Sinja und der siebenfache Sonnenkreis. Andreas Milanowski

Sinja und der siebenfache Sonnenkreis - Andreas Milanowski


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Baum betrat, den Ferendiano ihnen als Engil vorgestellt hatte, da blieb ihr vor Staunen die Luft weg. Von einem kleinen Vorraum aus führten drei weit geschwungene Treppen aus hellem Holz auf verschiedene Ebenen hinauf. Die Treppenstufen schienen in der Luft zu schweben und sich immer gerade dorthin zu bewegen, wo jemand seinen Fuß hinsetzen wollte. Jedes Mal, wenn einer der drei eine Treppenstufe berührte, erklang ein sehr leiser, feiner, hölzerner Ton, so, als würde jemand ein Xylophon anschlagen. Die Ebenen waren angelegt wie Emporen, die sich nach hinten verjüngten und jeweils in einen weiteren Raum führten. Diese Räume hatten zwar großzügige Durchgänge ohne Türen, waren jedoch von unten nicht einzusehen.

      „Hier herauf bitte!“, sagte Ferendiano und wies Sinja den Weg zur mittleren Treppe, die sich in einem Halbbogen nach oben wand und auf der mittleren Empore endete. Sinja schaute sich staunend um und stieg die Treppe hinauf. Emelda folgte. Sie schlüpften durch eine weitere Öffnung hindurch und standen plötzlich auf einer ausladenden Sonnenterrasse. Wie in all den anderen Räumen gab es auch hier nicht einen einzigen rechten Winkel. Alles war rund, abgerundet, sechseckig, acht- oder vieleckig, aber ohne eine harte Kante, an der man sich schmerzhaft hätte stoßen können. Die Terrasse lag zur Lichtung hin, war von großen Palmwedeln beschattet, jedoch trotzdem hell und warm. Fünf hölzerne Sessel standen um einen Tisch herum und waren mit gemütlich weichen Kissen bestückt. Der Tisch stand zum Bersten voll und bog sich unter den leckersten Speisen. Früchte, Salate, Brote, Cremes, Obst, Gemüse, Limonaden, Tees, Karaffen voller Quellwasser und Fruchtsäfte. Von allem war mehr als genug vorhanden und hätte sicherlich für zehn oder fünfzehn Esser ausgereicht.

      „Das ist also dein kleines Frühstückchen, Ferendiano?“, fragte Sinja mit einem Schmunzeln auf den Lippen. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen.

      „Na ja! Ich mag es einfach nicht, wenn Essen knapp wird. Außerdem solltest du dich nicht zu früh freuen! Es kommen ja noch zwei Hungrige!“

      „Oh, dann wird es natürlich eng!“, rief Sinja und lachte schallend. „Wem gehört das alles hier?“

      „Was ist das jetzt für eine Frage?“

      „Na, ich will wissen, wer der Besitzer dieses Luxusappartements ist!“

      „Besitzer?“, fragte Ferendiano, „es gibt keinen. Ich weiß! In eurer seltsamen Welt muss immer alles irgendjemandem gehören, sonst geht es euch nicht gut. Manchmal glaube ich, dass Besitz für euch das Allerwichtigste im Leben ist. Das ist bei uns anders. Wir leben hier in Adagio zusammen mit der Natur, den Tieren, mit unseren Klängen, unseren Tönen und vor allem mit den Bäumen. Sie sind unsere Freunde. Wir behandeln sie gut, außer Emelda, die ihnen ab und zu mal einen Pfeil in die Rinde schießt.“ Ferendiano grinste schelmisch zu Emelda hinüber. „Dafür lassen sie uns bei sich wohnen. Wir haben einen Raum gebraucht, in dem wir uns aufhalten können. Ich habe Engil darum gebeten und er stellt uns diesen Raum zur Verfügung. Wenn du morgen wiederkommst, wird es dies alles so nicht mehr geben. Engil wird dann gewachsen sein und wir brauchen vielleicht etwas ganz anderes, als diesen Raum und diese Terrasse. Heute ist dies gut, morgen etwas Anderes. Engil wird es wissen und er wird uns geben, was wir dann brauchen. Deswegen haben wir auch den ganzen Ort, an dem wir wohnen, nach ihm benannt.“

      „Krass!“, entfuhr es Sinja.

      „Ja! Krass!“, antwortete Emelda. „Du musst dir nur klarmachen, dass alle Dinge, die auf der Welt existieren, eine Seele haben. Der kleinste Grashalm, der winzigste Käfer. Wenn man das berücksichtigt, kann man von den lebendigen Dingen in der Natur viel Hilfe erfahren. Wenn man diese Seelen pflegt und ihnen eine gewisse Fürsorge entgegenbringt, dann bekommt man viel zurück...sehr viel!“

      „Dann bekommst du auch mal so eine hübsche Sonnenterrasse zur Verfügung gestellt. Nett, nicht?“, fragte Ferendiano.

      „Juhu! Juhu!“, schallte es in diesem Moment aus dem Parterre, “wenn das da oben nicht meine Freundin Sinja ist, die Drachentöterin!“

      „Ach ja, was ich alles bin!“, rief Sinja, der das peinlich war. Doch im nächsten Moment war es vergessen, denn sie hatte die Ruferin erkannt.

      „Gamanziel!“, sprudelte es aus ihr heraus. Sie rannte zurück auf die Empore, nahm drei Treppenstufen auf einmal, rutschte die letzten auf dem Hosenboden hinunter und fiel der Elfe um den Hals, die den Baum Engil gerade durch dessen Eingangspforte betreten hatte.

      „Hey, schön, dich zu sehen! Aber sag´ mal, warum hast du nicht uns alle drei gerufen? Hattest du nicht eine Nachricht aus Fasolanda bekommen, die dich aufforderte, E G A zu spielen?“

      „Ja, das hatte ich!“, antwortete Sinja, „es gab Schwierigkeiten. Wenn ich alle drei Töne gespielt hätte, wäre ich ziemlich sicher entdeckt worden und dann wäre die ganze Sache gescheitert, bevor sie begonnen hat. Aber es ist ja auch so gut gelaufen. Ich freue mich jedenfalls tierisch, euch alle wiederzusehen!“

      „Ja, es hat geklappt“, erwiderte Gamanziel, „aber es hätte auch schiefgehen können und dann wäre es besser gewesen, zu dritt zu sein oder zu viert. Du weißt nie, was alles passiert. Die Zeiten sind alles andere als sicher. Der Unerhörte soll mittlerweile sogar in der Menschenwelt unterwegs sein!“

      „Was, der Unerhörte wagt sich in die Menschenwelt? Woher weißt du das?“

      „Gerüchte! Und ein anderes Gerücht besagt, dass es nicht das erste Mal gewesen ist! Er soll früher schon Versuche unternommen haben, die Dinge auf eurer Seite zu manipulieren.“

      „Das ist ja spannend! Weißt du, worum es dabei ging?“

      „Leider nichts Genaues. Angeblich soll das nach eurer Zeitrechnung im späten achtzehnten Jahrhundert gewesen sein.“ Gamanziel dachte einen Moment angestrengt nach. Dann platzte es aus ihr heraus: „Mozart! Es ging um Mozart!“

      „So ein Zufall!“, entgegnete Sinja, „gerade gestern habe ich mit meiner Freundin Pauline die `Zauberflöte´ gesehen. Aber was hat der Unerhörte damit zu tun? Wie soll denn der in unser achtzehntes Jahrhundert gekommen sein?“

      „Das wissen wir auch nicht!“

      „Lassen wir das mal!“, sagte Sinja. „Wo wir es gerade von Gerüchten hatten – ein Gerücht besagt, dass ihr Elfenmädels früher mal zu dritt gewesen seid. Ich sehe aber nur zwei. Wo ist die Dritte?“

      „Oh, dass wir zu dritt waren, das ist, wie du weißt, kein Gerücht, sondern eine Tatsache. Amandra kommt dort hinten und ich glaube, es ist besser, wenn du sie auf dem Weg zum Frühstück nicht allzu lange aufhältst!“ Gamanziel kicherte. „Du kennst sie ja!“

      „Oh ja! Miss Morgenmuffel! Müde und hungrig! Da machen wir mal lieber den Weg frei!“

      In diesem Moment hörten sie aus dem Vorraum den hölzernen Ton eines Xylophons. Und noch einen…und einen dritten. A – H – CIS…Die ersten drei Töne der A-Dur-Tonleiter? Das konnte nur eines bedeuten: Amandra, das A hatte die Treppe erreicht und war auf dem Weg nach oben. D – E – FIS…zwei Sekunden Verschnaufen…GIS – A…drei Sekunden Pause…H – CIS…D…Pause….endlich schob sich, unendlich langsam, ein Büschel schwarze Haare durch die Türöffnung. Die Mähne stand in alle Himmelsrichtungen von dem dazugehörigen Kopf ab. Zwei spitze Ohren lugten aus dem dunklen Knäuel heraus. Ein Gesicht war nicht zu erkennen.

      „Musstet ihr das Frühstück auf der Sonnenterrasse veranstalten?“, brummte das Haarbüschel,

      „etwas weniger hell hätt´s doch auch getan, oder?“

      „Ah! Das A! Hallo Amandra!“, begrüßte Ferendiano den Ankömmling, „schön dich zu sehen!“

      „Spar´ dir deine Kommentare!“

      „Hi Mandy!“, grüßte Emelda.

      „Ja, schon gut! Was gibt’s zu essen?“

      „Schau dich um!“, empfahl Ferendiano.

      „Schwierig, so früh am Sonnentanz! Kann kaum meine eigenen Füße sehen!“

      „Die Sonnen stehen schon seit zwei Takten am Himmel!“, kommentierte Emelda verständnislos.


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