Kullmann unter Tage. Elke Schwab

Kullmann unter Tage - Elke Schwab


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Mutter-Kind-Kur zurückkommen. Er konnte ihre Rückkehr kaum noch erwarten. Sie hatten in den letzten sechs Wochen nur wenig miteinander telefoniert. Und wenn er sie endlich mal erreicht hatte, war Ankes Tochter Lisa die Hauptperson und musste Erik immer alles bis ins Detail berichten. Erik freute sich über die wiedergewonnene Lebensfreude dieses Kindes. In letzter Zeit war Lisa schwermütig geworden. Ankes Einsatz im Ausland hatte dazu beigetragen. Sie hatte ebenfalls unter der Verschlossenheit ihrer Tochter gelitten. Vermutlich war ihr deshalb diese Kur so wichtig worden – um das Verhältnis zwischen Mutter und Kind wieder zu verbessern. Und nach dem Geplapper der Kleinen zu urteilen, war ihr das gelungen.

      Nach Ankes Rückkehr aus dem Ausland waren sie sich näher gekommen. Es fühlte sich aber immer noch sehr zerbrechlich an. Anke wirkte verletzt und versuchte wieder Vertrauen in einen anderen Menschen aufzubauen. Erik wusste, dass sie bisher mit Männern kein Glück gehabt hatte. Vermutlich hatte er ihr zu viel über seine eigenen Verfehlungen erzählt und damit ihre Annäherung auf eine harte Probe gestellt. Er schüttelte über sich selbst den Kopf.

      Plötzlich ging die Tür auf und sein Vorgesetzter Jürgen Schnur spähte ins Zimmer.

      »Träumst du?«, fragte er.

      Erik schaute überrascht auf den Dienststellenleiter. Als er nichts sagte, fügte Schnur an: »Wir haben Dienstbesprechung! Schon vergessen?«

      Die hatte Erik tatsächlich vergessen.

      »Ich komme«, murrte er. Zu gerne hätte er noch einige Minuten weiter an Anke gedacht. Er folgte Schnur in dessen Büro.

      Dort saßen bereits alle beisammen und grinsten ihn an. Rasch schnappte er sich einen Stuhl und setzte sich, damit er die Blicke mit seiner Größe von einsfünfundneunzig nicht noch länger auf sich zog. Die Verspätung war ihm auch so schon peinlich genug.

      »Wir haben die ersten Ergebnisse der Spurensicherung«, begann Schnur, als endlich Ruhe in dem Büro herrschte. Dabei schaute er angestrengt auf einen Bericht, als hätte er Mühe, die Buchstaben darauf zu entziffern.

      »Aber sonst alles klar?«, fragte Erik mit einem süffisanten Grinsen in die Stille.

      »Wer lesen kann, ist klar im Vorteil«, fügte Andrea an.

      Nun lachten alle laut.

      Schnur wollte eine ernste Miene auflegen, doch das gelang ihm nicht. Zuerst verzog er nur leicht seine Lippen, bis er in das Gelächter einstimmte.

      »Ich lese hier einen Namen, den ich nicht zuordnen kann.«

      »Welchen Namen?«

      »Robert Ollig«, antwortete Schnur. »Wer ist das?«

      »Das ist der neue Teamchef der Spurensicherung«, erklärte Andrea. »Er hat die Nachfolge von Theo Barthels angetreten.«

      Schnur rieb sich über sein Kinn und meinte: »Schön, dass ich das auch mal erfahre.«

      »Theo wird erst zum Monatsende offiziell verabschiedet.«

      Schnur nickte und begann, über die Ergebnisse zu sprechen: »Der Tote ist eindeutig als Peter Dempler identifiziert worden.« Er schaute in die Runde und fügte an: »Jetzt stehe ich vor dem Problem, wer dafür zuständig ist, die Witwe zu informieren.«

      »Todesnachrichten werden in solchen Fällen von Vertretern des Betriebsrats überbracht«, meldete sich Anton Grewe zu Wort.

      »Gut zu wissen«, bekannte Schnur. »Dann müssen wir uns nicht darum kümmern.«

      »Was hättest du ihr auch sagen können?«, fragte Andrea. »Bisher gilt immer noch die Unfalltheorie. Wenn wir von der Kriminalpolizei dort ohne Vorwarnung auftauchen, wühlt das nur unnötig auf.«

      »Deshalb müssen wir so schnell wie möglich klären, wie wir diesen Fall weiter behandeln«, stimmte Schnur zu.

      »Was sagt die Staatsanwältin?«

      »Sie wartet ab, was wir herausfinden. Erst dann will sie sich festlegen.« Schnur wirkte zerknirscht. »Deshalb werden wir jetzt den Bericht der Spurensicherung weiter besprechen und die Ergebnisse analysieren. Ich hoffe, dass wir anhand der Spurenlage weiterkommen.« Allgemeine Zustimmung. Schnur las weiter vor: »Die Suche nach Fingerabdrücken am Stahlseil in luftiger Höhe hat nichts ergeben. Der Zugang zum Förderkorb auf der fünften Sohle wurde ebenfalls genau untersucht. Dort sind außer denen von Dempler noch jede Menge andere Abdrücke.«

      »Das klingt auch nicht gerade nach Mord«, bemerkte Erik.

      »Innerhalb des Schachtes ist eine Leiter. Nach Angaben seiner Kollegen hatte Dempler diese Leiter schon mal benutzt, um nach oben zu gelangen. Dort waren aber keine Fingerabdrücke zu finden.«

      »Endlich ein Hinweis auf Mord.« Aufregung machte sich breit.

      »Aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Tür zum Schacht geöffnet wurde. Normalerweise bekommt der Maschinist ein Signal, wenn sich die Tür öffnet. Das ist zur Sicherheit, damit er den Korb nicht hochfährt, während sich jemand im Schacht aufhält oder gerade beim Betreten des Korbes ist.«

      »Heißt das, dass das Opfer über einen anderen Weg in den Schacht gekommen sein muss?«, fragte Andrea.

      »Ich weiß nicht, ob es einen anderen Zugang zum Schacht gibt. Der Steiger, der die Staatsanwältin und mich durch die Stollen geführt hat, hat uns jedenfalls keinen gezeigt.«

      »Vielleicht hat er dieses Detail vor dir verheimlicht.«

      Kurze Zeit trat Stille ein, die Schnur mit einem Räuspern unterbrach: »Dieser Fall wird auf jeden Fall schwierig für uns werden. Es fängt schon damit an, dass wir nicht einschätzen können, wie viele Informationen uns die Bergleute zukommen lassen und wie viel sie uns verschweigen.«

      *

      Der Tote aus der Tiefe prangte die Überschrift in großen Lettern auf der Titelseite der Saarbrücker Zeitung.

      Norbert Kullmann saß am Küchentisch, wollte sich gerade eine zweite Tasse Kaffee einschenken, als er die Kanne sinken ließ.

      »Was ist?«, fragte Martha, seine Frau. »Schmeckt der Kaffee nicht mehr?«

      Kullmann schüttelte den Kopf.

      »Seit Anke in der Mutter-Kind-Kur ist, bekomme ich nichts mehr von meiner ehemaligen Dienststelle mitgeteilt.«

      »Falls du es vergessen hast, erinnere ich dich daran, dass du schon seit sechs Jahren in Pension bist«, sagte Martha.

      Über den Tonfall seiner Frau erstaunt schaute Kullmann auf und sah in ein Gesicht, das Empörung ausdrückte. Seine Ehe dauerte inzwischen genauso lange wie seine gerade angesprochene Pensionszeit. Obwohl Kullmann Martha schon einige Jahre gekannt hatte, so hatte er ihr doch erst den Heiratsantrag gestellt, als er aus dem Berufsleben als Kriminalkommissar ausgestiegen war. Er hatte sich mit ihr ein ruhiges Eheleben versprochen, während er sich von Marthas Kochkünsten verwöhnen ließ. Doch immer wieder hatten seine ehemaligen Mitarbeiter aus der Abteilung für Tötungs- und Sexualdelikte bei der Kriminalpolizeidirektion Saarbrücken seine Hilfe in Anspruch genommen. Allen voran Anke Deister – sein ehemaliger Schützling. Sie hatte viel von ihm gelernt. Und immer, wenn ein Mordfall knifflig geworden war, hatte sie auf Kullmanns reichen Erfahrungsschatz zurückgegriffen, sodass sich der Hauptkommissar a.D. eigentlich gar nicht wie ein Rentner gefühlt hatte. Martha war dabei stets nachsichtig gewesen, obwohl er sich sogar in große Gefahr begeben hatte. Deshalb überraschte es ihn, dass sie nun so widerspenstig reagierte.

      Es wunderte ihn, dass ihn niemand zu diesem Fall konsultierte. Hatte er sich also nur eingebildet, dass sie ihn brauchten? War es letztendlich nur eine »gute Tat« von Anke, ihm das Gefühl zu geben, gebraucht zu werden? Er konnte es nicht glauben.

      Und nun diese Schlagzeilen. Ein Fall, der nicht nur sein Interesse weckte, sondern sogar regelrecht in seinen Fingerspitzen juckte.

      Ein Toter aus einem Bergwerk – der Grube Warndt.

      Zu genau erinnerte er sich an diesen Ort. Dort hatte sich vor einigen Jahren ein schweres Unglück ereignet,


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