Jenseits von Oberhessen. Carola van Daxx
den Feiertagen. Aber Fakt ist, ich kann hier nicht weg. Diese Kick-Off-Geschichte raubt mir den letzten Nerv und ich kann Siegbert hier unmöglich alleine lassen – oder ihm eine Vertretung vor die Nase setzen. Das funktioniert einfach nicht.“ Dann hörte man Stimmengewirr in Ines‘ Büro, es schien also wieder lebhaft zuzugehen. Ein gehetztes „Ich schicke Ihnen das alles nochmals schriftlich zu, dann hätten wir ja jetzt alles geklärt“, signalisierte Lina, dass die Zeit für Privatgespräche ihr Ende erreicht hatte. Ines war wirklich im Stress.
So, die komplette Mädelsrunde konnte sie für einen gemeinsamen Trip schon mal Abhaken. Ines fiel definitiv aus.
Von Susi Lustig trudelte kurze darauf eine Antwort ein:
Hi Mädels,
die Idee von Dir, liebste Lina, war echt nicht schlecht. Aber es gibt ein großes Aber: Ich gehe nämlich ein paar Tage in Klausur, kann demnach leider nicht mit zum Flaggenurlaub. Hatte schon vor Längerem einen Aufenthalt im Kloster gebucht, denn das Tempo aus meinem Reporter-Alltag muss unbedingt mal raus. Sonst kann der Hessenfunk bald eine Umzugsanzeige für mich schalten: Frei nach dem Motto, „Für unsere allseits beliebte Susi war plötzlich Schluss mit Lustig – Sie ist überraschend umgezogen und freut sich über Blumen und Besuche auf dem Frankfurter Hauptfriedhof“.
Das wollte ich doch unter allen Umständen vermeiden, die Zeit ist noch nicht reif. Ich melde mich, wenn ich wieder geerdet und ge-ohmmmt bin.
Wo immer es Euch hin verschlägt: Viel Schbass, meine Lieben! Und blamiert mir nicht die Innung…
Total gestresste Grüße
Susi
Auf Zweierferien mit Marie-Anne verspürte Lina jedoch keinerlei Lust. Das würde schlicht und ergreifend zu bedeutungsschwanger und anstrengend, außerdem lagen zwischen dem Humor der beiden manchmal doch Welten. Und mit ihren vielen Wehwehchen und ihrem ewigen „Das kann ich nicht, meine Beine, Ihr wisst doch…“, erinnerte sie Lina eine Spur zu oft an den wehleidigen Jan, der immer dann, wenn es drauf ankam, irgendetwas „Gesundheitliches“ vorschob, damit er aus der Nummer raus war… Die Rücksichtnahme auf seine Befindlichkeiten hatte er sozusagen im Abo, und zwar lebenslänglich. Im Vierer-Team fiel das mit Marie-Annes Einschränkungen nicht weiter ins Gewicht, aber ein paar Tage exklusiv mit der Alterspräsidentin und ihrem Alterserscheinungen zu verbringen, wäre nicht angebracht. Insofern war Lina über deren Absage auf dem Anrufbeantworter auch überhaupt nicht traurig. Die anderen beiden dürfte das jetzt eh nicht mehr interessieren, die hatten sich ja schon abgemeldet.
Trotzdem stand nun die Frage im Raum: Was tun, Frau Siebenborn?
Urlaub streichen? Alleine fahren? ALLEINE???? Lina konnte sich mit dem Gedanken überhaupt nicht anfreunden. Sie war seit ewigen Zeiten nicht mehr als Solistin unterwegs gewesen, in den letzten beiden Jahren eigentlich nur mit Jan. Paris übers Wochenende, Shopping-Touren in allen Variationen, Hamburg im Traditionshotel Atlantic, Ayurveda in Traben-Trabach, Bad Ragaz im Heidiland und Lindau am schönen Bodensee. Um nur ein paar der Ziele zu nennen, mit denen Jan sie immer wieder überrascht und erfreut hatte. Ja, ja – es kam ihr schon wieder vor, als wären Lichtjahre vergangen, seitdem. Jetzt stand sie alleine da, die Luft war raus und sie hatte so langsam auch keine Puste mehr. Die alte Indianerweisheit, dass man ein totes Pferd nicht reiten kann, kam ihr in den Sinn.
Aber sollte sie jetzt deshalb in ihren hart verdienten Betriebsferien zuhause im beschaulichen Kurort in der Wetterau bleiben? So schön ihre oberhessische Heimat ihr auch immer wieder erschien, das war nun wirklich zuviel verlangt. Aber alleine mit dem Auto die Ostseeküste entlang fahren? Nee, das war too much „Jan im Gepäck“, selbst wenn er weit weg sein sollte. Es musste etwas Neues her.
Nach stundenlangem Surfen auf den diversen Seiten im Netz war Lina jedoch verwirrter als zuvor. Wo sollte sie bloß hin mit sich und ihrem Resturlaub? Ski-Urlaub war nix für sie, zu kalt, zu weit weg, zu sportlich – und zu gefährlich! Sie war immerhin selbständig und konnte keine Krankenhausaufenthalte wegen verdrehter Gliedmaßen gebrauchen. Es müsste was Ruhigeres her, etwas Erholsames. Ihre Nerven bedurften der Pflege… Wellness auf irgendeiner Beauty-Farm! Ja, das klang doch schon besser. Ihr fiel da so einiges dazu ein. Immerhin hatte sie mal für die Gattin ihres Ex-Chefs, Herrn Hein, dem allseits berühmt-berüchtigten Peitschen-Heini, eine größerer Recherche in dieser Sache gestartet. Da konnte sie sich an einige verlockende Angebote noch gut erinnern – und noch viel mehr als das, kam ihr wieder ins Bewusstsein, dass dieser Heini auch an ihrem neuen Dasein als Kaffeehausbesitzerin „schuld“ war. Weil sie von seinen Eskapaden im Bahnhofsviertel wusste, seiner Vorliebe für erotische Spielchen der ganz anderen Art… Und genau diese Recherche für Marlene Heins Beauty-Urlaub hatte ihr damals mittels einer geschickt eingefädelten Intrige das Sekretärinnengenick gebrochen. Das war lange her, genauer betrachtet etwas mehr als zwei Jahre – doch irgendwie kamen ihr die Erinnerungen an diese Turbulenzen auch vor wie aus einem anderen Leben. Richtig verkraftet hatte sie dieses Mobbing aber noch immer nicht. Auch deshalb waren Ferien genau jetzt das richtige Stichwort.
Aber abgesehen davon, dass die exklusiven Adressen wirklich eine Sprengung ihres Budgets bedeutet hätten, waren so kurzfristig auch überhaupt keine Termine mehr frei. Die übliche Vorlaufzeit für eine Buchung auf einer renommierten Beautyfarm betrug nicht selten ein ganzes Jahr, wie Lina erfahren musste! Und da redeten manche Statistiker von einem Rückgang der Konjunktur? Bei solchen Wartezeiten – trotz horrender Preise? Das konnte ihr nicht in den Kopf gehen. Sie brauchte eine Pause, auch vom Surfen. Das war ja alles völlig verwirrend…
Und bei einer kurzen Shopping-Tour durchs benachbarte Nidda, wo sie meist ihre „kleinen“ Einkäufe erledigte, da in Bad Salzhausen im Prinzip nur Kliniken, Cafés und seltene Baumarten anzutreffen waren, ging sie ganz zufällig an einem der wohl noch letzten überlebenden klassischen Reisebüros vorbei – und stutzte. Warum nicht einfach mal den traditionellen Weg gehen? Ein paar Kataloge holen, stöbern und die vom Bildschirm strapazierten Äuglein schonen.
Gesagt, getan.
Schon kurze Zeit später saß sie bei Tee und schottischen Plätzchen auf ihrem Sofa und blätterte eifrig in den diversen Reiseprospekten. Aber auch da kam sie einfach nicht zu Potte. Irgendeinen Haken gab es immer. Außer einer Kurreise nach Tschechien in ein superschickes Grandhotel, wo man sich sicher fühlen konnte wie die Kaiserin von Österreich persönlich, sprach sie nichts wirklich an. Oder sagen wir besser, der Norden sollte es nicht sein, der Süden war Wintersport pur, der Osten, naja, da war eher Kultur und Sightseeing angesagt, die Mittelgebirge reizten sie kein bisschen. Doch nach Tschechien zu reisen, war laut der Reiseverkehrskauffrau nicht ganz ohne. „Da müssen Sie durchs Fichtelgebirge fahren, da gibt’s ne Menge Schnee, also gute Winterreifen, oder besser noch Schneeketten, brauchen sie da auf jeden Fall. Und in Tschechien müssen Sie immer einen bewachten Parkplatz dazu buchen, sonst kommen sie vielleicht mit der Bahn wieder nach Hause… Hi hi.“ Na, ganz toll, fand Lina. Sissi im Zweitklassewagon? Nee, also das ist vielleicht auch nicht das Richtige für sie.
„Und was könnten Sie mir noch empfehlen?“, wollte sie von der netten Fachkraft wissen. Immerhin verspricht man sich im Traditionsreisebüro doch etwas mehr von dem, was man im Internet nachlesen kann…
„Warum muss es denn unbedingt Kur und Wellness sein? Fahren Sie doch einfach in den Süden, ins Warme! Da haben Sie keinen Fahrtstress, brauchen keine Schneeketten, haben tollen Luxus und All-Inclusive für ein Drittel des Preises, von dem wir hier sprechen.“
Man konnte ja alles Mögliche von ihr behaupten, fand Lina, aber beratungsresistent war sie nicht.
*
Der Flieger ging um 15.00 Uhr. Zielort: Djerba, Tunesien. Planmäßige Ankunft: 17.50 Uhr. Danach würde es direkt in den Fünf-Sterne-Club „Alice Palace“ gehen – und spätestens um Mitternacht wäre Lina in der hoteleigenen Diskothek, zum Abtanzen und Schwofen unter der Original-70er-Jahre-Glitzerkugel, die sie schon auf der hauseigenen Homepage in Augenschein genommen hatte. Nach einem mehrgängigen Buffet, versteht sich. Sie träumte bereits von klebrigen Honig-Nuss-Schleckereien der