bode, weil wir schon einige Winnis hatten und Verwechslungen vermeiden wollten«, erklärte Remmark.

      »Und was ist mit den Leichen?«

      »Sie konnten trotz erheblichen Aufwands nicht gefunden werden. Keine Spur von ihnen.« Remmark spuckte. »Sie waren so tief verschüttet, dass wir sie dort liegen lassen mussten. Deshalb haben wir eine Statue der heiligen Barbara, die Schutzpatronin der Bergleute, an dieser Stelle angebracht – als Gedenkstätte sozusagen.«

      Das nahm Schnur zum Anlass, wieder auf den eigentlichen Grund zu sprechen zu kommen, weshalb er überhaupt in diesen tiefen unterirdischen Katakomben umherirrte: »Okay. Wir sind aber hier, um den Fall unseres Toten in luftiger Höhe zu bearbeiten. Wir sollten also weitergehen!« Er wollte so schnell wie möglich wieder an die Oberfläche zurückkommen.

      Einige Zeit schritten sie zu dritt die Strecke entlang und sprachen kein Wort. Bis Remmark schließlich am Schacht stehenblieb und auf ein Gitter zeigte.

      »Hier!«

      Bei genauem Hinsehen konnte Schnur über dem Gitter eine Schiene erkennen, auf der Rollen liefen, an denen das Gitter befestigt war. Zwischen den unregelmäßigen Eisenstäben konnte man deutlich das Stahlseil erkennen.

      Schnur schaute sich um. In einiger Entfernung sah er einen Bergmann, der mit zügigen Schritten in der Dunkelheit verschwand. Ein anderer trat aus einem Seitenstollen und verschwand wieder auf der gegenüberliegenden Seite.

      »Warum ist es hier so ruhig?«

      »Weil hier nicht gearbeitet wird. Allerdings herrscht zum Schichtwechsel hier Hochbetrieb.«

      Schnur nickte und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Schachttür. »Sieht nicht so aus, als könnte jemand zufällig durch das Gitter fallen.«

      »Wie meinen Sie das?«

      »Dass es kein Unfall war. Jemand muss das Gitter geöffnet haben.«

      »Niemand hat das Gitter geöffnet«, widersprach Remmark.

      »Was macht Sie so sicher?«

      »Wenn das Gitter geöffnet wird, bekommt unser Fördermaschinist über Tage ein Warnsignal, damit er den Korb nicht weiterfährt. Aber Siggi hat nichts dergleichen gemeldet.«

      »Aber irgendwie ist der Mann an das Seil geraten.« Schnur warf einen Blick durch die Gitter auf das Stahlseil und fügte an: »Es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass jemand an einem solchen Seil aus Versehen hängenbleibt.«

      »So unwahrscheinlich ist das nicht«, widersprach Remmark. »Wenn Sie genau hinsehen, erkennen Sie die einzelnen dünneren Seile, aus denen das dicke Führungsseil zusammengesetzt ist.«

      Schnur nickte.

      »Die heißen Litze. Manchmal passiert es, dass sich eine Litze ablöst. Dann ragt sie aus dem Seil wie ein fingerdicker Dorn. Und der besteht aus stabilem Stahl. Daran kann ein Mensch hängenbleiben.«

      »Und wie?«

      »Mit dem Lampengürtel zum Beispiel.«

      »Aber wie ist er dorthin gekommen?«

      »Vielleicht ist er tatsächlich durch das Gitter geklettert und wollte über die Fahrten im Schacht nach oben. Dabei wurde er ohnmächtig.«

      »Diese Leitern befinden sich also innerhalb des Schachtes?«

      »Ja. Die sind für Notfälle, wenn der Korb mal ausfällt oder mitten in einer Fahrt stehen bleibt. Das ist schon mal vorgekommen, als hier noch mehr los war. Früher haben wir hier noch mit mehreren Hundert Mann gearbeitet. Da fuhren die Körbe mit Menschen und Material ständig rauf und wieder runter. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viel Betrieb hier mal geherrscht hat.« Remmark schnappte wieder nach Luft. Als niemand auf seine Worte reagierte, sprach er weiter: »Mit 3000 Mann haben wir täglich 6000 Tonnen nach oben befördert. Das waren noch Zeiten. Doch im Laufe der Jahre wurden immer weniger Bergleute beschäftigt. Den Rest kennen Sie ja.«

      »Ich habe genug gesehen. Leider müssen wir den ganzen Weg wieder zurück, weil der Gustavschacht noch gesperrt ist«, murrte Schnur.

      Remmark steuerte den Zug an, der bereits auf sie zu warten schien.

      *

      Schon wieder spürte Andrea Westrich die prüfenden Blicke der Männer, während sie sich ihre langen Haare zurückband. Sie suchte Arthur Hollinger, der die Besucher des Erlebnisbergwerks betreute. Nach der Bergung der Leiche war er erstaunlich schnell aus ihrem Blickfeld verschwunden, obwohl alle aufgefordert waren, den Platz nicht zu verlassen.

      Eine Windböe traf sie so heftig, dass sie gegen einen kleinen Mann stieß, der diese Begegnung sofort mit einem freudigen Grinsen kommentierte. Andrea schaute auf und sah ein rundes Gesicht, das voller Kohlenstaub war. Sie konnte nicht anders, sie musste ebenfalls lachen.

      »Glückauf!«, rief der Mann mit rauer Stimme gegen den Wind.

      »Glückauf!«, erwiderte Andrea, die sich den Bergmannsgruß ebenfalls angeeignet hatte.

      »Wen suchen Sie?«

      »Arthur Hollinger, den Touristenführer des Erlebnisbergwerks.«

      »Der ist in die Kaffeeküche gegangen«, rief der Mann. »Wer Addi kennt, weiß, dass er immer beim Essen ist, wenn er mal nichts zu tun hat. Und das kommt oft vor.« Der Bergmann lachte.

      Andrea bedankte sich und machte sich auf den Weg zur Kantine. Der Gedanke an einen Kaffee behagte ihr. Der Wind und die Kälte machten ihr zu schaffen. Sie war für diese Witterung nicht richtig angezogen, weil sie nicht damit gerechnet hatte, an einen Tatort gerufen zu werden.

      Sie öffnete die schwere Tür. Ihr Bick fiel auf eine Theke, die Wurst, Fleisch und Salate in großer Vielfalt anbot. Dahinter entdeckte sie eine Kaffeemaschine – genau das, was sie jetzt brauchte. Doch erst als die Tür hinter ihr zugefallen war, bemerkte sie, wie leise es plötzlich war. Erstaunlich wenig Betrieb herrschte in der Kaffeeküche. Das wunderte sie. Draußen in Wind und Kälte


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