Jenseits von Oberhessen. Carola van Daxx
ein außerordentliches Flaggentreffen einzuberufen, nur weil der Basalt-Fischkopp, eine extra für Jan erfundene neue Kombination aus Fischkopp (Nordlicht) und Basaltkopp (eher unflexibler Oberhesse), mal wieder lustlos war und das Alleinsein vorzog. Obwohl, alleine war er ja nicht. Er hatte Asta zum Kuscheln – und reden konnte er jederzeit mit Tonja, sie wohnte ja direkt gegenüber im Heilpraktiker-Hexenhäuschen in Schotten, dem kleinen Vulkanstädtchen, in dem Jan nun vollends heimisch geworden war und wo er sein Atelier, die Malschule und den Weinhandel betrieb.
Und seit Frühsommer demonstrativ auch noch seinen eigenen Apfelwein (Etikett: Der Schotten-Schoppe! – Nichts für Kleinkarierte) an die Leute brachte. Geschäftstüchtig war er wirklich.
Lina war jedenfalls nie mehr in die Verlegenheit gekommen, ihm finanziell nochmals unter die Arme greifen zu müssen. Wahrscheinlich könnte sie eher ihn anpumpen, wenn es mal nicht mehr so goldgrubenmäßig lief mit dem Klatsch & Tratsch. Aber noch war das zum Glück nicht der Fall. Ihr Café im schönen Kurort Bad Salzhausen lief mehr als bombig. Über Langeweile oder Flaute konnte sie nicht klagen. Die beiden Perlen, ihre treuen Helferinnen in Dienstmädchentracht, waren auch mehr im Einsatz, als ihnen voraussichtlich lieb war. „Teilzeit“ konnte man das schon lange nicht mehr nennen. Die Chefin hoffte inständig, dass die zwei Fleißigen sie nicht eines Tages im Stich lassen und sich nur noch Heim, Herd und Kind widmen würden. Solche bezaubernden Wesen wie Anette und Amelie gab es bestimmt auf der ganzen weiten Welt nicht mehr, dessen war sich Lina sicher.
Andererseits würden ihr ein paar Gänge weniger auch nicht schaden. Seit ihrer Entlassung beim „HansaFra“-Konzern, wo man sie doch recht unhöflich vor die Tür gesetzt hatte, und der darauffolgenden Entscheidung, ein eigenes Café zu eröffnen, hatte sie keine drei Tag mehr am Stück frei gehabt. So ein Pensum war ihr sonst als Chefsekretärin eher fremd gewesen. Geregelte Arbeitszeiten, das Balsam des Angestelltendaseins… Aber davon war nun keine Rede mehr. Davon konnte sie jetzt nur noch träumen. Selbst außerhalb der Öffnungszeiten musste sie ja immer organisieren, backen, Cremes schlagen, Obst schnibbeln, die Buchhaltung vorbereiten, Termine beim Steuerberater vereinbaren, zum Steuerberater fahren, sich mit den Steuerberater persönlich treffen, in die Metro düsen, Nachschub holen, Anzeigen schalten, die Internetseite aktuell halten, und so weiter und so fort. Aber meckern wollte sie auch nicht. Ihr Kontostand hatte sich nach der Eröffnung schnell in mehr als angenehme Höhen bewegt, so dass die Entscheidung, das Kaffeehaus samt Wohnung zu kaufen, nicht lange hatte auf sich warten lassen.
Ihre Eltern, also Mama und Papa Siebenborn, hatten ihr dazu geraten. „Kind, da hast du was Eigenes!“ Alle Experten sagten zudem, kaufen Sie Immobilien. Und zwar JETZT!“ Die Zinsen waren noch immer tief, tief im Keller - und billiger konnte das Geld ja kaum noch werden.
Das sah Lina auch ziemlich schnell ein und schlug auch prompt zu, als die Besitzerin ihr ein unwiderstehliches Angebot unterbreitet hatte. Die alte Dame, die mittlerweile auf Teneriffa ihren Lebensabend verbrachte, war schlicht und ergreifend begeistert von Lina und der Art, wie sie das Traditions-Kaffeehaus in Bad Salzhausen wieder zum Leben erweckt hatte. Wahrscheinlich hatte Herr Murmelmann, der Anwalt und Notar, dem die betagte Dame vertraute, sie immer schön auf dem Laufenden gehalten.
Eines Tages lag eine Postkarte aus Puerto de la Cruz zwischen den vielen Rechnungen und Werbeblättern in Linas Briefkasten. Frau Schauer hatte in echt krakeliger Schrift geschrieben:
„Meine liebe Frau Siebenborn,
ganz herzliche Grüße aus dem sonnigen Teneriffa sendet Ihnen
Frau Schauer.
P.S: Sie sollten umgehend einen Termin mit Herrn Rechtsanwalt Murmelmann vereinbaren. Die Sterne stehen gut für die Chance Ihres Lebens…“
Das war alles gewesen. Lina hatte zuerst einen Schreck bekommen. Was wollte die alte Dame ihr damit sagen? Aber dann ging alles ganz schnell. Und jetzt war Lina eine echte Kaffeehausbesitzerin. Und eine Wohnung (mit Balkon) nannte sie auch ihr Eigen. Und einen Garten, direkt angrenzend an den wunderschönen Kurpark. Plus Parkplätze, die waren auch wichtig! Naja, das war nun nicht gerade ausschlaggebend. Aber immerhin. Es gehörte alles IHR, Lina Siebenborn. Nicht schlecht für eine ehemalige „Tippse“ mit Mietwohnung in Frankfurt-Bornheim, oder?
Doch noch immer wusste sie nichts mit dem angebrochenen Silvesterabend anzufangen. Also zappte sie sich eher lustlos auch durchs Programm, vermutlich genauso wie Jan im gleichen Moment. Was für eine soziale Armut! Jeder saß allein zuhause auf der Couch, niemand wollte mehr heutzutage Kompromisse schließen, weder beim Fernsehprogramm noch beim Schlafen. Das moderne Individuum besteht zu jeder Zeit auf seinen gewohnten Komfort.
Und eigentlich musste Lina sich eingestehen: Sie war im Prinzip nicht anders als Jan. Auch sie hätte an diesem Abend nicht gerne bei ihm übernachtet. Die Zeiten wild zerrütteter Laken war ohnehin vorüber, aus den stürmischen Nächten der Vergangenheit war irgendwas Schnelllebiges geworden, eine Art bettmäßige „5-Minuten-Terrine“ – will heißen, in fünf Minuten fertig, allerdings nicht ganz so heiß. Auch deshalb wollte sie lieber in ihren vier Wänden bleiben, in ihrem eigenen Bettchen schlafen (die Matratze hatte einen speziellen Zwischenhärtegrad, extra für sie angefertigt!) und morgens wie gewohnt den ersten Blick auf den so friedlichen Kurpark werfen, der jeden Tag anders, jedoch immer gleich schön aussah.
In Schotten wäre ihr Blick stattdessen zuerst hinüber zu Tonjas Hexenhäuschen gegangen. Fachwerk am frühen Morgen und die Tatsache, dass Jan einfach lieber in ihrer Nähe sein wollte. Da konnte frau schon mal die Lust auf den oder die sonst übliche(n) Latte am Morgen verlieren. Aber das sollten wir jetzt nicht vertiefen.
Wie immer liefen im Fernsehen Wiederholungen: alte Tatorts, noch ältere Pilchers, hier und da ein Quiz (Menschen, Tiere, Gesundheit, Länder, Millionen), Reisemagazine (fast alle schon gesehen, mehrfach), Reportagen aus der Zeit vor, während oder nach dem Zweiten Weltkrieg, wissenschaftliche Szenarien von einer Erde ohne Menschen, einer Menschheit ohne Wasser oder das neueste zum Thema Fett. „Fett“ lief immer irgendwo, ein schier unerschöpfliches Thema. Aber Lina wollte mit Fett nichts mehr zu tun haben. Weder im realen Dasein, also auf ihren Hüften oder sonstwo, noch im virtuellen Bereich. Vom Fett hatte sie gründlich die Schnauze voll. Genau wie vom Fernsehprogramm.
Das Ganze war für Lina fast so etwas wie das allabendlich grüßende Murmeltier. Immer dasselbe. Da war ja der Anwalt Murmelmann noch aufregender. Und der war schon über siebzig! Dieses Programm ersetzte jede Baldrian-Pille. Mittlerweile konnte Lina diesen Reich-Ranicki gut verstehen. „Ich nehme diesen Preis nicht an!“ Jawoll, recht hat er gehabt. Jetzt hatte sie es auch begriffen.
Ein Griff ins DVD-Regal und sie tauchte ab. Nach Kenia. Mehr als hundert Jahre zurück, genau ins Jahr 1913.
Aber eigentlich begann alles Dänemark. Oh ja, Jenseits von Afrika ist einfach der beste Film aller Zeiten. Zumindest für Lina. Die konnte ihn fast schon auswendig mitsprechen. Alle Dialoge. Und zum Schluss fing sie immer an derselben Stelle an zu schniefen. „Das hätte Denis gefallen…“, als die Löwen auf seinem Grab eine Art Rastplatz gefunden hatten, von dem aus sie die Steppe und die Herden überblicken konnten… Es ging jedes Mal wie auf Knopfdruck – und musste wohl eine Art cineastische Konditionierung ihrer Tränendrüsen sein. Das rettete ihr wenigstens ein bisschen den so frustig begonnenen Abend. Doch an Jan musste sie die ganze Zeit denken. Unwillkürlich. Gerade, weil der Film ja im Grunde nicht nur ein Kolonial-Epos, sondern auch eine unbeschreiblich schön-dramatische Liebesgeschichte ist. Dagegen war ihr kleinbürgerliches Dasein geradezu farblos, von ihrer schalen Beziehungskiste ganz zu schweigen. Vonwegen zwei Männer, zwischen denen sie stehen könnte. Sie hatte nicht mal einen richtig an ihrer Seite. Und darüber war sie schon richtig sauer geworden.
Aber ging es dieser Karen Christiansen Dinesen, also der Baronin von Blixen, vor hundert Jahren nicht ähnlich wie ihr heute? Sie wollte auch nur jemanden, der zu ihr hielt, jemanden ganz für sich alleine. Aber dieser „Jemand“ hatte damals auch schon andere Interessen. Großwildjagd! Um nur ein Beispiel zu nennen.
Hatte sich etwa nicht viel geändert seit 1913?
Liefen Frauen noch immer Männern