Operation Ljutsch. Reinhard Otto Kranz

Operation Ljutsch - Reinhard Otto Kranz


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sich einen Eis-Kaffee und zwei große Mineralwasser bringen, – zog die Stiefel aus und goss sich das Wasser über die heißen, wundgescheuerten Füße.

      Mit berlinischer Gleichmütigkeit ignorierten die anderen Gäste diese Attitüde eines ungewaschenen, alternden Stadtindianers – sahen sie doch in der Gegend täglich Verrückteres.

      Was tun?

      Seine Schwester Maria und sein Schwager fielen ihm ein – nur zwanzig Minuten mit der S-Bahn – und ein Gastgeschenk hatte er auch: geräucherten Aal.

      Er bezahlte, quälte sich in die Stiefel und brauchte dann einige beherzte Schritte um den aufflammenden Schmerz zu ignorieren.

      Unter der Brücke durch schwenkte er gerade in die Gasse zwischen Kaufhaus und Viadukt zum Bahnhofs-Eingang, da erhob sich ein leiser Klang wie ein fernes, weinendes Horn im Sturm, – dem Seefahrer den sicheren Hafen weisend.

      Es war eine Harmonika, die aus dem Menschenstrom herauf klang und Kalinka spielte, wie einen Blues. Im Näherkommen sah er rechter Hand vor der gelbroten Backsteinmauer, einen Musiker hocken, den die Passanten umfluteten wie eine Buhne im Strom. Den antrabenden Oie in seinem exotischen Aufzug wahrnehmend, sang der alte, weißhaarige Musikant aus voller Kehle, – Kalinka – kalinka – kalinka moja! W sadu jagoda malinka, malinka mojaaaa – wie wenn er Oie erwartet hätte.

      Seltsam berührt, empfand er es in dem Augenblick wie einen Gruß von Igor Antonow, aus seinem himmlischen Parallel-Universum – und wie eine Mut machende Bestätigung seines Entschlusses, dessen kryptisches Vermächtnis nun anzunehmen.

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      Aus dem Menschstrom ausbrechend, verharrte er beim Harmonikaspieler, fingerte dann verträumt einen Fünfeuroschein aus der Weste und legte ihn in den rot-samten ausgeschlagenen Harmonika-Koffer.

      Der tiefe, dankbare Blick aus wasserblauen Augen und ein feines Nicken waren wie eine erneute Bestätigung, und wie ein Augenaufschlag des Freundes im Jenseits.

      Dem folgte – als wolle Igor ihm Beine machen – ein abrupter Tempowechsel vom Blues in den Kasatschok: Kalinka–kalinka–kalinka moja – der den vorbeieilenden Passanten ein Lächeln in die Gesichter zauberte und – als musikalischer Marschbefehl – bei Oie wie eine Injektion Adrenalin wirkte.

      Er spannte die alten Knochen, ruckte an, zwinkerte dem Musikanten dankbar zu, und stieg auf zur S-Bahn.

      Als er bei seiner Schwester auftauchte, hatte er sich gefangen. Sie war noch auf der Arbeit, aber sein Schwager Rudolf begrüßte ihn und staunte: »Wat denn, angeln tuste ooch?«, mit dem typischen Berliner Slang, den man abließ, wenn man unter Freunden war.

      Er überreichte einen Aal und bat um ein Quartier – weil er Ärger habe und nicht nach Hause könne – so beschrieb er es.

      Rudolph verstand ihn offenbar, fragte nicht weiter und bat ihn herein. Oie borgte sich Sandalen und frische Sachen, stieg unter die Dusche und war ein neuer Mensch.

      Dann setzten sie sich bei einer Flasche Bier unter die Weinpergola, bis seine Schwester eintraf.

      Rudolph sprang auf und ging in die Küche, das Abendbrot zuzubereiten.

      Die Schwester war mehr als erstaunt über den überraschenden Besuch und da Albrecht einige Tage bleiben wollte, hatten sie gefühlt alle Zeit der Welt, tratschten über die letzten Ereignisse in der Familie, ohne dass Oie die Nachricht über den toten Bruder, die ihm die ganze Zeit im Nacken saß, anzusprechen vermochte.

      Als sie dann aber am Abend in der Stube zusammensaßen, Wein tranken und alles besprochen war, fasste er sich ein Herz: »Maria, ich muss dir was Schlimmes sagen: Vor ein paar Tagen habe ich erfahren, dass Otto im Jahr neunundachtzig in Russland umgekommen ist.«

      Die Schwester wandte sich ihm wie vom Blitz getroffen entgeistert zu, schwieg mit verkrampftem Mund wurde bleich und brach in Tränen aus. Nach einer Weile fassungslosen Schluchzens sagte sie: »Ich habe es nie glauben wollen, hatte immer einen Rest Hoffnung, dass er heimkehrt, irgendwie.

      Wenn du das jetzt sagst, ist es, als ob alles gerade geschehen wäre, – woher weißt du es?«, fragte sie mit leidvoll-erstarrtem Gesicht.

      Albrecht nahm sie in den Arm und auch ihm kamen die Tränen: »Ein alter Freund aus Russland hat es mir vor seinem Tode mitgeteilt, aber wo und wie wusste er auch nicht. Nur eine Person, die mir mehr sagen könnte, hat er aufgeschrieben. Die lebt in Russland.«

      Seine Schwester löste sich und suchte die Beherrschung: »Ich kannes nicht begreifen, so ein kluger und guter Mensch, wer bringt so jemanden um?«

      »Umbringen? – Ich weiß nicht«, versuchte Oie sie zu trösten.

      »Es ist bisher nur eine Information aus einer für mich seriösen Quelle, dasser tot ist. Deshalb muss ich hin, um mehr zu erfahren.«

      »Kann das nicht jemand anders tun? Ich möchte dich nicht auch noch verlieren. Mit soviel Liebe habe ich euch begleitet – bis ihr mir über den Kopf gewachsen seid. Trotz der ganzen Jahre, seit er verschwunden ist, ist es immer noch schrecklich. Wenn ich dich sehe, denke ich manchmal es ist Otto, oder er kommt wenigstens gleich rein, mit einem lustigen Spruch – und wir können wieder zusammensein.

      Ihr wart ja wie Abziehbilder, nur im Temperament so verschieden. Weißt du, wie oft ich uns nachts in meinen Träumen, in der Sonne spielend, im Garten sehe? Oder beim Füttern unserer Kälbchen, Katzen und Kaninchen. Es ist jedes Mal herzzerreißend, wenn ich aufwache. Dann brauche ich lange, um mich zu fassen und den Traum Beiseite zu schieben.

      Die ersten Jahre, seit er vermisst ist, habe ich in meinen Träumen ganze Bäche von Tränen geweint. Schöne Träume und Tränen aber nützen ja nichts, wenn das Erwachen so bitter ist. Nur weiß ich nach zwanzig Jahren immer schon vor dem Aufwachen, dass es nur einTraum ist – das macht es aber nicht einfacher.«

      Tief ergriffen durch die Nachricht von Ottos Tod sprachen sie noch lange über ihre Kindheit auf dem Bauernhof ihrer Eltern und gingen dann zur Ruhe.

      In dieser Nacht lag Oie lange wach. Seine Schwester hatte dicht am Wasser gebaut, das war ansteckend und das hatte sie von ihrer Mutter. Auch er hatte lange nicht mehr soviel Tränen vergossen. Wie aber konnte er ihr und sich helfen? – Wie konnte es weitergehen?

      Wie kam er an Informationen, was mit Otto geschehen war – und warum?

      Im Halbschlaf umschwebten ihn schöne Bilder. Otto, der freundliche Schöngeist, der als studierter Historiker soviel wusste und Albrechts Kindern der liebste Onkel war. Voller Fantasie, verspielt und ein Erzähler vor dem Herrn, hingen sie an ihm, sobald er auftauchte.

      Otto selbst hatte noch keine Familie, weil die passende Prinzessin fehlte, wie er immer sagte, um die Neugier der Kinder zu stillen. Umso mehr kümmerte er sich um Oies Kinder, wenn er abends Geschichten erzählte – Geschichten aus dem Wald, wie er es märchenhaft nannte.

      Dabei konnten sich die Kinder immer die beteiligten Helden wünschen und Otto improvisierte. Einen Abend mit Elch, Eichhörnchen, Biber und Fuchs, – und einen anderen Abend mit der Gans, dem Bär oder Maulwurf, der Katze oder dem Frosch.

      Das waren köstliche Momente damals, und jeder Abend war anders, voll von Abenteuern, Sprachwitz und Fantasie, an die sich seine Kinder noch heute gern erinnerten.

      So war Otto – und als Historiker am Museum in Berlin unterfordert. »Zu viele Tabus im Gefängnis der Wörter«, sagte er immer und schrieb nebenbei, nach dem Vorbild Victor Klemperers, an der Sprache des Vierten Reiches – der DDR – wie er ironisch zu verstehen gab, wenn man ihn fragte.

      Partei-Chinesisch nannte das damals der Volksmund auf diesem rasant wachsenden Friedhof der Utopien. Diese agitatorische Wort-Mischung aus ideologisch zentrierter Propaganda rund um den Klassenkampf, die Sozialistische Menschen-Gemeinschaft, die Planerfüllung, den Bruderbund mit der Sowjetunion, den proletarischen Internationalismus – den Klassenfeind und die Imperialistische Bedrohung durch den Westen.

      Ernteschlacht


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