Violet Socks. Celine Ziegler
meine schlechte Laune nicht ansehen zu lassen, und steuere den Flur an. „Hach, du weißt doch. Er ist ein Idiot und nur weil er sich nicht anstrengen kann, kam es zu Reibereien."
„Verstehe", sagt Benja und betrachtet mich skeptisch, als ich wieder mit einer anderen Requisite die Bühne betrete. „Und mehr war es nicht? Er hat nichts Böses gesagt oder so?"
Ich zucke mit den Schultern. „Nichts, was mich interessieren könnte."
„Okay." Er hilft mir, einen Stein richtig auszurichten. „Und wird er wiederkommen? Ich meine, Heath wird das wahrscheinlich nicht gutheißen, dass er einfach abgehauen ist."
„Ich habe ihm gesagt, er soll gehen. Er würde uns sowieso nur stören."
„Alles klar ... Wahrscheinlich hast du recht."
Ich spüre Benjas Blick weiterhin auf mir und ich weiß ganz genau, dass er versucht, mehr aus mir herauszubekommen. Er ist einer der wenigen Menschen, die mir sofort anmerken, wenn ich schlechte Laune habe.
„Ich hoffe, du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst", sagt er nach einer Weile. „Auch über ihn."
Ich schürze die Lippen. Er erinnert sich an die vielen Tage und Nächte, die ich bei ihm zu Hause verbrachte, nachdem Harry einfach beschlossen hatte, ein Idiot zu werden. Damals weinte ich sehr viel, wirklich sehr, sehr viel. Ich war immer eine starke Persönlichkeit und so schnell bekommt mich nichts klein, aber die Sache mit Harry steckte mir damals sehr lange in den Knochen. Auch wenn wir gerade mal dreizehn Jahre waren. Ich kenne ihn von Geburt an und er war immer mein bester Freund, er wusste alles über mich und ich über ihn. Sogar heute weiß ich noch viele Dinge, die ich nie jemandem erzählen würde.
Aber so schnell ändern sich Dinge eben. Das ist das Leben. Ihn hat die Pubertät zu sehr geändert und damit muss ich klarkommen, was ich mittlerweile auch tue. Er ist nicht mehr der, der er einmal war. Ich vermisse nur sein früheres Ich, aber ihn, heute, kein Stück. Harry kann mir gestohlen bleiben.
Kapitel 4
Nachdem ich sechs Stunden Schule hinter mich gebracht habe und mir, zum Glück, Harry oder Misses Heath nicht mehr über den Weg läuft, fahre ich mit dem Schulbus nach Hause, wo mich auch schon meine kleine Schwester in Empfang nimmt.
„Du hast schon wieder deinen Schlüssel vergessen", sind die ersten sieben Worte, die sie heute zu mir spricht und das in einem Meckerton, den normalerweise nur eine Mutter so gut drauf hat.
„Schön, Rosy, du solltest Empfangsdame bei der Queen werden", erwidere ich sarkastisch und schließe hinter mir die Haustür, während Rosy wütend in die Küche stampft.
Rosy ist wahrscheinlich das anstrengendste und pubertierendste Kind, das ich kenne. Und das mit neun Jahren. Und ohne, dass es überhaupt schon die Pubertät richtig erreicht hat. Sie benimmt sich wie eine kleine, garstige Erwachsene, die mitten in den Wechseljahren steckt. Manchmal ist sie strenger als meine Mutter. Ja, tatsächlich ist sogar streng das richtige Adjektiv für sie. An manchen Tagen versucht sie mir zu verbieten, zu kurze Röcke zu tragen, und an anderen Tagen will sie nicht, dass ich alleine abends rausgehe, um Benja zu besuchen, der nur eine Straße weiter wohnt. Es ist seltsam. Rosy ist seltsam.
Ich schmeiße meine Schultasche in den Flur und gehe in die Küche, in der Mom am Herd steht und eine Suppe umrührt. „Ich bin zu Hause."
„Das nächste Mal denkst du an deinen Schlüssel", meckert Rosy weiter, die mittlerweile mit geschwellter Brust am Essenstisch sitzt und ihre blonden Haare zusammenbindet, wie sie es immer vor dem Essen tut, damit bloß kein Haar in ihr Essen gelangt. „Ich will nicht immer aufstehen, um dir die Tür aufzumachen."
Mom und ich werfen uns vielsagende Blicke zu. Auch sie findet es mindestens genauso merkwürdig wie ich, dass Rosy sich mütterlicher verhält als unsere eigene Mutter. Sogar gegenüber Mom ist sie manchmal eine Mom.
„Ich versprech's", sage ich zu Rosy, als ich mich ihr gegenüber an den Tisch setze. „Ich will doch nicht, dass deine alten Knochen strapaziert werden."
Rosy sieht mich giftig an. „Ärger mich nicht."
„Tue ich nicht. Tue ich nie."
„Mom!", ruft Rosy jetzt mit verschränkten Armen zu Mom, die seufzend die Suppe umrührt. „Sieh doch, wie Violet mich wieder ärgert!"
„Rosy", sagt sie und hebt den Topf hoch, um ihn auf den Tisch zu stellen. „Wenn du dich vielleicht mal wie ein neunjähriges Mädchen verhalten würdest, könnte ich deine Situation echt besser verstehen, aber so …''
„Also willst du einfach zulassen, dass Violet so mit mir umgeht?", unterbricht sie Mom entsetzt.
Ich sage: „Komm mal runter. Ich wollte dich nicht kränken. Außerdem – hach, vergessen wir das." Es ist sowieso immer wieder das Gleiche. Rosy und ich sehen in den Topf, den Mom auf den Tisch gestellt hat, und verziehen gleichzeitig das Gesicht.
„Was soll das sein?", fragt Rosy angewidert und betrachtet die grüne, blubbernde Grütze.
„Bitte sag mir nicht, dass du wieder irgendwelche vegetarischen Rezepte ausprobiert hast", sage ich zu Mom und rühre, genauso wenig begeistert wie Rosy, in der Suppe rum.
Mom setzt sich an den Tisch und schöpft uns was auf den Teller. „Nun stellt euch mal nicht so an. Das ist mit Sicherheit total lecker. Jamie Oliver meinte, dass das das gesündeste Essen für Kinder ist, weil alle Vitamine und Nährstoffe vorhanden sind."
Rosy runzelt die Stirn. „Aber wir sind doch keine Kinder mehr."
Ich lache. „Genau, Mom. Wir sind schon neun und siebzehn!"
„Hey", sagt Mom und stellt den Topf wieder hin. „Esst es einfach. Wenn es euch nicht schmeckt, dann esst es trotzdem. Es gibt nichts anderes."
Tief atmen Rosy und ich durch. Wir kennen das schon. Mom denkt tatsächlich, sie wäre die beste Köchin der Welt, nur weil sie täglich Jamie Oliver guckt und noch dazu jedes Buch von ihm in der Küche stehen hat. Manchmal kommt akzeptables Essen dabei raus und manchmal abscheuliches wie heute. Sie versucht immer, uns von McDonald’s oder anderem Fast Food fernzuhalten, denn wenigstens etwas Ordentliches zu essen sollen wir bekommen. Sie muss das nicht tun, das sage ich ihr immer wieder, doch trotzdem steht sie stundenlang in der Küche.
Um sechs Uhr abends ziehe ich mir meine kuschligsten Kniestrümpfe an, die mit schwarzen Kätzchen bestickt sind. Diese sind meine absoluten Chillersocken und ich ziehe sie nur an, wenn ich weiß, niemand Wichtiges könnte mich heute damit sehen. Darüber trage ich noch meinen zu großen Pullover, den Dad mir hinterlassen hat, und eine kurze Shorts, damit ich nicht zu aufreizend aussehe. Für einen sechsjährigen Jungen und ein vierjähriges Mädchen muss man nicht gut aussehen.
Ich verabschiede mich von Mom und steuere Misses Heaths Zuhause ein paar Straßen weiter, an. Ich babysitte für sie schon seit der siebten Klasse, was merkwürdig sein mag, doch gleichzeitig auch ein gutes Taschengeld für mich bedeutet. Noch dazu bekomme ich in der Schule Pluspunkte, denn niemand sonst traut sich, ihre Kinder zu betreuen, vor lauter Angst, man könnte sie verärgern und Misses Heath könnte einen dadurch von der Schule werfen. Aber ich habe keine Angst. Ich liebe es, denn ich liebe Kinder und vor allem ihre Kinder.
Jeden Montag geht Misses Heath abends mit ihrem Mann essen, weswegen ich einmal die Woche – manchmal zweimal – hier aufkreuze, um mich um ihre Kinder zu kümmern.
Ich laufe an dem weißen Gartenzaun vorbei und blicke schon durch die Dunkelheit zum Haus, in dem bereits Licht brennt und ich Misses Heaths braunen Haarschopf entdecke, während sie hektisch umherläuft, wie sie es jeden Montag tut, wenn sie spät dran sind.
Ich klingele und höre von drinnen schon ihre Stimme. Die Tür wird geöffnet und ich setze mein nettestes Lächeln auf.
Doch mein Lächeln erstarrt, als mich zwei dunkelblaue Augen anstarren, die mir nur allzu bekannt sind.
Und noch bevor ich etwas sagen kann, wird