Jenseits von Oberhessen. Carola van Daxx
Linas Eltern. Besonders Mama Siebenborn war ja wild auf Enkelkinder und ließ keine Gelegenheit aus, entsprechende Anspielungen zu machen. Wer weiß, was sie Lina alles ins Ohr drückte, wenn er nicht dabei war? Was häufig vorkam…
Andere bereiteten sich in diesem Lebensabschnitt schon fast auf den Ruhestand vor. Was Jan keineswegs vorhatte, ganz im Gegenteil. Er hatte noch eine ganze Menge auf dem Zettel stehen und wollte seinen so lange vermissten Erfolg noch eine lange Weile in vollen Zügen genießen.
An jenem Januarmorgen ging er etwas zerknirscht und missmutig in seine Malschule. Der erste Tag nach der Weihnachtspause, ein neuer Kurs stand an, den er spontan ins Leben gerufen hatte. Aber nicht nur das: Es standen tatsächlich auch neue Schülerinnen auf der Matte! Frischfleisch für die Kunst, dachte Jan – und verwarf den Gedanken gleich wieder. Diese Damen waren nicht einwandfrei dem herkömmlichen Frischfleisch zuzuordnen, höchstens in Bezug auf ihre noch fehlenden Malfertigkeiten. Er hatte immer Angst, dass er seine heimlichen Assoziationen einmal versehentlich lautstark zum Besten geben würde, wenn es gerade sehr unangebracht wäre. So als Freudsche Fehlleistung par excellence…
Eigentlich hätte er nicht mehr unterrichten müssen. Aber nun hatte er die Malschule einmal ins Leben gerufen und dazu noch den Weinhandel, das konnte er nicht so einfach wieder sein lassen. Er hing auch an seinen Kursen, an seinen Schülern. Zumeist Schülerinnen, er hatte eben eine gewisse Anziehungskraft auf bestimmte Damen.
Kaum hatte die Anfänger-Klasse also begonnen, die ersten zarten Versuche mit Pinsel und Farbe in die Tat umzusetzen, registrierte er aus der Küche heraus, wie die Tür erneut aufging und offenbar ein Nachzügler gekommen war:
„Entschuldigung, ich bin etwas zu spät, befürchte ich. Guten Morgen, erst einmal, ich suche Herrn Johannsen, den Mallehrer!“, hörte Jan eine angenehme Frauenstimme sagen, als er gerade den Kaffee in den Filter gab. Wer war das denn? Neugierig lugte er blitzschnell aus der Tür, den Kaffeelöffel noch in der Hand haltend: „Guten Morgen, hier sind Sie goldrichtig! Sie haben den Lehrer bereits gefunden…“
Hossa, hossa! Schoss es Jan durch den Kopf. Wer hat denn diese Prinzessin hier hergezaubert? Eine Augenweide in Schottens Altstadt, man könnte meinen, die Dame wäre direkt von einem der Haute-Couture-Laufstege in Paris importiert worden. Solche Erscheinungen waren doch eher selten im bodenständigen Oberhessen. Ein echter Hingucker!
„Ich bin Sophie. Sophie von Rohdenfeld. Und wollte am Malkurs für Anfänger teilnehmen.“ Sie reichte ihm artig ihre Hand, eine so entzückende Hand, ausgesprochen gepflegt und perfekt manikürt, im Prinzip schon ein einziges Gesamtkunstwerk – genau wie der Rest dieser unglaublichen Frau, die er auf höchstens Mitte dreißig schätzte. Ein perfekt geschnittenes Gesicht – wenn auch mit einer Narbe auf der Wange, was die Dame noch aparter erscheinen ließ. Das dunkelbraune Haar, schulterlang und kräftig, ein unglaublicher Glanz. Die wohlgeformten Beine, ebenso lang, ach was, länger, eigentlich am längsten… Und die Augen erst: ein Braun, das nur ein Dichter hätte beschreiben können – wenn überhaupt! Ein geheimnisvolles Braun, in dem jeder Mann versinken konnte, versinken wollte.
Jan kam sich vor wie in einer Art Trance. War er nicht gerade erst ziemlich angefressen und schlecht gelaunt in seinen neuen Kurs gelaufen? Und hatte er nicht soeben noch missmutig in der Küche gestanden und versucht, nicht an Lina zu denken – und was sie wohl gerade treibt und tut? Im fernen Tunesien.
„Jan Johannsen“, sagte er gedankenverloren, und im gleichen Moment landete das Kaffeepulver schon auf ihrem schicken Mantel. Herrje, so ein Missgeschick! Jan wollte ad hoc die Uhr zurückdrehen, so peinlich war ihm das gegenüber der Dame, die da in absoluter Perfektion gekleidet vor im stand. Und nun überall der Kaffee!
„Sorry, jetzt muss ich mich entschuldigen. Liebe Frau von Rohdenfeld, so was ist mir echt noch nie passiert. Wirklich.“
Aber sie lachte laut los. „Ach, alles gut – keine Sorge! Von Kaffee kann ich sowieso nie genug haben…“
„Ja, ich auch nicht. Da haben wir beide wohl was gemein. Kommen Sie mit, dann können Sie sich zumindest mal die Hände waschen. Aus dem Mantel kann man das Pülverchen bestimmt ausbürsten…“
Just von diesem Tag an machte Jan das Leben wieder Spaß. Nicht nur wegen der neuen Schülerinnen. Aber auf jeden Fall wegen der einen neuen Malschülerin. Sophie, ein Name wie Musik für ihn. Die ganze Frau eine einzige Inspiration. Und was für ein Talent sie war. Sie hatte noch nie gemalt – und trotzdem brachte sie von Anfang an erstaunliche Bilder zustande. Sie war wirklich begabt, besonders für Abstraktes. Aus der Phantasie heraus konnte sie die interessantesten Kreationen entwickeln – an Gegenständlichem hatte sie kein Interesse.
„Ich will mich nur entspannen, kreativ betätigen, einfach mal runterkommen… Ich habe nämlich ein recht stressiges Leben. Da kann ich keine zusätzliche Anspannung gebrauchen.“ Wie apart sie war, wie sie sich ausdrücken konnte! Jedes Wort, das ihre vollen und sorgfältig geschminkten Lippen verließ, ein einziges Gedicht. Jan war restlos begeistert. Wann hatte ihn je so eine Faszination ergriffen? In Hamburg, damals, an der Alster? Als er Lina zum ersten Mal sah? Ihm kam unweigerlich das Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse in den Sinn: Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Wie wahr, wie wahr. Er fühlte sich geradezu verzaubert, hingerissen. Von ihrer Schönheit, ihrer äußeren – und ihrer inneren. Dabei war sie kein ausgesprochener Modeltyp, ganz so dünn war sie nun nicht. Und für ein Model hatte sie zuviel Klasse, zuviel Intelligenz. Zumindest verglichen mit den Models, die Jan während seiner vielen Talkshow-Auftritte, Vernissagen und Messen kennengelernt hatte. Das hatte ihn auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, denn er durfte einige der Damen oftmals schon vor der Maske kennenlernen. Da war von Schönheit keinerlei Rede mehr gewesen – und auch das, was die aufgespritzten Lippen so hergaben, war häufig mehr als dünnes Eis. Sophie jedoch war eine Frau in vollkommener Perfektion für ihn, was Jan in Hochstimmung versetzte, Tag für Tag.
Natürlich waren die anderen Malschülerinnen, alle wesentlich betagter und nicht unwesentlich beleibter, ein bisschen neidisch auf die elegante Erscheinung, die jeden Morgen in einer anderen Top-Garderobe erschien, das merkte man sofort, das lag in der Luft. Trotzdem mochten sie Sophie, obwohl sie sich grundsätzlich von ihnen unterschied. Und wenn sie erst einmal ihren inzwischen bunt mit Farbe bekleckerten Kittel anhatte, dann war sie plötzlich nicht mehr die vornehme „Frau von und zu“ - sondern einfach nur noch die „Soffi“ - das war Hessisch für Sophie.
„Mein Mann ist Unternehmer, Fünf-Sterne-Hotellerie auf Schlössern und Gutshöfen. Wir selbst leben auch auf einem Gut in Mecklenburg-Vorpommern, ehemaliger Familienbesitz der Rohdenfelds. Ich war früher mal Zimmermädchen in einem der Schlosshotels, das war in meinem ersten Leben sozusagen. Dann habe ich meinen Theo kennengelernt – und jetzt bin ich hauptberuflich Ehefrau und das ist richtig anstrengend…“, lachte sie einmal.
„Und was hat Sie jetzt hier in diese raue Vogelsberglandschaft verschlagen?“, wollte Emmi wissen, die von Natur aus eher zu den „Interessierten“ gehörte.
„Wir haben hier ein Forsthaus mitten im Wald, so eine Art Rückzugsort für die Rohdenfelds. Mein Mann hat es vor ein paar Jahren gekauft und umgebaut. Außerdem geht er hier im Vogelsberg auf die Jagd – und lädt gerne Jagdgesellschaften ein. Da haben wir eine Menge Trubel im Haus, denn die meisten übernachten dann auch bei uns. Den Rest der Zeit verbringt er mit Lesen und dem Schreiben seiner Reden, er ist nämlich auch noch politisch engagiert. Hier oben in den Wäldern hat er seine Ruhe, bei uns an der Küste denkt er sowieso nur an die Geschäfte und jeder will etwas von ihm. Da hat er doch nie so richtig Feierabend.“
Jan hörte aufmerksam zu, wann immer sie erzählte. Und die anderen hingen ebenso gebannt an ihren Lippen. Es war ein bisschen große, weite Welt, was in die kleine Malschule in Schottens Altstadt gekommen war. Sophie selbst bemerkte die Aufmerksamkeit, die ihr entgegengebracht wurde, wann immer sie begann zu reden. Dann wurde es ganz still im Kurs und die meisten ließen ihre Pinsel ruhen. Ab und zu war sie überrascht über sich selbst – über so viel Offenheit gegenüber Fremden, was normalerweise gar nicht ihre Art war. Denn gerade in den letzten Jahren hatte sie sich immer mehr gelernt zu beherrschen, besonders in der Öffentlichkeit. Doch Sophie von Rohdenfeld fühlte sich wohl inmitten