Kullmann unter Tage. Elke Schwab

Kullmann unter Tage - Elke Schwab


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sein Widerstand brach. Wie schaffte diese Frau das nur? War es die lange Zeit, die sie beide sich schon kannten? Er schüttelte den Kopf und beschloss, bei Gelegenheit ernsthaft darüber nachzudenken. In diesem Augenblick stand für ihn jedoch im Vordergrund, dass Grewe ihn unwissend zur Grube geschickt hatte. Das konnte er nicht einfach so hinnehmen.

      »Über das Thema unterhalten wir uns später«, sagte er.

      Egal, wie sehr er sich dagegen sträubte – aber Andrea hatte recht. Er musste jetzt den Vorteil daraus ziehen.

      »Herr Bonhoff! Sie haben mir eben berichtet, dass Sie sich unter Tage in einer Position befinden, in der Sie interessante Beobachtungen machen konnten.«

      Der Angesprochene nickte.

      »Erzählen Sie uns bitte davon. Deshalb sind Sie doch hier, oder?«

      Bonhoff zog die Schultern ein, als müsste er sich vor einem Angriff schützen, nickte nervös und begann zu berichten: »Schorsch sprach davon, dass sich Pitt gestern Morgen äußerst seltsam benommen hätte.«

      »Mit Pitt meinen Sie Peter Dempler?«, hakte Schnur nach.

      »Genau«, antwortete Bonhoff.

      »Was meinte er mit seltsam benommen?«

      »Verwirrt. So, als hätte er Medikamente genommen. Er hätte wirres Zeug geredet«, erzählte Bonhoff weiter. »Aber ich bin an diesem Morgen mit ihm zusammen runtergefahren. Da wirkte er wie immer – völlig normal.«

      Schnur rieb sich über sein Kinn »Das allein ist aber kein Grund, an der Aussage von Georg Remmark zu zweifeln. Es könnte ihm später schlecht geworden sein.«

      »Später hatte er sich bei mir abgemeldet und ist über den Bandberg II auf die fünfte Sohle gefahren«, widersprach Bonhoff. »Auch da ist mir nichts aufgefallen.«

      »Wissen Sie, warum er dorthin gefahren ist?«

      »Nein. Es war nur seltsam, weil er nicht wollte, dass ich das beim Steiger melde.« Bonhoff rieb sich nervös über seine Nase und meinte: »Und heute habe ich beobachtet, wie einige der Kameraden während der Schicht ebenfalls über den Bandberg II nach oben gefahren sind. Ich bin ihnen gefolgt.«

      Stille trat ein.

      »Haben Sie etwas herausfinden können?«

      »Ich konnte kein Wort verstehen, weil es zu laut war.«

      »Haben die Kameraden Sie gesehen?«

      »Leider ja. Ich habe mich natürlich herausgeredet. Aber ob sie mir geglaubt haben …«

      »Warum sind Sie den Kollegen gefolgt?«

      Zögerlich antwortete Bonhoff: »Weil ich nicht daran glaube, dass Pitt verunglückt ist. Aber leider kann ich das nicht beweisen. Hinzu kommt, dass ich unter Tage allein mit dieser Meinung bin.«

      »Für uns ist es wichtig herauszufinden, ob wir es mit Mord zu tun haben«, stellte Schnur klar. »Deshalb werden wir wieder nach Velsen fahren und dort ermitteln.«

      Bonhoff lachte und sagte: »Die Kameraden werden Ihnen keine Hilfe sein. Für sie ist es ein Unfall.«

      »Warum stellen Sie sich gegen Ihre Kameraden?«

      »Weil ich Angst habe, ich könnte der Nächste sein, der tödlich verunglückt.«

      *

      »Warum verschwieg Hermes gelegentlich die Wahrheit, obwohl er als Götterbote dazu berufen war, die Botschaften der Götter an die Sterblichen zu überbringen?«, fragte Schnur.

      Anton Grewe wand sich auf dem Stuhl, der seinem Vorgesetzten gegenüberstand, und meinte zögerlich: »Weil er Schaden vermeiden wollte.«

      »Soll ich raten, welchen Schaden du vermeiden wolltest, als du mir verschwiegen hast, dass du aus dem Bergbau kommst?«

      Grewes Gesicht wurde rot. Nur mit Mühe gelang es ihm, Schnur anzusehen, während er zugab: »Ich wollte nicht derjenige sein, der zum Ermitteln nach unter Tage geschickt wird.«

      »Und warum nicht?«

      »Ich habe den Beruf damals aufgegeben, weil ich mich dort deplatziert gefühlt habe.« Ein Schweißfilm bildete sich auf Grewes Stirn. Er wartete einen Augenblick, in der Hoffnung, diese Antwort würde Schnur genügen. Doch so war es nicht. Sein Vorgesetzter wollte mehr wissen. Also gab er zu: »Ich bin für diese harte Arbeit nicht geeignet.«

      »Du hast aber doch diesen Beruf gelernt, sonst könntest du ihn nicht ausüben. Warum der Aufwand, wenn es sowieso kein Job für dich war?«

      »Ich komme aus einer Bergmannsfamilie.«

      »Ich staune«, gab Schnur zu. »Das wusste ich bisher auch nicht.«

      »Ich habe nicht darüber gesprochen, weil … weil …«

      »… es dir peinlich ist?«

      »Es ist mir peinlich, dass ich diese Tradition gebrochen habe«, gestand Grewe. »Der Bergmannsberuf war in unserer Familie etwas Besonderes. Alle waren stolz darauf.«

      »Aber?«, hakte Schnur nach.

      »Ich fühle nicht wie ein Bergmann – und ich fühle mich nicht zum Bergmann geboren. Damals nicht und heute auch nicht. Aber davon wollte meine Familie nichts wissen. Da heißt es, dass der Beruf weitervererbt wird. Großvater Bergmann, Vater Bergmann, Sohn ebenfalls Bergmann. Niemand wagte es damals, diese Tradition zu brechen. Also habe ich die Klappe gehalten und bin runtergefahren. Mit dem Ergebnis, dass ich mich dort unten ständig wie ein Außenseiter gefühlt habe. Bis ich es geschafft habe, mich von meiner Familie abzuseilen. Ich bin vom Warndtdorf zuerst nach Saarbrücken gezogen. Und später nach Grosbliederstroff in Lothringen.«

      »Leben deine Eltern noch in Dorf im Warndt?«

      »Ja. Dort in der Grubensiedlung. Dort gehen sie auch nicht mehr weg.«

      »Dann kannst du mir bestimmt sagen, wie du unsere Angelegenheit im Fall des toten Bergmanns einschätzt.« Schnur schaute erwartungsvoll auf den Beamten mit den schwarzen Locken. »Die Fakten und die Fotos kennst du. Haben wir es hier mit einem Unfall oder mit Mord zu tun?«

      »Ich soll jetzt also wie ein Bergmann denken?«

      Schnur nickte.

      »Dann sage ich, dass es kein Mord war.«

      Verdutzt schaute Schnur den Mitarbeiter an, worauf Grewe anfügte: »Kein Bergmann bringt einen anderen um. Diese Männer sind echte Kameraden und halten zusammen.«

      »Das ist mir als Argument zu schwach«, gestand Schnur. »Ich hätte ein bisschen mehr erwartet.«

      »Dafür brauche ich mehr Fakten, um die Sachlage besser beurteilen zu können«, gab Grewe zu.

      Schnur grübelte eine Weile, bis er sagte: »Diese Fakten werden wir noch zusammentragen. Dann schauen wir, wie wir in diesem Fall weiter vorgehen werden.«

      »Soll ich zur Witwe des Toten fahren?«, bot sich Grewe an.

      »Nein. Das übernehme ich.«

      »Warum?«

      »Weil du die Akte über den Fall lesen sollst, um festzustellen, wo wir etwas übersehen haben. Vermutlich gibt es einige Ungereimtheiten, die nur du als Fachmann für den Bergbau feststellen kannst.«

      Kapitel 4

      Nahe an der Grenze zu Frankreich im Waldgebiet des Warndt liegt der Ort Dorf im Warndt. Kurz vor dem ersten Weltkrieg als Kleinsiedlung gegründet war der Ort durch neue Bauabschnitte immer weiter vergrößert worden. Erst in den sechziger Jahren war die Werkssiedlung der Saarbergwerke entstanden. Ein Wohngebiet, das sich durch seine praktische Bauweise hervortat, weil auf engem Raum sehr viele Wohnungen untergebracht waren. Einige Bäume zierten die Siedlung, deren Laub die Rasenflächen zwischen den einzelnen Häuserblocks bedeckten. An der ersten Kreuzung, die Jürgen Schnur und Andrea Westrich passierten, prangten eine weiß


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