Sinja und der siebenfache Sonnenkreis. Andreas Milanowski

Sinja und der siebenfache Sonnenkreis - Andreas Milanowski


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ich ja…

      Pauline und Sinja standen mittlerweile an der Haltestelle und warteten auf ihre Bahn. `7 Minuten´ lautete die Anzeige auf dem Monitor der Verkehrsbetriebe. Eine einzige Straßenlaterne beleuchtete das Wartehäuschen spärlich.

      „Hoffentlich kommt das Ding nicht wieder zu spät! Ich hab´ keine Lust, hier festzufrieren!“

      „Ja, es ist echt schweinekalt.“

      „Sag mal, wie hat dir die `Zauberflöte´ eigentlich gefallen? Kannst du dich noch an die Version erinnern, die wir vor ein paar Jahren gesehen haben, nur mit Klavier und Gesang? Kein Vergleich, oder?“

      „Na ja, das war halt damals für Kinder. Ich fand´s toll, mal die ganze Oper zu sehen, so mit vollem Orchester und so. Drei Stunden ist natürlich verdammt lang, aber ich finde, es hat sich gelohnt.“

      „Meinst du, wir sollten nächsten Monat wieder hingehen? Wagner soll ziemlich schwierig sein.“

      „Ja, kann sein, aber das werden wir ja wohl auf uns nehmen, alleine schon wegen der Dicken. Die wird garantiert auch wieder da sein. Sie hat ja das Ticket von ihrem Seligen geerbt.“ Pauline äffte die Abendkleidbesitzerin nach und grinste breit.

      „Mein Gott, war die bescheuert! Die hat mich vielleicht genervt!“

      „Ich hab´s gemerkt. Gut, dass wir dann rausgegangen sind.“ Pauline stutzte in demselben Augenblick, in dem die Worte ihre Lippen verließen. Sie hatte etwas bemerkt. Etwas, das mit ihrem Gespräch nichts zu tun hatte. Ein nervöses Flattern. Eine Bewegung, die hier nicht hingehörte. War es das, was Sinja meinte?

      „Sag mal, was hast du da vorhin gesehen, als wir aus der Oper kamen?“

      „Du meinst, den Glissando?“

      „DER Glissando!“ Pauline schüttelte den Kopf. Sie konnte sich immer noch nicht damit anfreunden, dass ein Glissando etwas Lebendiges sein sollte. Ein Tier. „So ein kleines, braunes Vögelchen, sagst du?“

      „Ja!“ Sinjas Augen wurden größer. Mit einem Satz hatte Pauline ihre volle Aufmerksamkeit gewonnen.

      „Sowas, wie das da oben, was die ganze Zeit vor dem Scheinwerfer hin- und her saust? Das sieht so aus, als wolle es unbedingt von uns bemerkt werden.“

      „Wie? Wo? Was hast du gesehen?“

      Pauline zeigte auf ein kleines Wesen, das exakt so aussah, wie Sinja es beschrieben hatte. Es flatterte aufgeregt vor der funzeligen Laterne auf und ab und vollführte alle möglichen und unmöglichen Kapriolen, um die Aufmerksamkeit der beiden Mädchen auf sich zu ziehen. Sinja schaute zu der Laterne hinauf. Das Licht blendete sie. Trotzdem konnte sie den Vogel erkennen.

      „Das ist…, das ist…!“, stammelte sie. „Du hast ihn entdeckt!“

      „Ist er das wirklich?“, wollte Pauline wissen.

      „Ja! Das ist ein Glissando!“, rief Sinja erfreut. Dann zuckte sie zusammen, wie von einer plötzlichen Erkenntnis getroffen. „Oh Gott, das heißt, es geht wieder los!“

      „Was geht los?“, fragte Pauline besorgt. „Bist du noch von dieser Welt oder schon wieder woanders?“

      „Aber du hast den Vogel doch selbst entdeckt!“

      „Moooment!“ Pauline hob die Hand wie ein STOP-Schild. „Ich hab´ nur gesagt, dass da oben was flattert. Mehr war nicht. Für mich ist das ein Spatz. Den Rest machst du jetzt schon wieder draus!“

      „Gut!“, sagte Sinja, „dann lass´ uns versuchen, den Vogel einzufangen. Dann werden wir ja sehen, was es ist. Wenn es nur ein verirrtes Spätzchen ist, dann kommt er sowieso nicht. Dann hab´ ich mich geirrt und wir gehen schlafen und träumen was Süßes. In Ordnung?“ Pauline holte tief Luft und blies die Backen auf.

      „Von mir aus! Hast du irgendetwas dabei, womit man einen Vogel anlocken kann? Oh Mann, ich glaub´s ja nicht. Ich komm´ mir wirklich komplett albern vor. Nachts an der Haltestelle rumstehen und Vögel fangen! Hoffentlich sieht uns keiner! Die denken ja, wir haben ´ne Meise.“

      „Hast du den Müsliriegel noch, den wir eingepackt hatten? Glissandos stehen auf sowas. Man muss sie mit irgendwelchen Körnerchen anlocken. Dann kommen sie normalerweise ziemlich schnell ran.“

      „Hier, ich hab´ noch ein paar Krümel von meinem übrig. Das Zeug hat mir eh nicht geschmeckt.“

      „Dafür hast du aber ganz schön viel davon gefuttert!“

      „Na ja, ich hatte Hunger, sonst nix!“

      „Komm, gib mir den Rest!“

      „Ja, hier! Bitte!“ Sinja nahm die Reste des Müsliriegels aus dem Papier, verteilte sie auf ihrer flachen Hand und streckte diese dem Vogel hin.

      „Koooomm! Tschip, tschip, tschip! Komm zu Frauchen!“

      „Zu Frauchen? Mensch, Sinja, das ist kein Hund!“

      „Ich glaube kaum, dass uns der Vogel versteht und irgendwas muss ich ja sagen! Koooomm, putt, putt, putt!“ Das Tier nahm zunächst keine Notiz von Sinjas Bemühungen. Es flatterte weiter vor der Straßenlaterne hin und her und schien sich momentan um die beiden Menschen dort unten nicht im Geringsten zu kümmern. Im Gegenteil. Es schaute in die Ferne und tat so, als ginge es die Szenerie an der Haltestelle überhaupt nichts an.

      „Hmmm, war wohl nix…!“, kommentierte Pauline Sinjas erfolglosen Versuch. „…und da vorne kommt auch schon unsere Bahn!“

      „Ich kann hier jetzt nicht weg!“, sagte Sinja, „ich muss wissen, was es mit dem Vogel auf sich hat!“

      „Aber du siehst doch, dass er nicht kommt! Du hast dich getäuscht!“

      „Nein! Hab´ ich nicht! Ich will das jetzt wissen! Du kannst ja schon einsteigen und fahren. Ich nehme die nächste Bahn!“

      „Spinnst du!“, rief Pauline, weißt du, was ich für einen Ärger bekomme, wenn ich alleine zuhause einlaufe?“

      „Dann lass´ uns die nächste Bahn nehmen. Dann können wir zusammen fahren. Ich muss das jetzt klären, sonst hab´ ich heute keine ruhige Nacht!“

      „Oh, Mann! Du kannst ganz schön nerven! Jedes Mal, wenn ich mit dir unterwegs bin, gibt es hinterher Stress!“ Pauline hielt Sinja drohend ihren Zeigefinger vor die Nase. „Gut, wir gucken uns das jetzt an, aber die nächste Bahn kommt in zehn Minuten und die nehmen wir. Dann sind wir hier weg! Versprochen?“

      „Gut!“ Sinja hielt immer noch die ausgestreckte Hand mit den Resten des Müsliriegels in die Luft. Der Vogel zeigte weiterhin wenig Interesse. Doch plötzlich, ohne erkennbaren Anlass, flog er eine Runde um die Laterne, setzte sich oben auf den Lampenschirm und schaute eine Weile auf Sinja herab. Nach einigen Sekunden stieß er sich ab, flog eine Acht über den Köpfen der Mädchen, landete auf Sinjas Handfläche und pickte gierig nach den Resten des Riegels. Jetzt konnten die beiden Mädchen sehen, was sie vorher nur geahnt hatten. Am rechten Bein des Vogels war ein weißes Röhrchen befestigt.

      „Sinja, du hattest recht! Der Piepmatz hat was am Bein. Ist das von der Vogelwarte?“

      „Willst du mich jetzt veralbern? Ich hab´ dir doch vorhin erklärt, was das ist. Das Tier ist ein Botenvogel aus Dorémisien und in dem Röhrchen befindet sich eine Nachricht.“

      „Toll! Und weiter…!“

      „Das werden wir gleich wissen. Warte mal.“ Sinja nahm den Vogel behutsam in die Hand, versuchte, sein Gefieder möglichst wenig zu berühren, um ihn nicht zu verletzen und entfernte vorsichtig das Röhrchen von seinem Bein. Der Vogel quittierte die Befreiung mit fröhlichem, lauten Pfeifen und Zwitschern.

      „Jetzt bin ich gespannt wie ein Flitzebogen!“, sagte Pauline und starrte auf das weiße Ding in Sinjas Hand. Die ließ den Glissando erst einmal in aller Ruhe die letzten Körner aufpicken und warf ihn dann mit Schwung in die Höhe, so, wie sie es bei ihrem ersten Besuch in Dorémisien bei den Elfen beobachtet hatte. Die Luft kräuselte sich


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