Traum oder wahres Leben. Joachim R. Steudel

Traum oder wahres Leben - Joachim R. Steudel


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der Ant­wort, denn Sa­rah er­fass­te ein leich­tes Schwin­del­ge­fühl, als sie aus dem Fens­ter sah. Sie fühl­te die Wär­me und Kraft, die ih­ren Kör­per durch­ström­te, als er ihre Hän­de er­griff, und öff­ne­te zag­haft die Au­gen.

      »Dan­ke. Ich bin noch nicht oft ge­flo­gen, und der Start setzt mir im­mer wie­der zu.«

      Er nick­te freund­lich.

      »Al­les gut«, sag­te er und lehn­te sich wie­der zu­rück, »und um dei­ne Fra­ge zu be­ant­wor­ten: Ich habe heu­te Mor­gen die In­for­ma­ti­on er­hal­ten, dass ein Grab ge­fun­den wur­de und ge­öff­net wer­den soll. Das möch­te ich nach Mög­lich­keit ver­hin­dern oder we­nigs­tens die Ruhe der To­ten wah­ren.«

      Sa­rah ver­gaß schlag­ar­tig, wo sie sich be­fand.

      »Was für ein Grab? Und warum ist dir das so wich­tig?«

      Gün­ter lös­te den Blick von ihr und wand­te sich dem Fens­ter zu.

      »Das Grab ei­ner jun­gen Frau, die mein Le­ben eine Zeit lang be­glei­te­te. Sie muss­te viel er­lei­den, und kei­ner soll­te zu For­schungs­zwe­cken ihre Ruhe stö­ren.«

      In Sa­rahs Kopf ras­ten die Ge­dan­ken: Eine jun­ge Frau und sie leb­ten zu­sam­men. Schon wie­der eine an­de­re. Und ob­wohl sie sich selbst sag­te, dass es kei­nen Grund da­für gab, er­wach­te so et­was wie Ei­fer­sucht in ihr.

      Als ob er ihre Ge­dan­ken ge­hört hät­te, füg­te Gün­ter hin­zu:

      »Sie war wie mei­ne Toch­ter. Ich habe sie groß­ge­zo­gen, be­hü­tet und war doch nicht in der Lage, sie im ent­schei­den­den Mo­ment zu be­schüt­zen. Das und die Fol­gen, die sich dar­aus er­ga­ben, habe ich mir lan­ge nicht ver­zie­hen.«

      Die letz­ten Wor­te hat­te Sa­rah kaum noch ver­ste­hen kön­nen, so lei­se und trau­rig ka­men sie über die Lip­pen ih­res Ge­gen­übers. Scham über­kam sie we­gen der Ge­füh­le, die sie eben er­grif­fen hat­ten, und mit ge­senk­tem Blick war­te­te sie, ob er wei­ter­spre­chen wür­de. Mi­nu­ten spä­ter konn­te sie die Stil­le nicht mehr er­tra­gen und frag­te:

      »Hast du sie ge­liebt?«

      Ver­ständ­nis­los sah Gün­ter sie an.

      »Ja, wie man eine Toch­ter liebt, auch wenn sie nicht die leib­li­che ist.«

      Sa­rah ohr­feig­te sich in­ner­lich. Wie konn­te sie nur so eine Fra­ge stel­len? Das, was ihr Herz eben zu­sam­men­ge­zo­gen hat­te, war ihr noch nie pas­siert.

      Gün­ter ging nicht wei­ter dar­auf ein und wand­te den Kopf wie­der zur Sei­te.

      »Es gibt aber noch an­de­re Grün­de, aus de­nen ich die Öff­nung ver­hin­dern möch­te. Ein Bün­del in dem Grab könn­te für große Auf­re­gung und Ver­wir­rung sor­gen.«

      Vie­les schwirr­te Sa­rah durch den Kopf, doch vor­erst ver­such­te sie ih­ren ra­sen­den Herz­schlag zu be­ru­hi­gen. Die Röte, die ihr Ge­sicht über­zo­gen hat­te, schwand lang­sam, als sie ihre Flug­hö­he er­reicht hat­ten. Der Pi­lot teil­te es mit, und sie lös­ten ihre Si­cher­heits­gur­te, doch noch be­vor Sa­rah sich auf­raf­fen konn­te, eine wei­te­re Fra­ge zu stel­len, stand Gün­ter auf und sag­te:

      »Ich muss dich jetzt für den Groß­teil des Flug­es al­lein las­sen.« Auf ih­ren ver­ständ­nis­lo­sen Blick hin setz­te er hin­zu. »Wenn wir an­ge­kom­men sind, wirst du ver­ste­hen, warum.«

      Ohne ein wei­te­res Wort ver­schwand er mit sei­ner Rei­se­ta­sche in dem hin­te­ren ab­ge­trenn­ten Be­reich.

      Sa­rahs In­ners­tes war so auf­ge­wühlt, dass sie eine gan­ze Wei­le brauch­te, be­vor die Ein­sam­keit auf sie wirk­te. Auch wenn sie die Ab­la­ge mit den Zeit­schrif­ten und Zei­tun­gen be­merkt hat­te, nach sol­chen Ab­len­kun­gen stand ihr der Sinn nicht. Zu vie­les war ge­sche­hen, seit sie die­sen Mann ken­nen­ge­lernt hat­te. Sie sah auf die Wol­ken, über die sie jetzt flo­gen, doch ihr Blick war nach in­nen ge­rich­tet.

      Der we­ni­ge Schlaf der letz­ten Nacht hat­te sei­ne Aus­wir­kun­gen ge­zeigt. Sa­rah war bei ih­ren Grü­belei­en ein­ge­schla­fen. Un­be­merkt war Gün­ter, kurz be­vor die Küs­ten­li­nie Ägyp­tens in Sicht kam, auf sei­nen Platz zu­rück­ge­kehrt. Er mus­ter­te sie nach­denk­lich und strich sich da­bei über sei­nen grau me­lier­ten Voll­bart.

      Sa­rah spür­te sei­ne Bli­cke und öff­ne­te die Au­gen. Schlaf­trun­ken sah sie Gün­ter an und lä­chel­te, doch ir­gend­et­was schi­en an­ders zu sein. Mit ei­nem Ruck setz­te sie sich auf, und un­gläu­big ruh­ten ihre Au­gen auf dem Mann ihr ge­gen­über.

      War das wirk­lich noch Gün­ter Kauf­mann? Dem Pass­bild des Ara­bers ent­sprach er, doch sie war mit ei­nem an­de­ren Mann ins Flug­zeug ge­stie­gen. Auf dem Sitz vor Sa­rah saß ein­deu­tig ein Be­dui­ne. In einen Kaftan gehüllt, ein Tuch auf dem Kopf, das von ei­nem Ring ge­hal­ten wur­de, schi­en er ge­ra­de­wegs von ei­nem Kos­tüm­fest zu kom­men. Der Bart ließ ihn äl­ter wir­ken, und nur die Au­gen, wa­ren noch die glei­chen.

      Sa­rah schloss den Mund wie­der und schluck­te ver­nehm­lich.

      »Ka­rim Al-Kis­met­bahr ist Ara­ber und muss auch so aus­se­hen«, sag­te die ge­wohn­te Stim­me.

      Sa­rah brach­te im­mer noch kein Wort he­r­aus und nick­te nur.

      »Ent­schul­di­ge bit­te, dass ich es dir nicht vor­her er­klärt habe, aber ich habe zu vie­le Fra­gen be­fürch­tet und woll­te ih­nen aus dem Weg ge­hen.«

      Sa­rah fand ihre Stim­me wie­der.

      »Warum so eine Mas­ke­ra­de? Ist das denn wirk­lich nö­tig?«

      »Das ist kei­ne Mas­ke, so ist Ka­rims Aus­se­hen.«

      Die Ant­wort är­ger­te Sa­rah, denn es war ja of­fen­sicht­lich, dass Gün­ter sein Äu­ße­res ver­än­dert hat­te. Et­was ge­reizt sag­te sie des­halb:

      »Wenn du meinst. Für mich ist es aber so, denn wer sich einen Bart an­klebt, brau­nes Make-up auf­trägt und sich dann auch noch ver­klei­det, ver­steckt sich hin­ter ei­ner Mas­ke.«

      Gün­ter lach­te kurz auf.

      »Nur weil du mich an­ders kennst.«

      Er wur­de wie­der ernst und setz­te sach­lich hin­zu:

      »Was glaubst du, wie das bei ei­ner an­de­ren Iden­ti­tät funk­tio­niert? Denkst du, ich könn­te als Ara­ber ge­nau­so auf­tre­ten wie als Gün­ter Kauf­mann? Si­cher hast du mit ei­nem recht: Ich ver­ste­cke mich hin­ter ei­nem an­de­ren Äu­ße­ren. Aber al­les ist echt. Nichts ist auf­ge­tra­gen oder an­ge­klebt. Ich bin jetzt Ka­rim bin Azmi bin Ha­lim Al-Kis­met­bahr und sehe aus wie er.«

      Der Ernst, mit dem er das sag­te, ver­un­si­cher­te Sa­rah, aber sie konn­te nicht an­ders, als nä­her he­r­an­zu­rück­en und ihn ge­nau zu mus­tern. Trotz größ­ter Mühe konn­te sie nichts er­ken­nen, was auf ihre Ver­mu­tung hin­deu­te­te, und mit großen Au­gen sah sie ihn an.

      »Die pe­ri­odi­sche Er­neue­rung mei­nes Kör­pers fin­det im­mer noch statt«, be­gann Gün­ter mit sei­ner Er­klä­rung. »Über die vie­len Jah­re habe ich ge­lernt, in ge­wis­sen Gren­zen, in sie ein­zu­grei­fen. Ich kann es ver­zö­gern, vor­zie­hen, Nar­ben ver­schwin­den las­sen oder hin­zu­fü­gen, Fal­ten im Ge­sicht hin­zu­fü­gen, die mich


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