Jenseits von Oberhessen. Carola van Daxx
dass die oberste Anstandsdame der Nation nochmals zu Protokoll gegeben hatte, dass „lecker“ ausschließlich in Verbindung mit Hundefutter zum Ausdruck kommen sollte.
Aber nicht nur gutes Essen sollte ein wichtiger Bestandteil ihres winterlichen Sommerurlaubs werden, nein, auch die dazugehörigen ortsüblichen Drinks würden nicht außen vor bleiben. Und das Beste? Andere müssen das alles zubereiten, auftischen, servieren und die Reste wieder abräumen. Und spülen! Sie jedenfalls wäre vorerst außen vor, denn ansonsten war sie es ja, die andere in ihrem Café verköstigte. Zwar tat sie das überwiegend sehr gern, aber anlässlich des Urlaubs wollte sie sich das Ganze mal wieder von der anderen Seite zu Gemüte führen. „Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen!“, wusste schon Sokrates, die alte Socke. Äh, der alte Grieche. Von Wellness war da nie die Rede! Lina Siebenborn hielt dieses Wellness sowieso für überschätzt und überbewertet. Und überbezahlt!
Wohlfühlen konnte man sich doch auch, wenn man schlaue Entscheidungen trifft und zur Verfügung stehendes Kapital nutzbringend einsetzt. Besonders das Preis-Leistungs-Verhältnis dieser Reise sowie die zeitliche Nähe zum Urlaubsort hatten sie zu der Überzeugung geführt. Geschlagene knappe drei Stunden Flugzeit und man war auf einem anderen Kontinent, in der arabischen Welt, an unendlich weiten Stränden, inmitten eines niemals enden wollenden Sommers. Mit Rundum-Verpflegung und Bespaßung allerorten. Natürlich, nicht zu vergessen: Keine Winterreifen erforderlich. Stattdessen konnten ihre Sandalen mal wieder den Dienst antreten und ihren geruhsamen Winterschlaf vorzeitig beenden. Die Profiltiefe war in diesem Fall eher unerheblich…
Es würde ein Abenteuer werden, dessen war sich Lina sicher. Aber dass es so schnell schon losgehen würde?
Just in dem Moment, da sie in einer Art Endlos-Schlange am Schalter ihrer zuständigen Fluglinie anstand, erhaschte sie einen Blick auf ein Abenteuer ganz anderer Art: War das schon eine Fata Morgana außerhalb der Wüstenzone, fragte sie sich - oder handelte es sich bei dem wild knutschenden Etwas da hinten in der anderen Schlange um eine Doppelgängerin von Susi Lustig? Herr, lass‘ es eine Täuschung sein, wünschte sich Lina. Aber so eine unmögliche Klamottenzusammenstellung (Leo-Hose und rosa Kunstpelzjacke!) und eine derartige schwarze Mähne im Chaka-Khan-Look hatte nur eine Person im ganzen Rhein-Main-Gebiet zu bieten. Und das war die rasende Reporterin, die sie zu ihren allerbesten Freundinnen zählte.
Die Brille fürs Ferne schaffte bei der Identifizierung der Zielperson Abhilfe. Ja, es war ihre Freundin, die hier leidenschaftlich busselte – und zwar nicht mit ihrem wieder aufgewärmten Göttergatten Jochen, nein, das hier war eher „Modell Jungbrunnen mit 5-Tage-Bart“. Soweit Lina das erkennen konnte auf die Entfernung. So sah Klosterleben in der Neuzeit also aus... Einkehr, Klausur, Innehalten, Kraft schöpfen und sich wieder für den Alltag erden, das war doch die Planung für den Jahresbeginn, laut der offiziellen Ankündigung. Innehalten! Aha. Und das alles mithilfe eines unverschämt gut aussehenden Toyboys, der maximal fünfzehn Jahre konfirmiert sein dürfte – um jetzt nicht mit kleinlichen Altersangaben aufzuwarten. Das war also Susi Lustig im Nebenleben, sie klammerte ihre Hand an den sicher steinharten und durchtrainierten Hintern dieses noch immer knutschenden Sahnestückchens. Fast wäre Lina neidisch geworden – aber sie verkniff es sich im letzten Moment.
Jedoch wunderte sie sich, wie unverfroren Frau Lustig doch ihre Flaggenmädels angelogen hatte. Angelogen. Was für ein hässliches Wort! Sicher hatte Lina da nur etwas durcheinandergebracht, beruhigte sie sich, vielleicht war der junge Mann ja vom Kloster geschickt, um eine Art Escort-Service für ältere Damen darzubieten, die sich ansonsten in Deutschlands größtem Flughafen nur noch schwerlich alleine zurechtfinden würden.
Ja, ja, Frau Siebenborn, jetzt lüg‘ Dir noch selbst in die Tasche, sagte Lina zu sich selbst. Irgendwie war sie megamäßig enttäuscht von dem Fremdküssen und dem Schwindeln ihrer Busenfreundin, aber schon kurz darauf, in der Vorwartehalle zum Flieger, hatten sich bereits wieder Töne von herannahender Altersmilde bei ihr eingestellt.
Was hätte Susi auch sagen sollen?
Hier Mädels, ich komm‘ nicht mit zum Wellness-Trip, ich mach‘ diesmal sozusagen mein eigenes Wellnessprogramm, ganz abseits von Beziehung und Beruf. Ein bisschen Spaß muss ein, das gönnt Ihr mir doch, oder? Ich konnte diesem hinreißenden Knackarsch beim besten Willen keine Abfuhr erteilen, Treue hin oder her. Statistisch gesehen bin ich sowieso schon zigmal von Jochen und seinen Vorgängern betrogen worden, ich habe da beruflicherseits genauestens recherchiert und somit also offiziell Aufholbedarf, da ich mein Lebtag noch nie fremdgegangen bin. Ihr seid mir doch nicht böse, gell?
Nein, so viel Intimität hätte sie im umgekehrten Fall sicher auch nicht vor der Mädelsrunde ausgebreitet. Das war doch eher was für jüngere Geschlechtsgenossinnen, deren Lebens- und Liebes-Bahnen noch nicht so gefestigt sind. Aber von einer Lady in den besten Jahren konnte man doch keinesfalls ernsthaft annehmen, dass sie ihr komplettes Liebesleben vor der Mädelsrunde ausbreitete. Das musste man großzügig unter Notlüge verbuchen – oder einfach unter „geänderten Urlaubsplänen“. Zum Glück waren die beiden in einen anderen Flieger eingestiegen, sonst hätte die Sache doch unter Umständen eine recht peinliche Wendung genommen.
Der Flug nach Afrika war eine willkommene Abwechslung nach dieser überraschenden Szene. Überall urlaubswillige Menschen, die fast nur ein Thema hatten: das Wetter! Und wie froh sie seien, endlich mal wieder Sonne auf der Haut zu spüren. Zwei ältere Damen in der Reihe hinter ihr waren so forsch, Lina gleich zu fragen, in welchem Haus sie auf Djerba residieren würde. „Ich bin im Alice Palace“, hatte sie selbstbewusst und stolz geantwortet. Immerhin, sie hatte ihren Urlaub verdient – und das in mehrfacher Hinsicht. „Ach“, rief die eine durch den halben Ferienflieger, „wir sind doch auch im Alice! Wir sind seit Jahren IMMER im Alice!“ Das war die Rothaarige mittleren Alters, die sich als Geli vorstellte. „Eigentlich Angelika, aber für die meisten bin ich nur die Geli…“ – woraufhin Lina bei der Gelegenheit klarstellte: „Ich bin eigentlich Angelina, aber für die meisten nur Lina…“.
„Wie sympathisch!“, stieß die blond-grauhaarige Mittsiebzigerin aus, „da haben wir bestimmt eine Menge Spaß zusammen. Ich bin übrigens die Inge. Also eigentlich Ingeborg, aber die meisten nennen mich nur Inge.“
Dann hatten die beiden sich nicht mehr eingekriegt vor Lachen. Und Lina musste wohl oder übel aus Sympathie (!!!) ein bisschen mitkichern. Irgendwie war es ja auch schön, dass sie ein wenig Gesellschaft hatte in der großen weiten Welt, in die sie sich begeben hatte. Man wechselte ja den Kontinent normalerweise nicht gerade wie die Unterhemden. Und heute stand nun mal „Kontinentwechsel“ auf dem Programm, was ganz schön aufregend war.
„Hach, ich bin richtig uffgereechd!“, ließ Lina dann noch aus der Tiefe ihres Herzens los, wo der Heimatdialekt beheimatet war. Wobei die beiden Ladies hinter ihr sofort gänzlich aus dem Häuschen waren.
„Ei, Geli, guckemaa, die Lina iss auch e echt‘ Hessemädsche, die sacht ja auch uffgereechd, knau wie mir, wenn mer babbele, wie uns de Schnabbel gewachse is!“ Und in diesem Moment war Lina dann auch klar, dass dies ein Urlaub mit Familienanschluss werden würde.
Na denn.
Knaddel-Daddel
„Herzlich Willkommen im Alice Palace auf der Sonneninsel Djerba!“ Na, das war doch mal eine Ansage… „Sie haben großes Glück gehabt, verehrte Lina Siebenborn, der Direktor hatte nämlich an Silvester verdammt gute Laune und für den Rest des Monats „ULTRA-ALL-INCLUSIVE“ für alle angeordnet. Auch für diejenigen, die nur normales All-In gebucht haben!“, verkündete der freundliche Empfangsmitarbeiter mit einem Lächeln und legte das goldene Bändchen um ihr Handgelenk.
„Sie können Ihr Bargeld nun in den Tresor legen – und am Abreisetag wieder komplett mitnehmen. So einfach ist das!“, erklärte der Hochmotivierte mit deutschem Migrationshintergrund weiter. Aber was hieße das nun im Einzelnen, fragte sich Lina. Doch bevor sie etwas sagen konnte, waren die beiden Hinterbänklerinnen ihr schon zuvor gekommen, die anscheinend alles fleißig belauscht hatten.
„Ach, Inge, dess is ja