Operation Ljutsch. Reinhard Otto Kranz
am Automaten, stieg in den Regional-Express und sah sich um. Gegen neun Uhr waren wenig Reisende unterwegs, nur einen Wagen weiter lärmte eine Jugend-Gruppe, in freudiger Erwartung ihrer Visite der Hauptstadt.
Oie klappte die Ohren zu und genoss im Oberdeck des Waggons die vorbei schießenden Bilder der Wälder und Seen in der sonnig grünen Frische Brandenburgs.
Immer wieder ruckend versuchte er sich wach zu halten, so als wüsste er, dass die heraufbeschworenen Geister der Vergangenheitnur darauf lauerten, ihn im Schlaf zu attackieren.
Bald aber schlief er vor Erschöpfung ein, die ihn in einen würgenden Albtraum mit einer finalen Version der Ereignisse auf Franzfelde führte.
Ein fauchender, stinkender Schatten umklammerte ihn zerrend und quetschte sein Innerstes, wie aus einer Tube, zum Halse heraus – als ihn die Schaffnerin rettete.
Mit mütterlichem Lächeln sah sie auf den übernächtigt wirkenden, zerknitterten alten Mann, der sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn wischte.
Es war schon hinter Oranienburg, wo langsam die ausgefranste Steinigkeit Berlins ins Weichbild der grünen Landschaft drängt. Das Eintauchen des Zuges in immer dichtere Wohngebirge wirkte, nach den heftigen Ereignissen und dem nachhallenden Alb, irgendwie beruhigend – schien ihm wie eine Heimkehr, wie der Rückzug in seine sichere Festung Berlin.
Am Hauptbahnhof ausgestiegen nahm er die S-Bahn zum Alex und fuhr mit der U-Bahn weiter zur Samariterstraße.
Kathas winzige Stadtwohnung hatten sie damals nicht aufgegeben, als sie wegen Elena raus aufs Land zogen, denn das jüngste seiner Kinder sollte aufwachsen wie er, in der Natur, mit den unverfälschten Jahreszeiten und den gedämpften kulturellen Anfechtungen des Landlebens, am Rande der großen Stadt.
»Da draußen«, sagte er immer zu allen, die an der Lebensqualität vor der Stadt zweifelten, »da draußen ist die Welt noch in Ordnung. Da fühlt man noch die ewigen Maßstäbe der Natur – fernab vom hedonistischen Medien-Getöse – und Stadt-Neurotiker sind eine seltene Erscheinung.«
Zwischenzeitlich war die Wohnung dann Unterschlupf für die großen Kinder, jugendliche Verwandte, und später auch manchmal Quartier für Gäste, die Berlin besuchten.
Oie hatte sich dort einen Schreibtisch am Fenster, eine Bücherwand und einen Computer hingestellt.
Es war seine Arbeits-Klause, wenn er, wie Katha meinte, wieder mal was auszubrüten hatte. Die Verbindung des Künstlers zur Welt ist die Einsamkeit, war dann seine Erklärung für sich und andere, die sich verwundert zeigten, über diesen abgetaucht-sporadischen Ortswechsel.
Als er nun, von der Frankfurter Allee kommend, in seine Straße einbog, die leicht zur Samariter-Kirche anstieg, sah er rechts in der baumgesäumten Altberliner Stein-Schlucht – auf der Höhe seines Mietshauses – Feuerwehrwagen stehen.
Auf den ersten Blick fühlte er sich sicher beim Anblick der feuerroten öffentlichen Ordnung, besonders nach den chaotischen Erlebnissen auf Franzfelde, wie auch immer. Aber dann - näher herankommend - sah er Schläuche in seinen Hauseingang laufen.
Er verzögerte seinen Schritt, denn es standen viele neugierige Menschen neben den Fahrzeugen und irgendetwas sagte ihm: Halt dich zurück!
Rechts neben seinem Haus befand sich eine Änderungs-Schneiderei, die er von oben, aus seiner Hinterhof-Wohnung, zuweilen bei Nacht arbeiten sah. Er ging hinein und fragte eine kleine, schmächtige Näherin mit asiatischem Einschlag freundlich, ob er einen Anzug zum Kürzen bringen könnte, und was das kosten würde.
Die sagte, ihn von oben bis unten in seinem Aufzug musternd: »Hosbei funfzeh Uro – Äml zeh Uro.«
Er wusste es zu deuten, zeigte sich einverstanden und versprach den Anzug in den nächsten Tagen zu bringen – um dann unverfänglich zu fragen: »Ist nebenan etwas passiert?«
Die Näherin schaute ein Nichtverstehen, doch die hinzutretende Chefin vom gleichen Stamm bestätigte Kaugummi kauend: »Heut Nacht Hof brennt, da, sieh«, und sie ging mit ihm an das Fenster zum Hof, das er des Nachts so oft von seinem Schreibtisch aus erleuchtet gesehen hatte. »Schau da drei Stock, alles brennt – löschen Rest.«
Mit einem Schlag wurde Oie bewusst, dass das ihre Wohnung war, die da gebrannt hatte und es schoss ihm ein Entsetzen in die Knochen, – doch er riss sich zusammen und ließ sich nichts anmerken.
»Is nix passiert, wohnt nix mehr Leut, so das ist Malade. Mann noch lebt, nix gefunden. Ist nix da wesen. Habe nur einmal sehen, – is Künstler reden Leut. – Sieht ähnlich ihm«, und sie schaute dabei auf den Angler – »doch nix!«
»Na ja«, drehte sich Oie um, »ich muss los. Ich habe es noch ein Stückchen bis zum alten Schlachthof. Da wohne ich. Machen Sie es gut – ich komme demnächst vorbei.«
Er entschwand in die vorgezeigte Richtung, ohne sich noch einmal umzudrehen und lief um den Block, ziellos ins Nirgendwo.
Er hätte auch zur Wohnung gehen, sich als Mieter offenbaren und dabei Näheres von der Feuerwehr erfahren können, aber er wusste, zu ändern ist eh nichts mehr. Seine mentale Bewegungsfreiheit hätte gelitten und die Gefahr war groß, dass mit den Ereignissen auf Franzfelde, die vielleicht schon polizeilich hochgekocht waren, seine eigenen noch unklaren Pläne zu Igor Antonows Auftrag gestört würden.
Wieder schossen Gedanken wie Hagelschauer durch seinen Kopf. Dabei war eine Frage seit gestern immer wieder bohrend präsent: Warum? – War das, was er hatte – die Listen – so brisant nach zwanzig Jahren?
Oder ging es denen ums Prinzip, um das Wesen der Geheimdienste, wie Antonow einst betonte – und sich damals auch konsequentdaran hielt. Wenn sie das nicht beherzigen würden, was wären sie dann anderes als eine Nachrichtenbörse, eine Projekt-Gesellschaft oder ein Reisebüro mit anderen, zweifelhaften Mitteln, waren die abwimmelnden Worte Igor Antonows, an die er sich zu erinnern glaubte.
Oie hatte so gar keine Vorstellung von den Hintergründen der letzten Ereignisse, war als Berufsoptimist jedoch noch immer versucht, gegen seine schrillen Ahnungen, intellektuelle Barrieren von Unfall oder Zufall aufzubauen.
Die objektive Ernüchterung wurde jedoch mit jeder Minute größer, denn die letzten Stunden ließen keinen anderen Schluss zu: Der Brand war der zweite Versuch ihn umzubringen. – Oder war es schon Rache für Franzfelde?
Nur der Spontanausflug zu Ulm hatte ihm offensichtlich den Hals gerettet. Wäre er mit der JAWA nach Berlin gefahren, – er konntees nicht zu Ende denken.
Oie war sich jetzt sicher: Die da meinten ihn. Antonows Vermächtnis war eine Bombe mit Magnet-Zünder, die zu jeder Stunde, an jeder Ecke, bei jeder zufälligen Begegnung hochgehen konnte.
Die Brutalität, mit der sie vorgingen, ließ keinen anderen Schluss zu. Einfach seine Klause abbrennen – das ging über seinen Verstand. Seine Höhle, einen Teil seiner Geschichte zerstören, nur wegen ein paar alter Informationen? Wie sollte er das Katha beibringen? Das beunruhigte ihn am meisten.
Sein überhitztes Gehirn schleuderte zwischen den Optionen: Zu Katharina raus fahren war zu riskant. Sicher warteten die dort schon und er brachte seine Familie in Gefahr – das ging nicht. Verdammt noch mal, was wollten die?
Nur Antonows Vermächtnis, – die Listen? Sicherlich auch ihn als Mitwisser beseitigen, soviel war ihm jetzt klar, anders war diese Brutalität nicht zu erklären. Weiter abtauchen, lag also nahe – aber wohin?
Sein Auto aus der Reparatur abholen erschien ihm nicht sinnvoll, denn wohin sollte er fahren? Sicher kannten, die ihn verfolgten, auch sein Autokennzeichen, wenn sie über zwanzig Jahre vergangene Adressen, wie Franzfelde, auf dem Schirm hatten.
Er lief ziellos, wie betäubt, durch die Stadt, schaute wie abwesend in Schaufenster und ignorierte die Blicke der Kinder, die ihm belustigt, ob seines skurrilen Aufzuges, der sich als Mischung aus Rumpelstilzchen und Klabautermann darstellte, hinterher blickten.
In der Hitze des Tages wurden seine Gummistiefel zu Schweißbädern, sein Südwester zur Brutkappe und sein Anglergepäck zur Plage.
Am