Oliver Hell Todeshauch. Michael Wagner J.
eine Entscheidung nach der anderen treffen. Dann löst sich vielleicht alles in Wohlgefallen auf. Mach ein Date mit Lea und erklär ihr, was du für sie empfindest. Wenn du recht hast und sie auch auf dich steht, dann ist ja alles klar. Einer von euch wechselt das Team und ihr werdet glücklich!«
»Das Team wechseln, wenn das so einfach wäre«, sagte Klauk, dem bei diesem Gedanken alles andere als wohl war. Das Team wechseln? Andere Kollegen? Einen anderen Chef? Nicht mehr Hell? Nein. Das ging überhaupt nicht.
»Das ist ja vielleicht ein seltsames Gefühl«, sagte er.
»Was für ein Gefühl?«, hakte Irina nach.
»Nicht mehr in Hells Team zu arbeiten oder nicht mehr Bulle zu sein?«
»Ich habe das Gefühl, dass ich überhaupt nicht mehr weiß, was ich tun soll. Ich sollte mich wohl besser mit etwas anderem beschäftigen!«
»Für mich klingt es so, als wäre dir gerade etwas klar geworden, Basti.«
Klauk betrachtete sie mit einem fragenden Gesichtsausdruck.
»Ach ja, dann ist es dir sicher klarer als mir!«
»Nein, es wird dir klar, dass du dich weder von der Polizeiarbeit noch aus Hells Team verabschieden willst. Lea spielt nur eine untergeordnete Rolle. Sorry, ich sehe das so!«
»Aha«, antwortete er kurz angebunden.
Irina stand auf und atmete einmal tief durch. »Du, sei mir bitte nicht böse, aber das viele Sprechen tut mir weh. Wenn du jetzt gehst, dann lege ich mich noch ein wenig hin.«
Klauk stand sofort auf und kratzte sich verlegen am Kopf. »Natürlich, in Ordnung. Du hättest mich viel früher rauswerfen sollen, wenn du Schmerzen hast, Cousinchen!«
Sie lächelte milde. »Ich mache es ja jetzt!«
»Entschuldige bitte, ich sehe im Moment nur meine eigenen Probleme.«
Sie schüttelte sanft den Kopf.
»Nein, das tust du nicht.«
Klauk sah sie zweifelnd an.
»Na ja, wir wollen uns nicht darüber streiten, wer im Moment mehr neben der Spur steht. Ich denke, meine Chancen zu gewinnen stehen gut«, scherzte er und nahm Irina vorsichtig in den Arm.
Zwei Minuten später startete er den Mini-Countryman mit einem Lächeln auf den Lippen. Niemand kannte ihn so gut wie Irina. Das hatte sich in diesem Gespräch mal wieder bewahrheitet. Trotzdem war er nicht schlauer geworden. Aber immerhin konnte er jetzt die Eckpunkte seiner Probleme benennen. Irina hatte den Finger in die Wunde gelegt. Hell oder Lea. Das war die Frage. Und er war sicher, dass er es schnell zu klären hatte, damit er wieder in die Spur kam. So oder so.
*
Vier Stunden lang zeigte Farai Akuda einen gesteigerten Enthusiasmus und wühlte sich durch insgesamt 260 Schallplatten mit klassischer Musik. Viele der Vinylscheiben waren älter als er, aber trotzdem in einem tadellosen Zustand. Einige der Komponisten und Interpreten waren ihm geläufig, andere dagegen überhaupt nicht. Wenn er ehrlich war, hatte er von klassischer Musik keine Ahnung. Ebenfalls nicht von den Preisen, die man durch den Verkauf von Schallplatten erzielen konnte. Die Ordnungsliebe des Toten war ihm eine große Hilfe gewesen, hatte er doch ein Verzeichnis aller Schallplatten angelegt. Selbstverständlich war dieses Verzeichnis mit einer Schreibmaschine geschrieben. Ordentlich und fehlerfrei. Akuda hatte alle Schallplatten gezählt und festgestellt, dass keine davon fehlte. Alle 260 Schallplatten waren vorhanden und darüber hinaus standen sie genau an der Stelle, die Monzel jeder Einzelnen zugewiesen hatte. Akribisch hatte Akuda jede einzelne Platte aus der Innenhülle genommen, sie auf Kratzer oder schriftliche Hinweise untersucht. Ebenfalls hatte er die Plattenhüllen aufgeklappt, in der Hoffnung, darin etwas versteckt zu finden. Diese Hoffnung wurde enttäuscht. Schließlich hatte er eine Platte, die ihm aus der Jugend am meisten im Gedächtnis verhaftet war, auf dem Schallplattenteller gelegt und ‚Peter und der Wolf‘ von Sergei Prokofjew gelauscht. Um in den vollen Genuss der Musik zu kommen, setzte er sich in den bequemen Sessel, den Monzel speziell für diesen Zweck genau im besten Hörabstand zwischen den großen Lautsprecherboxen platziert hatte. Akuda schloss die Augen und lauschte. Es war eine andere Version als die, die er in seiner Kindheit oft gehört hatte. Daher schob er den fremden Klang zuerst darauf. Aber etwas stimmte nicht. Er stand auf, klickte auf die Automatikschaltung und der Tonarm erhob sich von der Platte. Er schaute nach, ob sich unter dem Tonabnehmer Staub angesammelt hatte. Das erzeugte oft ein dumpfes Geräusch und störte den Stereogenuss empfindlich. Er drehte den Ton auf null und reinigte mit einem kleinen Bürstchen den Tonabnehmer. Langsam senkte sich der Tonarm erneut in die Einlaufrille der Schallplatte. Gespannt hörte Akuda auf das Ergebnis des Reinigungsversuches. Er drehte die Lautstärke wieder hoch, setzte sich aber erst gar nicht hin. Mit Recht, denn die ersten Töne klangen noch immer dumpf. Er drehte den Balance-Regler ganz nach links, dann in die andere Richtung. Als Störquelle ortete er sofort die rechte Box. Er kniete sich vor die große Box und löste vorsichtig die Abdeckung. Dahinter lagen ein Hochtöner, ein Mittenhochtöner und ein Basslautsprecher von circa 20 cm Durchmesser. Er spielte mit dem Regler am Verstärker und sein Eindruck bestätigte sich: der Mittenhochtöner produzierte keine Töne. Daher kam der schwammige Klang. Ohne Mitten schlugen der kräftige Bass und der Hochtöner voll durch. Er drehte die riesige Box um und sah, dass die Rückwand angeschraubt war. Akuda holte sich aus seinem Jackett einige Utensilien: eine Taschenlampe und ein Schweizer Taschenmesser, das er immer bei sich trug. Bevor er vorsichtig die sechs Kreuzschlitzschrauben löste, vergewisserte er sich, dass diese Schrauben schon einmal herausgedreht worden waren. Vielleicht hatte Monzel den Defekt bemerkt und wollte es selbst reparieren. Gleichzeitig fragte er sich, ob ein Mann wie Donatus Monzel mit einem Schraubendreher umgehen konnte. Seine Neugier war geweckt, langsam und vorsichtig löste er die Schrauben. Mit dem Zeigefinger hakte er in der Vertiefung ein, wo die Boxenkabel angeklemmt waren und zog die Abdeckung nach vorne. Vorsichtig drehte er die Holzplatte zur Seite, um die Verkabelung nicht zu beschädigen. Er erschrak, weil etwas aus der Box herausfiel. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er erkannte, was dort in der Box verborgen gelegen hatte. Er stellte die Platte ab, holte sein Handy und dokumentierte seinen Fund. Dann zog er sich Untersuchungshandschuhe an, schaltete die Taschenlampe an und betrachtete das Notizbuch. Er leuchtete in die Box hinein und erkannte sofort, warum der Mittenhochtöner seinen Dienst aufgegeben hatte: ein Kabel hatte sich gelöst. Daher konnte er nicht mehr funktionieren. Warum hatte ein Musikfanatiker wie Monzel das nicht erkannt? Oder hatte er es erkannt und keine Zeit gehabt, das Kabel wieder zu befestigen? Weil er in Eile war? Weil er das Notizbuch verstecken musste? Akuda atmete tief durch. Eine Erklärung dafür konnte er nicht finden. Er holte das Notizbuch hervor, legte es vor sich auf den Parkettboden. Nachdem er ein weiteres Foto mit dem Handy gemacht hatte, nahm er das kleine Buch an sich und blätterte darin. Alt und oft benutzt schien es zu sein. Er stand auf und ging zu dem Sessel zurück, schaltete die große Stehlampe ein und setzt sich. Das Büchlein nahm sich klein aus in seinen riesigen Händen. Die ersten Einträge darin waren datiert von 1973. Es waren eigentlich Blankoseiten, doch hatte jemand mit Bleistift vertikale Linien gezogen. Auf jeder Seite gab es drei Spalten. Auf jeder Seite stand oben handschriftlich derselbe Eintrag. Ganz links stand ‚Name‘, daneben ‚Name des K.‘ und in der dritten Spalte eine Zahl. Akuda blätterte schnell weiter, dann ließ er das Notizbuch sinken. Sollte es sich wirklich um das handeln, was er vermutete? Wenn ja, dann hatte jemand über Jahre hinweg Kinder gegen eine Zahlung eines fünfstelligen Betrages ‚verkauft‘. So schien es das Notizbuch zu verraten. War das Donatus Monzel’s Werk? Oder hatte er diese Buch an sich gebracht und versteckt? War dieses Büchlein der Grund ihn zu töten? Akuda sah sich im Raum um. Was sollte ‚Name des K.‘ anderes bedeuten? Auf diese Art hatte sich derjenige eine äußerst lukrative Einnahmequelle beschafft und sich gleichzeitig das Schweigen derjenigen erkauft, die für diese Kinder gezahlt hatten.
Akuda schluckte. Wenn das kein Mordmotiv war. Er blätterte das Buch durch bis zur letzten Eintragung, die auf das Jahr 1989 datiert war. Dann hörte es im November plötzlich auf. Sechzehn Jahre lang hatte dieses Geschäft eine Person zu einem reichen Mann gemacht. War diese Person Donatus Monzel gewesen? Er zählte die Namen auf den Seiten zusammen und machte im