Sinja und der siebenfache Sonnenkreis. Andreas Milanowski

Sinja und der siebenfache Sonnenkreis - Andreas Milanowski


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      6 (5/2)

      Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem weißen Röhrchen zu, dass sie in der Hand hielt. Es war aus leichtem Gips gefertigt und sah aus, als sei es hohl.

      „Los, mach auf!“, drängelte Pauline.

      Sinja besah das Röhrchen von allen Seiten und zerbrach es dann mit zwei Fingern. Heraus fiel ein kleiner, zusammengerollter Zettel, den der Wind sofort einige Meter weit wegblies.

      „Oh, nein!“ Sinja sprang hinter dem Zettel her und versuchte, ihn mit dem Fuß aufzuhalten. Als das nicht klappte, nahm sie Anlauf und trat mit voller Wucht auf das kleine Papierchen. Es klebte an ihrer Schuhsohle fest.

      „Hab dich!“ Etwas umständlich löste sie den Zettel von der Sohle.

      „Hoffentlich war das nicht mit Tinte geschrieben,“ sagte Pauline, „sonst war´s das für deine Nachricht.“ Eilig rollte Sinja den Zettel auseinander und las. Pauline schaute ihr über die Schulter. In krakeliger, alter Handschrift waren lediglich drei Buchstaben auf das schmutzige Stück Papier gekritzelt worden: E G A.

      „Hä? Was soll denn das?“, fragte Pauline verständnislos und verzog das Gesicht, „ich glaube, die haben das L vergessen!“

      „Wieso? Was soll denn ein L da drin?“

      „Na ja, dann heißt es EGAL und geht mich nichts mehr an - oder wirst du daraus schlau? Also mir sagt das gar nichts!“

      „Mir schon“, sagte Sinja und kratzte sich nachdenklich an der Wange, „mir schon.“

      „Das alles ist sehr geheimnisvoll, Sinja. Mir macht das Angst. Ein Vogel aus einer anderen Welt und dann so eine merkwürdige Nachricht!?“

      „Für mich ist das relativ einfach. Diese drei Buchstaben sind die Anfangsbuchstaben von drei Namen. Emelda, Gamanziel, Amandra. Verstehst du? E für Emelda, G für Gamanziel und A wie Amandra. Das sind drei Tonelfen aus Dorémisien.“

      „Tonelfen?“

      „Ja, die Hüterinnen der Töne! Sie reagieren darauf. Aber die Geschichte hatte ich dir doch schon erzählt. Man kann sie rufen, indem man ihre Töne auf eine bestimmte Art und Weise spielt, zum Beispiel E G und A. Dann kommen Emelda, Gamanziel und Amandra. Und dass der Glissando mir den Zettel bringt mit dieser Botschaft drauf, das heißt, dass sie wollen, dass ich Kontakt mit ihnen aufnehme. Hab´ ich dir auch schon gesagt. Es kann nichts anderes bedeuten!“

      „Von wem kommt denn diese Botschaft? Wer schickt dir sowas?“

      „Das weiß ich noch nicht. Wenn es von Königin Myriana wäre, müsste das königliche Siegel drauf sein – ist es aber nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Königin eine solche Botschaft losgeschickt hätte. Das sieht mir eher aus wie etwas, das in aller Eile gekritzelt wurde von….“. Sinja dachte nach. „…von einem älteren Mann.“

      „Wie kommst du darauf?“

      „Es ist eine ausgeschriebene Schrift, also von einem älteren Menschen und es ist eckig und voller Absätze. Es sieht einfach nicht so schön und schwungvoll aus, als wäre es von einer Frau geschrieben.“

      „Also ein älterer Mann“, fasste Pauline noch einmal zusammen, „einer den du kennst?“

      „Nein!“

      „Hatte ich befürchtet. Und was sagt dir das jetzt?“

      „Dass sie Probleme haben – und zwar ernste.“

      „Gibt es andere?“, fragte Pauline und fügte nach einer Pause hinzu: „Und, äh…nur, weil dir irgendein weiß-nicht-wer ein Zettelchen in einem Röhrchen schickt, machst du dich jetzt verrückt?“ Pauline war endgültig und komplett verwirrt.

      „Ja! Am liebsten würde ich sofort loslegen.“

      „Klar! Natürlich! Warum auch nicht?“

      „Aber ich fürchte, heute Abend geht nichts mehr. Ich muss bis morgen früh warten. Dann werde ich versuchen, die Töne auf der Geige zu spielen und die drei werden hoffentlich auftauchen, um mir zu erklären, was das Ganze soll.“

      „Gut! Und dann?“

      „Das kommt drauf an, was sie von mir wollen. Bis jetzt bin ich genauso schlau wie du. Wenn sie in Dorémisien Schwierigkeiten haben, werde ich dorthin reisen müssen. Kommst du mit?“

      „Spinnst du? Natürlich nicht! Mir ist das viel zu viel unwirkliche Wirklichkeit. Ich lese das lieber nachher, schön gemütlich, zuhause auf dem Sofa.“

      „Wer sagt dir, dass ich das aufschreibe?“

      „Das hast du bis jetzt immer getan, oder waren deine Vorlesegeschichten alle erfunden?“

      „Na ja, die meisten schon“, sagte Sinja und lachte.

      7 Dies Bildnis ist bezaubernd schön

      „Ich muss es probieren“, dachte Sinja, „jetzt!“ Sie hatte sich unruhig im Bett hin- und hergeworfen, vollkommen wirres Zeug geträumt und war lange vor dem Wecker wach geworden. An Schultagen klingelte der um sieben Uhr morgens. Heute brauchte sie keinen Wecker. Marie, ihre Schwester schlief noch. Sinja aber war glockenwach. Flugs schlüpfte sie in ihre Hose, streifte sich das Hemd über, das sie gestern Abend eilig über den Bettpfosten geworfen hatte und sprang von ihrem Hochbett herunter. Ihre Mutter war in der Küche und bereitete, wie jeden Morgen, das Frühstück vor. Die Küchentür war geschlossen, um die Mädchen nicht vor der Zeit durch Geschirrgeklapper zu wecken. Sehr leise war Musik zu hören.

      „Oh wie schön!“, dachte Sinja erfreut. „Sie hat das Radio an, dann kann sie mich nicht hören. Das ist meine Chance!“ Sie schlich sich ins Wohnzimmer, drückte vorsichtig die Tür zu, holte ihre Geige aus dem Kasten und zupfte mit dem Finger kurz die Saiten an. Gestern Nachmittag, bevor sie mit Pauline in die Oper gegangen war, hatte sie noch geübt. Zwei, drei kurze Drehungen an den Feinstimmern und alles war in Ordnung. G- D- A- E. Sie nahm ihren Geigenbogen zur Hand und spannte ihn. Schnell schraubte sie die Schulterstütze auf, setzte die Geige auf ihr Schlüsselbein, holte tief Luft und strich mit dem Bogen ganz sachte über die zweite Saite. Erster Finger… E…Der Ton war leise und warm. Sinja dachte an knisterndes Kaminfeuer. Noch einmal strich sie sanft über die Saite. Sie schwang und erzeugte winzig kleine, fein- silbrige Lichtblitze. Sinja erschrak und zuckte kurz zusammen. Dann schüttelte sie den Kopf. „Wann werde ich mich endlich daran gewöhnen?“

      8 (7/2)

      „Ferendiano! Hast du das auch gespürt?“, rief Emelda. Sie hatte ihr Training für eine kurze Pause unterbrochen und Faltram, den dicken, alten Bassbaum von ihren Pfeilen befreit. Der hatte das mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung quittiert. Danach hatte sie es sich im Schatten Ben Dors bequem machen wollen. Ben Dor war ihr Riesenfarn. Er hatte Emelda ein Zuhause gegeben. Ihre Freundin Amandra, die Hüterin des A, brauchte nicht viel, um schlafen zu können. Es musste nur einigermaßen weich und bequem sein. Gamanziel ließ sich am liebsten in die flauschigen Blätter ihres Farns einrollen. Sie liebte das Kitzeln auf ihrer Haut, dass die winzigen, weichen Härchen verursachten, die alle Blätter überzogen. Emelda dagegen konnte mit alledem nichts anfangen. Sie wollte nicht ihre Wachsamkeit dadurch einbüßen, dass sie zu tief einschlief. Daher hatte sie sich aus einigen alten Seilen und einem harten Segeltuch eine Hängematte genäht, sie zwischen Ben Dors Zweige gehängt und verbrachte dort ihre Dunkelzeiten. So war sie jetzt wach, während die Anderen noch schliefen oder dösten, eingerollt in ihre Farnblätter. Jedenfalls war, außer Ferendiano, bislang niemand aufgetaucht. Bis zum Frühstück war also noch etwas Zeit. Die wollte Emelda nutzen, um in Ruhe über einige Dinge nachzudenken. Doch dazu kam sie nicht. Jemand schien etwas dagegen zu haben.

      „Hey! Ferendiano, kannst du mich hören?“

      „Ja! Was ist?“

      „Hast


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