Operation Ljutsch. Reinhard Otto Kranz

Operation Ljutsch - Reinhard Otto Kranz


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Kaninchen in welcher Kombination zusammenstehen – und aufzeichnen, wie sie verteilt sind.«

      Oie machte große Augen und sagte nichts – es war zu spannend.

      »Picken. – Oder eine andere, parallel laufende oder nachträgliche Fokussierung auf die Hühner: Welche picken schnell, weil sie hungrig sind, welche picken langsam, weil sie satt sind – und welche picken gar nicht?

      Oder parallel die Bewegungstendenzen im Schwarm und so weiter. Das Gleiche auf Abruf oder zeitgleich mit den Kaninchen.«

      »Ist ja toll«, wunderte Oie sich, »wie das? – Ist das genetisch oder erlernbar?«

      »Verdrahtung. – Weiß ich nicht genau, aber ich bin hier oben« – und Nussbaum fasste sich mit gespreizten Fingern über den Kopf – »irgendwie anders verdrahtet. Auch gut trainiert seit meiner Kindheit durch unsere Eltern, die von früh an mit uns musiziert und gespielt haben – vor allem Schach und Bilderrätsel.

      Bruder. – Mein Bruder Johannes, der die gleiche Erziehung erfahren hat, ist auch sehr musikalisch – in der Mathematik ist er allerdings ganz normal.«

      Oie war sprachlos. Nussbaum, der so was kannte, versuchte lockend abzulenken: »Kaffee? – Ich will uns erst mal einen Kaffee machen, Sie trinken doch Kaffee?«

      Oie war leidenschaftlicher Kaffeetrinker und hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass irgendetwas fehlte zu seinem Glück, über Igor Antonow, gleich zum Auftakt seiner Suche, so einen interessanten Menschenzu treffen.

      »Türkisch, arabisch, schwedisch, holländisch oder einen Pharisäer? – Ist kein Problem!«

      Als Oie zweifelnd schaute, lockte Nussbaum: »Lust-Zeit ist das. – Die neue Zeit, – immer Aussicht auf Lustgewinn und die Qual der Wahl. Aber macht uns die Wahlfreiheit zwischen zwölf Kaffee-Spezialitäten reicher – als Mensch?«

      »Nö«, wiegelte Oie ab, »aber in der Aussicht irgendwie glücklicher!« Nussbaum lächelte freundlich auffordernd: »Was iss’n nu?«

      »Ich lass mich überraschen!«

      Herr Nussbaum ging in die Küche. Gewisse Parallelen gab es da schon, stellte Oie für sich fest. Zweimal studiert hatte auch er. Erst an der Technischen Hochschule. Dann, nach einigen Jahren als Projekt-Ingenieur in der Industrie und ausgiebigen Übungen im Zirkel des renommierten Berliner Malers Wolfgang Leber,wurde er als geeignet befunden, an der Kunsthochschule Gestaltung zu studieren.

      Die damals regierenden Professoren wollten bildnerisch begabte, musische und erfahrene Leute, die etwas von Produktion und Technik verstanden, weil die Haupt-Ausrede in Sachen Design-Qualität in den Betrieben der Planwirtschaft nicht die Unzulänglichkeiten der Planwirtschaft war – denn die war ja offiziell perfekt, und also Kritik-Tabu – sondern: Das stört die auf Kante genähte Planerfüllung und das können wir technisch nicht, – aus diesen oder jenen vorgeschobenen Gründen.

      Man musste also in der verordneten Mangel-Wirtschaft mit solidem technischem Hintergrund improvisieren können, wenn man da, wo alles vorgeplant war, etwas voranbringen wollte, – besonders in der Gestaltung.

      Deshalb der Leitspruch der Fakultät: Für wirklich Neues gibt es keine Vorschriften! Das sollte den Gestaltern Mut machen, neue Wege zu gehen. Einige der zehn Studenten pro Jahrgang schafften es dann auch, später so zu arbeiten.

      Aus der Küche rasselte, dampfte und roch es verführerisch bis ins Zimmer. Betörendes Kaffee-Aroma schwebte in Oies Nase – vor dem Fenster ließ eine Windböe die Farben des Gartens wogen – und sein toter Schulfreund Daisy kam ihm in den Sinn.

      Gerade in diesem Augenblick, beim Auftritt der schillernden Persönlichkeit Nussbaums umgeben von Kaffee-Gerüchen, dachte er an Daisy, den sie in den letzten Schneewehen des Winters auf dem Waldfriedhof am Olympiastadion zu Grabe getragen hatten.

      Sein Freund hatte sie damals, vor dem Mauerbau, in die so andere Glitzerwelt des Westens eingeführt, die gleich am S-Bahnhof Gesundbrunnen begann, da wo Hertha BSC an der Plumpe zu Hause war, und sie die amtierenden Radio-Fußballgötter in den Schaukästen am Stadion bewundern konnten.

      Dieser Geruch der Kaffee-Röstereien seiner Kindheit war es wohl, der ihn jetzt an Daisy erinnerte, denn den hatte er zum ersten Mal in diesem messingpolierten Kaffee-Geschäft am S-Bahnhof wahrgenommen, in dem sich Daisy, wuselnd wie ein Pfadfinder, auskannte und in dem immer mal bunte Kaugummi oder Sahne-Bonbons geschnorrt werden konnten.

      Der so anders duftende Leuchtreklame-Westen Berlins, der an jeder Ecke nach Südfrüchten, Geräuchertem, Bratwurst und Parfüm roch, hatte bei ihm eine sinnliche Spur bis in die Gegenwart hinterlassen, die sich mit lustvollen Bildern der Kindheit verband, denn selbst den aromatischen Abgasen der schicken, chromblitzenden amerikanischen Straßenkreutzer schnüffelten sie damals nach, wie junge Hunde. Bis ins Grenz-Kino – für zwanzig Pfennig Ost auf Schülerausweis – wo die neuesten Micky-Mouse-Filme und Western liefen, in denen das Gute noch klar auf die Stirn der Helden geschrieben war.

      Wenn sie dann zurück nach Blankenburg kamen, roch der Osten umso fader, war das Licht grauer, waren die Farben umso blasser, – stank das Russenbenzin der staubigen Lastauto-Kolonnen wie Rizinus-Medizin.

      Warum das so war und wie sehr ihr Leben von diesen Unterschieden geprägt sein würde, konnte sie als Kinder noch nicht erahnen.

      Wie zufällig und wundersam kam Oie das Schicksal jetzt vor. Wie Brüder in den Verhältnissen der Nachkriegszeit des Ostens aufgewachsen, – dann Daisy am Krebs der Teilung zerbrochen. Als Kinder – wie Latsch und Doppel-Bommel, die verwegenen Drei – von der Fantasie und Abenteuerlust ihrer Bücher getrieben.

      Im Winter mit Schlitten auf schneebedeckten Feldern, mit Schiffs-Zwieback als Proviant, auf dem Weg zum Nordpol – jedenfalls solange bis vom Kirchturm die Glocke zum Abendbrot rief. Im Sommer auf dem Floß ihren Amazonas runter, unter den Lianen der Weiden, bedroht von Piranhas, die sich als Stichlinge tarnten, bis zum Sperr-Wehr des Panke-Flüsschens. Sie waren in eine Zeitenwende hinein geboren worden, als das Innere Berlins noch voller Trümmer war – draußen aber, in der Natur, ihr Paradies.

      Daisys Vater, als Werkmeister in West-Berlin tätig; Oie’s Vater, der Gärtner, ein Gemüse-Lieferant für den Sau-Magen Berlins – die alten feucht-dunklen Markthallen am zerstörten Alexanderplatz.

      Dann, im Sommer des Mauerbaues, als die Freunde gerade beschlossen hatten, den Einstieg in den verlockenden Westen zu wagen und mit ihren mäßigen Fußball-Talenten bei Hertha BSC vorzuspielen, kam ein Angebot, das sie nicht ausschlagen konnten. Ein kostenloses, mehrwöchiges Ferienlager im Wald, am weit entfernten Plauer-See, in Groß-Zelten, auf Strohsäcken, deren abenteuerliche Gerüche bei Oie noch heute für den Umbruch im letzten August ihrer Kindheit standen.

      Der fand derweil zu Hause statt und dabei konnten Kinder nur im Wege sein – denn West-Berlin wurde, mit großem Militär-Gerassel, durch die Mauer abgeriegelt.

      Daisys Vater, der seinen Betrieb nicht mehr erreichen konnte, verlor die Arbeit und fiel in Verzweiflung. Er stand bald unter argwöhnischer Beobachtung und saß dann, für mehrere Jahre – wegen Beihilfe und Vorbereitung zur Republikflucht – im Zuchthaus Rummelsburg.

      Sein Freund ließ sich diese Qual-Jahre äußerlich nicht anmerken, aber irgendwie, war Oie sich jetzt sicher, hatte da der Krebs, der ihn fünfzig Jahre später besiegen sollte, seine Krallen angesetzt.

      Wie waren sie über die Zeit, die Verhältnisse und – wie jetzt – über die Düfte verbunden, und wie verschieden war es ihnen gegeben, damit umzugehen. Der eine, redlich bemüht, fleißig lernend und arbeitend, aber immer mit Zorn auf das System, das ungerechte Schicksal seiner Familie und die ihn bedrückenden Verhältnisse, – dann nur noch mit dem einen Wunsch, die Ausreise ins Gelobte Land, West-Berlin.

      Die anderen, in der Familientradition christlich verwurzelter Bauern unter dem Kuratel des elften preußischen Gebotes: Du sollst da, wo dich der Schöpfer und das Schicksal hingestellt hat, dein Bestes geben!

      Das war, von den Genen eines Wild-Pferdchens bestäubt, für Oie eine ständige, oft lästige, aber immer auch spannende Herausforderung.


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