Kullmann unter Tage. Elke Schwab

Kullmann unter Tage - Elke Schwab


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ist nichts gestohlen worden.«

      »Das ist aber kein Grund, einen Einbruch nicht anzuzeigen«, sagte Schnur und fügte an: »Wir müssen die Kollegen der Spurensicherung herbestellen. Vielleicht können sie etwas Verwertbares finden.«

      »Von mir aus«, stimmte die Witwe zu.

      *

      Anton Grewe fühlte sich so schlecht wie lange nicht mehr. Wut und Angst stauten sich gleichzeitig in ihm an. Seit er in der Abteilung für Tötungsdelikte arbeitete, hatte er dieses miese Gefühl nicht mehr erlebt. Zuerst war Norbert Kullmann sein Dienststellenleiter gewesen – ein Vorgesetzter, wie man ihn sich nicht besser wünschen könnte. Dann kam dessen Nachfolger, Dieter Forseti – ein herber Rückschlag. Aber nichtsdestotrotz hatten alle Kollegen das Beste daraus gemacht. Sie hatten zusammengehalten, bis sich Forseti allein in seiner neuen Position wiederfand. Bis er auf der Karriereleiter weiter nach oben gefallen war und Jürgen Schnur seinen Posten übernahm. Schnur war einfach nur klasse. Viel zu menschlich, um wirklich ein Chef sein zu können. Und viel zu korrekt. Und doch eine Führungspersönlichkeit.

      Grewe liebte seinen Job, seit er in dieser Abteilung arbeitete, mit jedem Tag mehr. Er liebte die Kollegen, die für ihn wie eine Familie geworden waren.

      Und nun fühlte er sich wie am Pranger.

      Ausgerechnet Bonhoff war hierhergekommen, um seine Bedenken loszuwerden. Und Grewe sollte nicht an Zufälle glauben. Bonhoff war der Kamerad, mit dem Grewe die meiste Zeit unter Tage verbracht hatte.

      Bonhoff, der der Auslöser dafür war, dass Grewe letztendlich den Beruf als Bergmann aufgegeben hatte.

      Nie hatte er sicher wissen können, ob Bonhoff es ehrlich mit ihm meinte oder ob er ein Spiel mit ihm trieb. Bonhoff hatte mit seiner androgynen Art kokettiert, sodass Grewe fast explodiert wäre. Und diese Unsicherheit wurde begleitet von der Angst, von den Kameraden durchschaut zu werden. Dabei war es sein größter Wunsch gewesen, so akzeptiert zu werden, wie er war.

      Sein Rufname unter den Kameraden, Tony, sprach dafür, dass sie einen anderen in ihm sahen, als er war. Es war ihm damals nicht gelungen, offen zu seinen Neigungen zu stehen. Am Ende hatte er sich für Flucht entschieden.

      Und nun stand ausgerechnet Bonhoff vor ihm und seiner gesamten Abteilung und offenbarte eine Wahrheit, die Grewe bisher vor Schnur verschwiegen hatte.

      Einerseits hätte Schnur seinen Lebenslauf in seiner Personalakte nachlesen können, meinte Grewe, als suche er nach einer Entschuldigung für sein Fehlverhalten. Aber andererseits war ihm klar, dass er einen Vertrauensbruch begangen hatte. Schnurs Gesicht hatte einen Ausdruck angenommen, den Grewe noch nie an ihm gesehen hatte.

      Er schalt sich selbst einen Vollidioten. Die Wut richtete er gegen sich selbst. Doch im gleichen Atemzug spürte er Angst. Angst vor dem, was nun auf ihn zukäme. Wenn Schnur ihn aus den Ermittlungen ausschloss, würde Grewe zugrunde gehen. Wenn Schnur von ihm verlangte, mit ihm in den Stollen zu fahren, wäre das für Grewe eine zweite Chance. Auch wenn es eine schwere Aufgabe für ihn wäre. Denn der Gedanke, wieder in diese raue Welt unter Tage zu fahren und sich den ehemaligen Kameraden zu stellen, ließ ihn frustriert in seinem Bürostuhl zusammensinken.

      Doch am meisten fürchtete sich Grewe davor, wieder mit Michael Bonhoff in Kontakt zu treten. Er ahnte, dass damit alte Wunden aufgerissen wurden. Schließlich hatte sich Grewe nicht gerade mit Ruhm bekleckert, als er hatte einsehen müssen, dass Bonhoff für ihn unerreicht bleiben würde.

      Er fuhr sich mit seinen Fingern durch seine dichten schwarzen Haare, als könnte er damit ungeschehen machen, was damals passiert war. Dabei fiel sein Blick auf die Akte.

      Rasch besann er sich. Er musste sich detailliert über den Fall informieren, damit er seinem Vorgesetzten bei den Ermittlungen nützlich sein konnte. Das war die Chance, seinen Fehler wiedergutzumachen. Und gleich stieß er auf eine Frage, die für die Entscheidung, ob Unfall oder Mord vorlag, von großer Bedeutung sein könnte. Er konnte sie beantworten – er musste sie beantworten, damit Schnur nicht von falschen Voraussetzungen ausging. Und vielleicht konnte er sich damit als als guter Ermittler beweisen. Hoffnung keimte in ihm auf.

      *

      Während Andrea Westrich das Steuer des Wagens übernahm, bediente Schnur sein Handy, um mit der Dienststelle Kontakt aufzunehmen.

      »Wen rufst du an?«, fragte Andrea.

      »Ich will, dass Erik nach weiteren Einbrüchen in der Gegend im Warndt sucht.«

      »Warum? Ist das für uns wichtig?«

      »Ja«, meinte Schnur. »Sollte das der einzige Einbruch gewesen sein, könnte ein Zusammenhang mit Demplers Tod bestehen.«

      Andrea reichte ihm ihren Notizzettel und meinte: »Das ist der Hausarzt von Peter Dempler. Die Kollegen können ihn fragen, ob er wirklich krank war oder nicht.«

      »Danke! Was wäre ich nur ohne dich?«, fragte Schnur und gab die Anweisungen an seine Mitarbeiter im Büro weiter.

      Kurze Zeit später steuerte die Polizeibeamtin das Grubengelände Warndt an. Sie parkten den Wagen auf dem großen Platz vor der Kantine, stiegen aus und schauten sich um. Das Foto aus Demplers Wohnung kam ihnen wieder in den Sinn. Die detailgetreue Abbildung sahen sie nun in echt vor ihren Augen. Das große Gelände wurde durch den weithin sichtbaren und markanten Förderturm dominiert, der mit Glas, Stahl und Beton eingefußt war. Ebenso die ihn umgebenden Gebäude, in denen sich Waschkaue, Lampenkaue, Zechensaal und Versammlungsraum befanden. Direkt am Eingang lag das Pförtnerhaus.

      Es dauerte nicht lange, schon sahen sie aus einer der vielen Hallen, die sich unter dem hohen Förderturm duckten, einige Männer auf den Platz treten. Sie erkannten Georg Remmark, der allen voran auf sie zukam.

      »Was wollen Sie schon wieder hier?«, fragte er unfreundlich. »Ich dachte, wir wären uns einig, dass unser Kamerad verunglückt ist.«

      »Sie sind sich vielleicht einig. Wir nicht!«, gab Schnur zurück. »Und da wir dafür bezahlt werden, Klarheit zu schaffen, werden wir wohl noch öfter hier aufkreuzen.«

      »Das wird Ihnen nicht viel nützen.«

      »Heißt das, dass Sie vorhaben unsere Arbeit zu behindern?«

      Remmarks Gesicht wurde schlagartig blass. Etwas leiser und unsicherer als zuvor stammelte er: »So war das nicht gemeint.«

      »Wie denn?«

      »Ich meinte, dass Sie nichts finden werden, was auf einen Mord schließen lässt. Den müsste einer von uns begangen haben. Aber wir tun so etwas nicht.«

      »Das Hohelied der Kameradschaft unter den Bergleuten«, mischte sich Andrea in das Gespräch ein. »Euer Berufsethos, nicht wahr?«

      »Genauso ist es«, bestätigte Remmark mit einem Blitzen in den Augen. »Wir helfen uns gegenseitig und bringen uns nicht um. Sowas ist Ihnen wohl fremd, was?

      »Nein, ich frage mich nur, welchen Grund Sie hatten, uns anzulügen, als Sie behauptet haben, Peter Dempler sei krank gewesen und trotzdem mit Ihnen unter Tage gefahren.«

      »Wer sagt, ich hätte gelogen?«, fragte Remmark fassungslos.

      »Das sagt niemand«, bekannte Schnur. »Nur hat Demplers Frau Ihre Behauptung nicht bestätigt. Laut ihrer Aussage war ihr Mann kerngesund.«

      Gemurmel entstand unter den Bergleuten.

      »Wissen Sie«, begann Remmark, »die Frauen sind nicht immer so genau über ihre Männer informiert. Pitt wollte nicht, dass jeder mitbekommt, was mit ihm los war.«

      »Vor den Kameraden könnte ich so ein Verhalten verstehen. Aber nicht vor der eigenen Frau«, widersprach Schnur.

      »So sind wir Bergleute halt.«

      Die anderen Männer brummten zustimmend.

      »Hat er Ihnen gegenüber den Einbruch in sein Haus erwähnt?«, fragte Schnur weiter.

      Remmark rang mit sich, bis er zugab: »Ja. Weil nichts gestohlen wurde, wollte er den Einbruch nicht


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