Oliver Hell Todeshauch. Michael Wagner J.
soll ein Taschentuch nur einmal benutzen, wegen der Viren«, protestierte Wendt.
»Man könnte die Dinger auch entsorgen, damit die Viren nicht zurück auf die Couch hüpfen«, sagte sie belustigt und stand auf. »Ich fasse sie nicht an, das musst du selbst erledigen.«
Zehn Minuten später hörte er, wie Julia seinen Mazda MX5 anließ und davonfuhr. Auf dem Tisch neben ihm stand eine dampfende Tasse Erkältungstee. Er beugte sich vor, um den Teebeutel herauszunehmen und ließ ihn kurzerhand auf den Stapel Taschentücher fallen. Bei jeder Bewegung hatte er das Gefühl, seine Schädeldecke würde sich heben. Julia nahm ihn nicht ernst.
»Pfleg deinen Männerschnupfen. Ich bin in drei Stunden wieder zurück«, hatte sie ihm noch aus dem Flur zugerufen. Sein Protest ging in einem Hustenanfall unter, begleitet von erneutem Schädeldeckenheben. Er nahm einen Schluck Tee, verzog den Mund, weil Julia den Zucker vergessen hatte, stellte den Tee beiseite. Stattdessen fingerte er nach der Fernbedienung des Fernsehens und zappte erst einmal alle Programme durch. Nichts interessierte ihn und auch die Lautstärke dröhnte in seinem Kopf. Er schaltete den Ton aus und sah nur die Bilder, schaltete den Fernseher kurz darauf wieder aus. Eigentlich will ich nur dösen, dachte er. Und diese Scheißgrippe loswerden. Verdammt. Er legte die Fernbedienung zurück auf den Tisch und fingerte nach seinem Handy, das unter der Fernsehzeitung lag. Er drückte eine Kurzwahltaste, ließ sich auf das weiche Sofakissen sinken und lauschte dem Klingelton.
»Hallo, hier ist Jan-Phillip«, sagte er, als er die Stimme seines Chefs hörte, »ich wollte nur mal hören, wie ihr so ohne mich klarkommt.«
»So lala«, antwortete Hell und formte mit den Lippen den Namen Wendt, weil Lea Rosin neugierig fragte, wer am Telefon sei.
»Wir sind gerade dabei, die Arbeit zu delegieren und die ersten Ergebnisse der Ermittlung zusammenzutragen.«
»Und?«
»Noch nicht viel. Wir müssen mit Nachbarn, Kollegen und Verwandten sprechen, falls es noch welche gibt.« Hell hörte bloß noch ein Husten, dann ein Röcheln.
»Chef, ich melde mich wieder!«
Mehr kam nicht mehr von seinem Stellvertreter.
»Wie gehts ihm?«, fragte Rosin.
Hell lachte. »Gerade hörte er sich an, als stünde er kurz vor dem Ende!«
»Männergrippe«, sagte Rosin entschuldigend, aber mit einem Augenzwinkern.
Hell erhob sich.
»Was denkst du? Sollen wir auf Akuda warten? Oder versuchen wir unser Glück noch einmal in der Nachbarschaft? Diesmal vielleicht eine Straße weiter?«
Rosin dachte einen Moment nach, dann brauchte sie nicht mehr zu überlegen, denn die Glastür wurde aufgerissen und Akuda streckte seinen Kopf durch die Tür. »Entschuldigung, ich bin viel zu spät. Ich hatte noch einen Termin, den ich nicht absagen konnte.«
Er schloss schnell die Tür und zog sich den nächstbesten Stuhl heran. Keiner sagte etwas. Beide starrten ihn nur an.
»Habe ich was verpasst?«, fragte er.
Hell antwortete, nachdem er sich mit dem Gedanken angefreundet hatte, Akuda in seinem Team zu haben.
»Nein, Herr Kollege, wir waren gerade dabei zu überlegen, ob es Sinn macht, noch einmal die Nachbarschaft zu befragen. Bisher haben wir dort nichts erreicht. Und ja, es ist ungewohnt, ein neues Gesicht hier zu sehen. Aber trotzdem, herzlich willkommen im Team«, sagte er und kam um den Tisch herum, um Akuda die Hand zu reichen.
*
»Die Nachbarn wollen alle nichts gehört haben«, fasste Rosin zusammen, als die Tür geöffnet wurde und ein Bote der KTU mit einer Kiste vor ihnen stand. »Mit schönen Grüßen von Julian Kirsch. Soll ich so ausrichten«, sagte der junge Mann mit Zögern in der Stimme. »Für Sie, Herr Kommissar Hell, ist auch noch etwas dabei!«
»Vielen Dank«, sagte Hell und deutete ihm an, die Kiste auf dem Tisch abzustellen.
»Können Sie uns etwas über den Inhalt der Kiste sagen?«, fragte Akuda.
»Das sind die Verzeichnisse der ehemaligen Mitarbeiter und Angestellten, die in dem Heim gearbeitet haben. Bis zuletzt. Die anderen hat er schon aussortiert, weil ...«, erläuterte der Bote und heftete seinen Blick auf Farai Akuda. Hell machte eine genervte Geste und der Bote nickte eifrig. »Sie verstehen schon. Ich bin dann mal wieder weg. Schönen Tag noch!« Er beeilte sich, den Besprechungsraum zu verlassen.
Rosin sah dem jungen Mann hinterher. Ihr war nicht verborgen geblieben, wie bange er Akuda angeschaut hatte.
»Na, das ist ja mal eine völlig ungewohnte Art der Ermittlung«, stöhnte sie dann und zog eine Akte aus der Kiste. ‚Edeltraut Weyres‘ stand auf dem kleinen Plastikreiter, geschrieben mit einer Schreibmaschine.
»Sei froh, Lea. Wir haben früher nur so gearbeitet. Vor dem Computerzeitalter gab es auch schon Kriminalpolizei!«
Lea pustete die Backen auf und ließ die Luft entweichen. »Dann habe ich ja wohl die Gnade der späten Geburt.«
»Wenn du so willst, ja«, antwortete Hell lachend und fischte sich den Ordner heraus, auf dem ‚Ermittlung KHK Hell - privat‘ stand. Er legte die Akte beiseite, spontan kippte er die Kiste auf dem Tisch aus. Schnell wurden die Akten verteilt und die Beamten fingen an zu sondieren und schon bald saßen sie an ihren Tischen und telefonierten.
*
Nachdem Akuda und Rosin das Büro verlassen hatten, widmete sich Hell seiner privaten Akte. Bevor er den blauen Aktendeckel öffnete, bürstete er einige imaginäre Krümel von der Schreibtischunterlage. Kirsch hatte ihn schon am Vortag über das Ergebnis der Untersuchung in seinem Garten informiert. Die Vögel waren mit einem kleinkalibrigen Gewehr erschossen worden. Das hatte die Gerichtsmedizin zu dem Bericht beigetragen. Die Tiere erfreuten sich vorher bester Gesundheit, bis jemand sie dazu auserkoren hatte, auf Hells Fußmatte zu enden. Dieser jemand konnte auch durch die Untersuchung der Kriminaltechnik nicht enttarnt werden. Seine Motivation ebenfalls nicht. Hell musste den Abscheu überwinden, der ihn überkam, wenn er sich mit dieser Geschichte befasste. Machte es wirklich Sinn, sich dem Ganzen intensiver zuzuwenden? Sollte er seine kostbare Zeit investieren, um die Motivation des Täters zu ergründen? Hatte hier einer seine kranke Fantasie ausgelebt? Oder steckte mehr dahinter? Hinter diesen merkwürdigen Worten, die auf dem Zettel standen:
Weiß ist schwarz.
Hell ist dunkel.
Und du bist nicht derjenige, der du zu sein glaubst.
Hell hatte, nachdem er den ersten Schrecken überwunden hatte, eine gewisse Wut gespürt, die sehr bald von einer Gleichgültigkeit abgelöst wurde. Was für ein Schwachsinn! Ein Mann von über fünfzig wusste, wer er war. Da konnten auch keine toten Vögel für Zweifel sorgen. Das war Fakt. Jetzt bemühte er auch nur kaum seine Gesichtsmuskeln und legte den Aktenordner beiseite. Julian Kirsch hatte die Idee ins Spiel gebracht, eine Kamera zu installieren. So eine kleine, wie auch die Geheimdienste sie benutzten. Die ließ sich leicht verbergen. Oder eine große, die man oben in der Ecke der Terrasse anbrachte, die über seinen Heim-PC eine IP-Adresse zugewiesen bekam und mit der man den ganzen Garten beobachten konnte. Hell hielt das für überflüssig, dennoch war er dem Tatortermittler dankbar für seine Mühe.
*
Ihr wettergegerbtes Gesicht und die gepflegten grauen Haare gaben Frau Weyres etwas von einer Abenteuerin. Rosin überlegte eine Weile, bis ihr die Ähnlichkeit zu Jane Goodall auffiel, der bekannten Wissenschaftlerin und Forscherin. Man hätte jedenfalls nicht vermutet, dass sie einmal die Chefsekretärin in einem Kinderheim gewesen war. Aus der Akte wusste Lea, dass sie in dem Jahr, in dem das Heim geschlossen wurde, in Frührente gegangen war. Ihr Mann war ein hohes Tier bei einer der zahlreichen Behörden gewesen, die bis zum Inkrafttreten des Bonn-Berlin-Gesetzes ihren Sitz in der ehemaligen Bundeshauptstadt hatten. Der Ehemann war vor einigen Jahren verstorben, was ihr