Sinja und der siebenfache Sonnenkreis. Andreas Milanowski

Sinja und der siebenfache Sonnenkreis - Andreas Milanowski


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den Raum, das in der Tat die Form eines Spiegels hatte. Die Spiegelfläche kräuselte sich wie ein kleiner See bei Windstärke fünf. Sinja besah die Oberfläche des Spiegels, versuchte, ihr Gesicht darin zu erkennen, doch sie sah nur die Umrisse einer traumhaften Landschaft. Sie sah, auf der anderen Seite des Spiegels das Land Dorémisien.

      „Heh! Warum kann ich es diesmal sehen? Letztes Mal konnte ich das nicht!“

      „Weil du schon dort warst. Du siehst deine Erinnerung in dem Spiegelbild!“

      „Ich hatte schon fast vergessen, wie schön es ist. Lass´ uns schnell gehen!“ Ohne Vorwarnung nahm Sinja einen kurzen Anlauf und sprang kopfüber in den Spiegel hinein. Emelda wollte ihr noch etwas zurufen, hüpfte dann aber einfach hinterher. Der Spiegel schloss sich hinter den beiden mit einem gurgelnden Geräusch.

      10 Engil

      Rumms! Für einen Moment konnte Sinja nichts sehen. Sie war in einer Staubwolke verschwunden.

      „Oh!“, hörte sie Emelda hinter sich, „ich wollte dich noch warnen, aber…“

      „Au! Ah! Danke! Das kommt etwas zu spät“, stöhnte Sinja und hielt sich den Bauch und die Hände. Sie strich mit dem Unterarm ihre langen, blonden Haare aus dem Gesicht und entfernte, nachdem sie wieder sehen konnte, einige kleine Blätter und etwas Dreck von ihrer Kleidung.

      „Wusstest du denn, wo wir landen würden?“

      „Ja, klar! Normalerweise landest du an dem Ort, an dem du gestartet bist, es sei denn, du wählst gezielt etwas anderes. Ich wollte dir noch etwas hinterherrufen, aber du hattest es auf einmal so eilig!“

      „Ich dachte, es gibt wieder eine Abfahrt durch den Tunnel wie beim letzten Mal. War wohl nix!“

      Sinja blickte nach oben und sah Ben Dors riesige Blätter über sich.

      „Wahnsinn! Bin ich geschrumpft?“

      „Nein, bist du nicht“, sagte Emelda, „die Dinger sind so groß!“

      „Sinja, du bist hier? Ich kann dich hören!“ rief eine junge, männliche Stimme.

      Sinja konnte den Rufer nicht ausmachen, war aber sicher, seine Stimme zu kennen.

      „Hey, wenn das nicht Sinja ist, die Geigerin, die Retterin unserer Zauberwelt!“, rief der bekannte Unbekannte im Näherkommen und schob raschelnd einige der Farnblätter beiseite.

      „…und wenn das nicht Ferendiano ist, das F, der fröhlichste Elf unter den Sonnen Dorémisiens?“, lachte Sinja, nachdem sie gesehen hatte, wem die Stimme gehörte „und sogar oben ohne, extra für mich?“

      „Der Vogelfänger bin ich ja, stets lustig heissa hopsasa!“, sang Ferendiano als Antwort, spielte Papagenos Vogelstimme auf seiner Querflöte und tanzte dazu. Dann legte er das Instrument beiseite. Es folgte eine kurze Umarmung.

      „Witzig, dass du genau dieses Stück spielst. Gestern Abend habe ich die Oper noch gehört. Ich bin also tatsächlich in Adagio gelandet?“

      „Ja! Du bist in Adagio. Genauer gesagt, in Engil. Das ist unsere Heimat. Aber was ist mit deinen Händen passiert?“

      „Ich war wohl etwas zu stürmisch und bin da vorne kopfüber in den Dreck geknallt!“

      „Hmm! Lass´ mal sehen. “ Er besah Sinjas Handflächen. Sie waren schmutzig und bluteten. Ferendiano dachte einen Moment nach und zauberte dann aus dem Gürtel, den er um die Hose trug, das violette Blatt einer Pflanze hervor.

      „Singspann!“, sagte er und hielt Sinja das Blatt vor die Nase, „gut bei Blutungen und leichten Verletzungen!“ Er nahm Sinjas Hände und strich mit dem Blatt sanft über die Wunden. Dazu sang er leise eine langsame, traurige Melodie. Sinja wunderte sich über die Höhe der Töne, die aus diesem männlichen Körper kamen. Die Risse und Abschürfungen in ihren Handflächen begannen, sich zu schließen. Das Brennen ließ nach.

      „Könnt ihr das alle, das Gesundsingen?“

      „Ja! Am besten beherrscht es Amandra. Sie hat ihre erste Lehrzeit als Heilerin bei Analuna absolviert. Man sagt, sie könne Tote lebendig singen. Ich halte das für etwas übertrieben und gesehen habe ich es auch noch nicht. Aber ja, vielleicht ist es möglich. Gesundsingen können wir Elfen alle! Die meisten allerdings, die, die keine Ausbildung als Heiler machen, können nur die einfachen Lieder für normale Verletzungen. Wie geht’s deinen Händen?“

      „Vielen Dank! Es brennt noch ein wenig, aber es ist viel besser. Die Schürfwunden sind zu und es hat aufgehört, zu bluten“, sagte Sinja.

      „Was bringt dich eigentlich zu uns?“, fragte Ferendiano.

      „Emeldas Elfenmagie!“

      „Ja, schon klar“, entgegnete der Elf, „ich meine, warum bist du hier?“

      „Um ehrlich zu sein: ich habe nicht den Hauch einer Ahnung. Ich bekam eine Glissandonachricht. Auf dem Zettel standen nur drei Buchstaben: E, G, A. Ich habe das E gespielt, Emelda kam und jetzt sind wir hier. Eigentlich dachte ich, dass ihr mir sagt, was ich hier soll!“

      „Tut mir leid! Wir wissen es auch nicht! Die Dinge laufen zurzeit ein wenig an Adagio vorbei und vor allem an uns hier in Engil. In Fasolanda macht sich niemand mehr die Mühe, uns über irgendetwas zu informieren.“

      „Hm! Sieht aus wie ein Fall für Sherlock Wagemut, oder?“

      „Ich weiß, du löst gerne Rätsel, aber ich schlage vor, wir warten, bis Cichianon und Doriando aus Ildindor zurück sind. Ich hoffe, wir sind dann etwas schlauer. Und bis es soweit ist, nehme ich an, dass du nichts dagegen hast, erstmal ein kleines Frühstückchen einzunehmen. Das hatten wir nämlich gerade vor. Ich warte nur noch auf Gamanziel. Die wollte Amandra wecken und dann rüber kommen.“

      „Heissa hopsasa! So kenne ich dich, Ferendiano! Immer etwas übrig für die leiblichen Genüsse! Was gibt’s denn? Ich hab´ natürlich noch nicht gefrühstückt. Bin ja doch etwas überstürzt aufgebrochen, hihi!“ Sie schaute zu Emelda hinüber und grinste über beide Backen.

      „Überstürzt ist exakt das richtige Wort!“, lachte die Elfe.

      „Ach!“, rief Sinja dann fröhlich aus, „schön wieder hier zu sein. Bei uns ist jetzt gerade Winter. Richtig fieses Mistwetter. Kalt. Alle Leute haben Schnupfen oder Husten oder beides. Bei euch ist es schön warm. Außerdem habe ich das Gefühl, dass noch einige Abenteuer auf uns warten!“

      „Ehrlich gesagt, ist das die Art von Aufregung, auf die ich gut und gerne verzichten kann“, sagte Ferendiano, „du weißt bestimmt noch, dass ich es lieber etwas entspannter habe.“

      „Ja, kann mich dunkel erinnern!“, antwortete Sinja und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Dann lass uns zum angenehmen Teil kommen. Wo ist das Frühstückchen, von dem du gesprochen hast?“

      „Aha“, rief Ferendiano, spannte seine Muskeln und nickte Sinja und Emelda kurz zu. „Dann kommt mal mit!“

      11 (10/2)

      Geschickt sprang er über einige Wurzeln und größere Steine, die im Weg lagen, lief ein Stück in den Wald hinein. Er wartete, bis Emelda und Sinja zu ihm aufgeschlossen hatten, lief noch einige Meter weiter und stoppte dann vor einem besonders dicken, alten Baum. Der hatte einen knorrigen, knochigen Stamm und Sinja schätzte, dass bestimmt drei ausgewachsene Männer notwendig waren, um diesen Stamm einmal zu umfassen. Ferendiano stupste einen besonders dicken Wurzelstrang kurz mit der großen Zehe an. Es dauerte einige Sekunden, ehe sich aus dem Wurzelstrang langsam eine Art Treppenstufe formte. Der Elf setzte seinen Fuß auf die Stufe und schon zeigte sich einen halben Schritt höher die nächste. Ferendiano lief vorneweg, Sinja und Emelda hinterher, immer weiter um den Baum herum, bis sie auf halber Höhe des Stammes an eine Öffnung gerieten.

      „Wenn ich die Damen dann bitten dürfte, einzutreten!“ Ferendiano verbeugte sich und


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