Operation Ljutsch. Reinhard Otto Kranz
wie Mauer, Flucht, Vertreibung, Wehrdienst-Verweigerung, Reisefreiheit oder Ausreise.
Die damit verbundenen, ja verordneten Verbiegungen der Sprache, hatten es Otto besonders angetan, denn Totschweigen, Umbenennen, Überbügeln und Ausgrenzen waren die Instrumente einer von der täglichen, widerborstigen Realität überforderten Funktionärskaste.
Otto nannte diese ideologisch aufgeladenen Wort-Kapriolen, zwischen idealisierter Theorie und kolateraler Amoralität, im Umgang mit so genannten temporären Entwicklungshindernissen, ironisch Politsprech, Korrektsprech oder Sprachfrevel – denn Wörter unter Kuratel zu stellen, machte ihn wütend.
Nur fehlte ihm die Öffentlichkeit, der Resonanzboden für seineArbeit auf dem Schneidezahn der alten Propaganda-Hyäne, wie er es beschrieb.
Bis Oie, der da ein Depressionspotential befürchtete, Igor Antonow bat seinem Bruder zu vertrauen – den er ja schon von der Ausstellung in Moskau kannte – und ihm eine angemessene Aufgabe zu geben.
Von da an sammelte Otto, als Historiker, Material über die verbalen und faktischen Widerstände gegen die Perestroika in der DDR, die eben immer auch von diesen unsäglichen Sprach-Volten der Parteifürsten und ihrer wiederkäuenden Polit-Mulis begleitet wurden. Den hundert Jahre alten, klassenkämpferischen Spruch Honeckers ‚Den Sozialismus in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf’, konnte er, mit finalem Esels-Geschrei, aufs Lustigste imitieren – da lief er zu Höchstform auf.
Otto sezierte Politsprech aus der Sicht des Historikers und fand in Igor Antonow häufig einen intellektuellen, humorigen Stichwortgeber, soviel bekam Oie am Rande mit. »Glasnost – Transparenz – heißt auch, Ursachen für systembedingte Fehlentwicklungen zu durchschauen, menschliche Verhaltensweisen zu hinterfragen, sowie die finsteren Spielregeln von Desinformation und Propaganda zu entlarven«, betonte Igor in diesem Zusammenhang.
Und zur Veröffentlichung bereit sein – da waren sie sich einig – wenn der Tag kommt, da man offiziell nach den Ursachen und was dem vorausging fragen kann.
Dem diente sein Bruder mit der Leidenschaft und der Akribie eines Wissenschaftlers, bis zu seiner Reise nach Moskau, die er Oie gegenüberals eigene Entscheidung darstellte.
Er wollte, zum Austausch, in den Kreis der sowjetischen Historiker, die sich der gleichen Aufgabe verschrieben hatten – dass er unter einem Decknamen agierte, wie nun aus den Listen Antonows zu ersehen, war damals für Oie nicht erkennbar.
Es klang damals so, als würde Otto länger bleiben, als er mehrmals anrief und zweimal Karten schrieb, aus verschiedenen Städten.
Dann verlor sich seine Spur und so oft er auch nachhakte – es war immer vergebens. Alle Nervenheilanstalten hatten sie nach Männern ohne Identität abfragen lassen, und alle Polizeibehörden nach nicht identifizierbaren Toten. – Nichts!
Selbst die Bemühungen über Igor Antonow und den Militär-Geheimdienst blieben damals ohne Erfolg. Bis sich die Sowjetunion auflöste und niemand mehr zuständig schien für einen vermissten Deutschen.
Teil II: Verbündete
Die Wahrheit entspringt einem Verdacht, der andauert.
10 Samuel Nussbaum – Kryptologe
Am nächsten Morgen, beim Frühstück mit seinem Schwager, war Oie etwas maulfaul. Seine Gedanken kreisten um die Ereignisse der letzten Tage, die er mit niemandem teilen mochte, solange er ratlos war und keine Vorstellung hatte, wie es weitergehen könnte.
Den Bruder hatten sie am Vorabend betrauert, nun musste er sich nach vorn orientieren, wenn er etwas von den Quellen erfahren wollte, die Igor Antonow für ihn aufgelistet hatte.
Nur so, das fühlte er, gab es überhaupt eine Chance bei dem Auftrag, den er jetzt akzeptierte, einen Ansatzpunkt zu finden. Auch drängte es ihn, hinter die Motive seiner Verfolger zu steigen, um ihnen Paroli bieten zu können.
Entschlossen wollte er das Heft des Handelns in die Hand bekommen – wenigstens ein Stück davon.
Igor Antonow hatte mit seinen Unterstreichungen in den Dateien offenbar einen Ariadnefaden gelegt, und wenn das damals aus dem antiken Labyrinth half, warum sollte es hier nicht möglich sein?
Unter den Namen, die Igor mit dem Kürzel AM versehen hatte – und die zu Offizieren, ausgewiesenen Fachleuten, Wissenschaftlern und Künstlern der DDR gehörten – hoben sich die unterstrichenen deutlich ab. Zwei derart Markierte gab es in Berlin.
Einen Oberst a.D. der Militär-Aufklärung mit Klarnamen Herbert Gros, und einen Hauptmann a.D. Samuel Nussbaum, der bei der gleichen Organisation mit Tarn-Namen Rechner gelistet war.
Der Name Nussbaum gefiel ihm, und da der ein nicht so großes Tier war, wie er fand, und irgendwie eine sehr bodenständige Adresse in Berlin-Grünau hatte, beschloss Oie dort anzusetzen, mit seinen Recherchen zu den Fundamenten eines für ihn noch imaginären Denkmals.
Überschaubar ging erst mal um Hintergründe der Deutschland betreffenden Operation Strahl oder – Ljutsch – Lichtstrahl, wenn man es genau nahm. Diese Bezeichnung befand sich als übergeordneter Begriff am Rande der Aufstellung und sprang auch deshalb ins Auge, weil er sich dunkel erinnerte, dieses Schlüsselwort von Antonow mehrfach gehört zu haben, ohne dem damals eine Besondere Bedeutung beizumessen.
Er borgte das Auto seiner Schwester, nahm einen von Ulms Aalen aus dem Kühlschrank und fuhr am Nachmittag hinüber nach Grünau.
Eine grüne Vorstadt-Kolonie mit zweigeschossigen Reihenhäusern aus den Zwanzigerjahren, umstellt von bemerkenswert alten und großen Bäumen. Er fuhr am vermerkten Haus vorbei, hielt hundert Meter dahinter und lief zurück. Die hüfthohe Gartenpforte aus weißem Holz war nur eingeklinkt, wie es bei dem schmalen Vorgartenstreifen dieser Häuser, mit der Klingel neben der Haustür, üblich war.
Noch etwas zögernd schritt er die zwei Stufen hoch und drückte den Messing-Knopf.
Ein altmodischer Ton war zu hören, wie das schnarrende Rasseln eines durchdrehenden Funkrelais, das er aus seiner Militärzeit kannte.
Als sich die Tür öffnete, sah er einen Herrn Ende fünfzig, mittelgroß und schlank. Der schwieg etwas zu lange, musterte ihn mit flackerndem Röntgen-Blick und sagte dann: »Tagschön. – Guten Tag, was wünschen Sie?«
Eigentlich eine typische Frage in Gegenden, in denen jeder zweite Besucher ein Vertreter ist, weil er hinter den altschönen Fassaden, mit tiefen Grundstücken, Geld wittert.
Absichtsvoll offen lächelnd stellte Oie sich vor: »Guten Tag auch. Ich bin Albrecht van Oie, komme von Igor Antonow und suche einen Herrn Samuel Nussbaum – den Rechner.«
Der Hausherr schaute ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Misstrauen an. Die Falten um seine große, schmale Nase und die Augen zuckten dabei merkwürdig nervös. Nach einigen Sekunden Schweigens blickte er ihn scharf an: »Schlecht. – Das ist schlecht. Samuel Nussbaum, das bin ich – aber einen Rechner werden Sie hier nicht finden. – Und wenn Sie Igor Iwanowitsch Antonow aus Moskau meinen, das kann ja schlecht möglich sein, denn der ist seit sechs Jahren tot.«
Oie, der so etwas Ähnliches erwartet hatte, entgegnete mutig: »Das ist richtig, deshalb komme ich ja – und ich habe auch einen Aal mitgebracht – frisch geräuchert von den Feldberger Seen.«
Dabei wedelte er mit dem in weißes Seiden-Papier gewickelten Aal. Herrn Nussbaum, gerade noch sichtlich verspannt, erstaunte diese lebendig-kuriose, verlockende Argumentation. – Er schnupperte den Aal, lockerte sich und bat ihn hinein.
Während Oie im Vorflur seine Jacke ablegte, schaffte Nussbaum das Gastgeschenk dankend in die angrenzende Küche. Dann kam er wieder und bat seinen Gast ins Wohnzimmer: »Platz. – Nehmen Sie bitte Platz, auf dem Sofa, da haben Sie den schönsten Blick in den Garten.«
Und wirklich, als Oie sich gesetzt hatte, entdeckte er eine besondere, zauberhafte