Kullmann unter Tage. Elke Schwab

Kullmann unter Tage - Elke Schwab


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bestellte sich an der Theke einen Kaffee und trat auf den Mann zu.

      »Sind Sie Arthur Hollinger?«

      »Der bin ich.« Er schaute auf. Seine dunklen, mit Grau durchzogenen Haare standen wirr vom Kopf ab. Sein Gesicht war gerötet, seine braunen Augen schauten sie fragend an.

      »Sie sind bestimmt von der Polizei«, meinte er und bot ihr an, sich neben ihn zu setzen. Ein Ruf von der Theke verkündete Andrea, dass der Kaffee fertig war. Schnell schnappte sie sich die heiße Tasse und ließ sich neben dem Bergmann nieder.

      »Wissen Sie schon, wer der Tote ist?«, fragte Hollinger.

      Andrea antwortete: »Wir wissen leider noch nicht sehr viel. Deshalb müssen wir einige Fragen stellen.«

      »Das war ein Unfall, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen«, sagte Hollinger mit vollem Mund.

      »Schön. Trotzdem habe ich einige Fragen an Sie.«

      »Schießen Sie los!«

      »Wie jeder aus Ihrer Gruppe mitbekommen hat, hing der Tote an dem Seil, das den Aufzug hochzog«, begann die Kriminalistin.

      »Das heißt nicht Aufzug, das heißt Förderkorb«, korrigierte der Bergmann.

      »Und für die Führung heute Morgen haben Sie den Förderkorb außer der Reihe hochfahren lassen. Eine Leerfahrt sozusagen«, fuhr Andrea fort.

      Hollinger hörte auf zu kauen.

      »Worauf wollen Sie hinaus?« Diese Frage klang nun weniger freundlich, dachte Andrea. Sie war wohl dabei, einen wunden Punkt zu treffen.

      »Darauf, dass der Unfall vielleicht nur deshalb passieren konnte, weil eine unplanmäßige Fahrt mit dem Aufzug gemacht worden ist.«

      »Diese Fahrt war nicht unplanmäßig!« Hollingers Tonfall wurde kälter. »Es steht hier auf jedem Dienstplan, dass immer am ersten Dienstag im Monat eine Führung der Besucher durch das Erlebnisbergwerk stattfindet, die ich mit einer Leerfahrt des Förderkorbs beginne. Immer zur selben Uhrzeit.«

      Andrea versuchte, den Mann zu beruhigen, doch er war noch nicht fertig: »Hinzu kommt das Signal, das wir bei jeder Fahrt mit dem Korb geben. Bevor der Korb in Betrieb genommen wird, werden laute Signale gegeben. Die Signale hört man auf allen Sohlen. Alle wissen dann, dass die Leerfahrt beginnt.«

      »Ich habe verstanden«, kommentierte Andrea, um den Redefluss des aufgebrachten Mannes zu stoppen. »Das deutet ja dann eher auf Mord hin als auf einen Unfall.«

      Hollinger verschluckte sich fast, als er seine Wurst mit einem Schluck Bier herunterspülen wollte. Hastig meinte er: »Das war ein Unfall, wie Schorsch gesagt hat.«

      »Mit Schorsch meinen Sie Georg Remmark?«

      »Genau. Schorsch kennt dort unten jeden Winkel und jeden Kame­raden. Er kann die Lage besser einschätzen als jeder andere – glauben Sie mir!«

      »Das würde ich ja gerne. Aber Remmark ist Bergmann und kein Kriminalbeamter«, erklärte Andrea mit Nachdruck in der Stimme. »Er muss nicht herausfinden, was wirklich passiert ist. Aber wir!«

      »Schorsch weiß mehr, als Sie denken. Wenn der sagt, dass es ein Unfall ist, dann ist das so.«

      »Und wenn nicht?«, entgegnete Andrea. »Sollte es sich doch um Mord handeln, wäre es für alle anderen Kameraden gefährlich dort unten. Ein Mörder wäre unter ihnen, der jederzeit wieder zuschlagen könnte.«

      »Ich glaube, Sie gucken zu viele Krimis im Fernsehen.« Hollinger schmunzelte. »Das hört sich ja nach Edgar Wallace an. Aber glauben Sie mir: Hier liegen die Dinge anders. Die Kameraden hier halten zusammen und bringen sich nicht gegenseitig um.«

      »Was macht Sie so sicher?«

      Hollinger lehnte sich zurück, überlegte kurz und antwortete dann: »Wissen Sie: Das Wichtigste in unserem Beruf ist die Kameradschaft, die uns verbindet. Es existiert so etwas wie ein Ehrenkodex für Bergleute. Die Gefahr unseres Berufs schweißt uns zusammen. Jeder ist auf den anderen angewiesen. Deshalb ist der Zusammenhalt eine überlebenswichtige Sache. Jeder muss sich auf den anderen hundertprozentig verlassen können. Hinzu kommt die Tiefe, in der wir uns befinden. Tausend Meter unter der Erde – da ist man von oben abgeschnitten. Dort unten leben wir in unserer eigenen Welt. Bei Unfällen oder sonstigen kritischen Situationen können wir nicht auf Hilfe von außen warten. Also müssen wir uns selbst helfen. Aus dem Grund tun wir auch alles, um Gefahren zu vermeiden. Das tun wir mit lauten Signalen oder sonstigen Kennzeichen. Für alles, was uns gefährlich werden könnte, haben wir spezielle Zeichen, die uns genau angeben, worauf wir achtgeben müssen. Damit vermeiden wir Unfälle – soweit es eben möglich ist. Wir bewegen uns dort unten mit der absoluten Gewissheit, dass jeder auf den anderen aufpasst. Dort läuft niemand herum, der seinesgleichen tötet.«

      Andrea lauschte seinen Worten und spürte, dass dieser Mann aus voller Überzeugung sprach. Und doch war dort unten in der Tiefe etwas passiert. Die Art, wie das Opfer zu Tode gekommen war, ließ zu viele Fragen offen.

      »Ist das der einzige Grund, warum Sie fest an einen Unfall glauben?«

      Hollinger starrte Andrea verständnislos an, woraufhin sie ihre Frage deutlicher stellte: »Kann es sein, dass Ihnen besonders viel daran liegt, uns davon zu überzeugen, dass polizeiliche Ermittlungen nicht nötig sind?«

      »Polizeiliche Untersuchungen sind sowieso nicht nötig«, gab er überzeugt zurück. »Wenn hier eine Untersuchung nötig wäre, wäre das Bergamt zuständig und nicht Sie.«

      »Da muss ich Sie enttäuschen. Das Bergamt hat die Staatsanwaltschaft gebeten, diesen Fall genau zu prüfen.«

      Arthur Hollinger stutzte. Er starrte Andrea mit großen Augen an.

      »Also noch mal: Warum halten Sie so verbissen an der Unfalltheorie fest?«

      Eine Weile wand sich der Bergmann, bis er endlich zugab: »Was glauben Sie, was passiert, wenn das Gerücht aufkommt, dass in Velsen unter Tage Bergleute getötet werden?«

      »Bergleute? Ich weiß nur von einem!«

      Arthur rollte die Augen und meinte: »Sie sprachen doch selbst davon, dass wir alle in Gefahr sind.«

      Andrea nickte und hakte nach: »Was würde passieren?«

      »Die Zeche wird sofort geschlossen«, zischte er. »Und zwar vor der vereinbarten Zeit.«

      Andrea konnte den Mann nur fragend anschauen.

      »Dann bin ich meinen Job los. Oder ich muss an die Ruhr, weil dort noch einige Gruben in Betrieb sind. Ganz zu schweigen von der Möglichkeit, umzuschulen. Das traue ich mir in meinem Alter nicht mehr zu.«

      *

      Alle Blicke waren auf Jürgen Schnur gerichtet. Sorgfältig hatte er sein Gesicht eingeseift und geschrubbt. Trotzdem schimmerte es immer noch schwarz.

      »So wurde aus Barbarossa der Sarotti-Mohr«, stellte Erik nach einer Weile des Schweigens fest.

      Andrea lachte, doch Schnur blickte grimmig zu Erik und fragte: »Habt ihr auch was gemacht, während ich in den Hades hinabgestiegen bin?«

      »Haben wir. Recherche über Tage«, kam es von Andrea.

      »Und was habt ihr herausgefunden?«

      »Mein Eindruck ist, dass alle Bergmänner an der Unfall-Theorie festhalten. So, als hätten sie sich abgesprochen und wollten gar nicht wissen, was wirklich passiert ist – Hauptsache, es wird als Unfall deklariert und wir verschwinden schnell wieder.«

      »Warum?«, fragte Schnur.

      »Sie haben Angst, die Grube würde geschlossen, wenn sich herausstellt, dass es Mord war und jemand der Bergleute im Verdacht steht, dort unten seine Kollegen umzubringen. Hinzu kommt die Angst vor Umschulung oder Versetzung ins Ruhrgebiet. Die Männer sind alle nicht mehr die Jüngsten.«

      »Das bringt uns nicht weiter«, stöhnte Schnur.

      »Nun


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