Mit schwarzen Flügeln. Daimon Legion

Mit schwarzen Flügeln - Daimon Legion


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sprach. Auch der Tod schrieb seine täglichen Geschichten. Das, was die Menschen so abscheulich und zugleich bemerkenswert daran fanden, war die Art, wie es passierte.

      Als es vor einigen Wochen begann, achtete noch keiner groß auf die Ereignisse. Ein Toter. Ein verstorbener Großma­gnat aus dem Westen. Im Vergleich zu den vielen Menschen, die weltweit jede Sekunde aus den unterschiedlichsten Grün­den starben, ein nicht ins Gewicht fallendes Körnchen Staub. Es gab einen Nachruf, eine Trauerfeier, und ab ging es unter die Erde. Die Angehörigen beklagten den Vater, Onkel, Groß­vater, Freund und Arbeitgeber, gleichwohl konnte man nichts an der Situation ändern. Schließlich gehörte der Tod zum Leben. Er war unausweichlich, und auch wenn das Sterben etwas überraschend kam, war es ja nur natürlich. Man begrub eine Leiche und fertig. Die Welt drehte sich weiter.

      Aber irgendwie häuften sich diese Vorfälle in kurzer Zeit. Immer mehr Tote wurden entdeckt, die in ihrer Art und Weise des Dahinscheidens einander verblüffend ähnelten und unwei­gerlich kam der Verdacht auf, dass dem Lauf der Natur unter die Arme gegriffen wurde.

      Gesunde, aktive Menschen – oft von Wohlstand und ho­hem Ansehen – waren von heute auf morgen einfach kalt und mausetot. Da half alles Geld nichts, sie starben schlicht wie die Fliegen dahin. Die Hinterbliebenen suchten nach logischen Erklärungen, diskutierte mit zig Experten und sämtlichen aner­kannten Ärzten, doch bald hatte das gemeine Volk eine eigene Lösung für diese rätselhaften Fälle: Serienmord. Wie in den al­ten Zeiten. Die Mittel waren erst mal zweitrangig.

      Offiziell hieß es, es handle sich um tragische Herzanfälle oder um ein neuartiges Virus, nur war es für den Pöbel in­teressanter, einem Sündenbock die Schuld zu geben. Zwar gab es nicht die geringsten Beweise für das Werk eines Menschen, denn kein fremdes Haar wurde an den Tatorten gefunden, je­doch reizte dies nur die Fantasien der Verschwörungstheoreti­ker.

      Die Nachrichten witterten in den Gerüchten eine Goldader und hetzten gegen ein Phantom, das Jagd auf Menschen mach­te. Unsichtbar und lautlos, wie einem Schatten gleich.

      Zur ironischen Belustigung der Massen trugen dazu die Versuche bei, diesem Geist auf die Spur zu kommen. Die Poli­zei tappte im Dunkeln und durchleuchtete erfolglos ein paar Untergrundgangs, Drogenbosse und sonstige Verdächtige. Sie ging zahllosen irrsinnigen Hinweisen der Bevölkerung nach und geriet in Konflikt mit privaten Gruppen, die am Rande der Selbstjustiz handelten, aber auch keine Ergebnisse vorbringen konnten. Unterdessen schoben sich Politiker untereinander den Schwarzen Peter zu; ganze Länder lagen im Streit und spra­chen von heimlichen Testungen chemischer oder biologischer Waffen, die gezielte Opfer forderten. Überall kriselte es in den Führungsspitzen, die weniger an einen einzelnen Täter glaub­ten.

      Dagegen versuchten selbst alle möglichen Religionsschich­ten, diesen „Teufel“ zu bannen und die Menschen durch Gebe­te und Talismane zu beruhigen und zu beschützen. Als wenn derartiger Humbug hätte nützen können, um ein von den Me­dien geschaffenes Ungeheuer aufzuhalten.

      Der Geist des Mörders, der Seuche oder was auch immer, spukte weiter umher, von Stadt zu Stadt, Land zu Land – und jetzt war er in dieser Gegend.

      Prompt gerieten der rausgeputzte Adel wie auch das niede­re Volk in wilde, kopflose Panik.

      Das Geschäft der kleinen Druckerei hier in den Slums lief gut – jedenfalls besser als sonst – durch dieses urbane Grusel­märchen, denn jeder schien wissen zu wollen, wen es diesmal erwischt hatte. Wie die Aasgeier stürzten die Menschen auf das rohe Fleisch zu, solange es nicht ihr eigenes war. So gese­hen war der wandelnde, gesichtslose Tod ein hervorragender Geldgeber.

      Soll der ruhig weitermachen, dachte sich der Junge und empfand dabei keinerlei Reue für seine Worte. Angst hatte er nicht. Seinen Vater oder ihn würde dieser Unheilbringer nie heimsuchen, davon war er überzeugt. Die Opfer stammten bis­her alle aus den besseren Kreisen – die kleinen Händler und Bettler, die es so schon schwer hatten im Leben, kümmerten ihn wohl wenig. Was hatten sie ihn auch zu fürchten – ihn, der alle gleichmachte? Einen Tod musste jeder sterben, selbst die Reichen.

      Gerade die zitterten jeden Morgen nach dem Aufstehen, und wenn sie wieder des Nachts in ihre federweichen Betten stiegen, winselten sie bei dem Gedanken, vielleicht nie wieder aufzuwachen und eine weitere starre Leiche zu sein. Ihren ge­liebten Besitz zu verlieren, der sie ja vom schlichten Gewürm der Gassen unterschied, war schlimmer als die Frage, was mit ihren im Tod geschehen würde.

      Endlich mal ein Fall von höherer Gerechtigkeit, sann der Junge trotzig über die konfuse Geschichte nach und verkaufte eine Zeitung an eine unbekannte Frau. Aus der Tasche zog er eine neue Ausgabe, mit der er von vorn anfing, auf sich auf­merksam zu machen, und schrie: „Extrablatt! Erfahren Sie al­les zu den neuesten Todesfällen! Renommierter Anwalt aus der Glasstadt wurde tot aufgefunden! Mord, Epidemie oder Aberglaube – was steckt dahinter?“

      Schon sah er sie rennen.

      Es geschah selten, dass sich die Bewohner der noblen Oberschicht aus den sauberen Glasvierteln in die schmutzigen Straßen der verfallenen Unterstadt wagten. Meist schickten sie spießige Laufburschen, um sich über die aktuellsten Nachrich­ten zu informieren, doch seit die Bedrohung quasi vor der Haustür stattfand, hielten es einige nicht mehr aus zu warten, und wollten direkt vor Ort alles erfahren.

      So auch diese fein gekleideten Herrschaften. Männer und Frauen mit zu viel Puder im Gesicht, um die Falten zu glätten, damit sie nicht wirkten wie ein schrumpeliger Apfel (aller­dings glichen sie damit eher einer Wand, bei der langsam der Putz einriss).

      Der Junge verkaufte an ein Ehepaar und bedankte sich höf­lich. Diese Leute erwiderten nie etwas. Blickten ihn nur mit verbissenen Mienen an, weil er für sie mindestens genauso stank wie aller Abfall an diesem Ort. Schnell wandten sie ihre bleichen Fratzen von ihm ab und staksten davon, mit spitzen Fingern Rock und Hosenbeine hochziehend, damit der Saum nicht vom Unrat beschmutzt wurde, der alle zwei Schritte auf den holprigen Gehwegen zu finden war.

      Kopfschüttelnd schaute er ihnen nach. Wer in dieser Welt das Geld besaß, konnte sich benehmen, als sei er ein König, der über allem erhaben schien. Prunk oder Leben, es kostete die Reichen bloß Papier, das sie dennoch nicht mit den Armen tei­len wollten. Geld tötete das Mitleid bereits vor Jahrzehnten.

       Eitle, geizige Halsabschneider. Die haben es nicht anders verdient, als dass ihnen mal jemand tüchtig Angst einjagt. Tun so, als ob sie besser sind als wir ...

      Vielleicht waren sie die Nächsten, die starben. Er würde ih­nen nicht nachtrauern. Für ihn hatten sie schließlich auch nichts übrig. Für den Wurm, der in dieser von Dreck überfüll­ten Gegend geboren und aufgewachsen war. Wie auch sein Va­ter und dessen Vater.

      Jemals diesem Elend entkommen zu können, war unmög­lich. Es fehlte dazu schlicht an Geld. Da konnte er irgendwie noch froh sein, überhaupt ein paar Münzen nach Hause in die Familiendruckerei zu bringen. Anderen ging es da wesentlich schlechter ohne einen solchen Verdienst. Die stahlen und ga­ben sich dem Alkohol hin, wenn nicht noch schlimmeren Din­gen.

      Wenn die Druckerpresse aufgrund von Verschleiß mal wie­der streikte, musste der Junge oft hören, wie erbärmlich diese Welt zugrunde ging. „Der Mittelstand ist längst Geschichte“, schimpfte der Vater dabei und fluchte auf all die Menschen, die nicht wussten, wohin mit ihrem Vermögen und es dann für unnützes Zeug ausgaben. „Eines Tages sind wir wieder Bauern und Leibeigene der Herren und Fürsten. Dann sind wir in ei­nem neuen finsteren Mittelalter angekommen! Und da nennen wir uns Menschen, bei so viel dummer Rückständigkeit?“

      Die Worte schallten in seinem Kopf wider, als er einem Adelsmann im Anzug die Zeitung reichte.

      Dieser entriss sie ihm barsch und warf die Kupferstücke zur Bezahlung in den Straßendreck. Auch beschwerte er sich, dass der Preis viel zu hoch angesetzt war für einen derart stin­kenden Fetzen vergilbten Altpapiers.

      Der Junge schwieg und las die Pennys auf. In der nächsten Pfütze würde er sie abwaschen. Geld stinkt also nicht? Dieses schon.

      „In die Gosse gehört so eine Ratte wie du“, hörte er den hässlichen Alten spotten, bevor der von dannen zog. Seinen ei­genen Zorn musste


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