Das Deutsch Haus. Helmut H. Schulz

Das Deutsch Haus - Helmut H. Schulz


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und ungepflegt. Zwar wirkte sie verwahrlost auf ihn, aber zugleich auch verlockend. Auf dem bloßen Körper trug sie ein eng anliegendes dünnes, von zwei Trägern über den Schultern gehaltenes Hemd, unter dem sich die flache Brust abzeichnete. Von dieser bunten, nach der Mode gekleideten plappernden Frauen und den laut lärmenden Kindern stach sie ab. Auch ihre Kinder, zwischen sieben und neun, wie Hartmann schätzte, waren ernste und auffallend stille Zeitgenossen. Wie auch immer, als Gruppe wirkten diese Drei isoliert von den anderen Gästen des Genesungsheims. Die Schielende war nicht ihresgleichen.

      Was ihn eigentlich an diesem Wesen reizte, wenn nicht Neugier, hätte er erfahren, wäre er seinem Gefühl gefolgt, sie anzusprechen. Dann vermied er es, sie anzusehen. Nachdem sich ihre Blicke einige Male getroffen hatten, sprach umgekehrt sie ihn an; ihre Stimme hatte einen überraschend tiefen Klang. Ehe sich ein Gespräch entspinnen konnte, sagte der an seinem Zahlgerät herumtippende Busfahrer: „Sie kennen einen wohl nicht mehr, Hartmann, watt?“

      Vergeblich versuchte er sich dieses Mannes zu erinnern, den er kennen sollte, mit grauem Stoppelbart und schwimmenden wässrigen Augen im gedunsenen Gesicht des Trinkers. Aber in mehr als dreißig Dienstjahren hatte Hartmann viele Menschen kommen und gehen sehen, ohne ihr Gesicht in sein Gedächtnis aufzunehmen. Er gab vor, sich zu erinnern und nahm mit einem Seitenblick wahr, dass die junge Frau dem Gerede aufmerksam folgte.

      Hartmann tat erstaunt. „Zeit vergeht, und Sie? Landfahrer geworden?“ Der Busfahrer hatte sich auf dem Sitz halb zu ihm herumgedreht, warf einen wütenden Blick auf seine lauten Fahrgäste im hinteren Teil des Fahrzeuges, um mitzuteilen, dass man in dieser jämmerlichen Zeit halbwegs zufrieden sein müsse, wenn man überhaupt arbeiten dürfe, zum Beispiel einen Bus fahren. „Wissen ja, eine Insel mit viel Bus, steht ja überall dran, von wegen!“ Hartmann wurde davon in Kenntnis gesetzt, dass sie, das Eheweib des Fahrers, ihn oben unterhalb des Kap festgemacht habe, mit Schloss und Riegel und einem Haus für zweieinhalb mal hunderttausend; demnach Schulden wie Sand am Meer und bis in die aschgraue Ewigkeit abzuzahlen, was alles auf einem Bus verdient werden sollte. Nun erinnerte sich Hartmann an Putgarten, der kleinen Ortschaft, ehemals von einem Gut beherrscht. Neuerdings schleppte eine kleine Bahn, neben den Pferdekutschen die Touristen in bestürzender Menge vom Bushalteplatz hinauf zu den beiden Leuchttürmen, den alten, von Schinkel erbauten und den neuen. Übrigens hielt er selbst die Hohe Dielen und Gellen Ort für die schönsten und ruhigsten Plätze der Insel.

      „Immerhin“, erwog Hartmann, Interesse an den Lebensumständen des anderen bekundend, „das Haus gehört Ihnen ja doch eines Tages.“ Im Stillen aber stimmte er zu; alle Frauen zog es magisch zu Haus und Garten, Rittergut oder Kate. Er hätte mit ähnlichen Erfahrungen aufwarten können. Auf Drängen Fraukes, seiner Frau, hatte er in den frühen achtziger Jahren in Saßnitz ein Haus erworben, für eine menschlich denkbare Ewigkeit, die er bald nach der Wende und der Prüfung seiner Lage für beendet erklären musste. Sie hätten beide die Kosten für den Unterhalt nicht mehr aufbringen können. Haus und Garten, wo sie eine glückliche Zeit gehabt hatten, war verkauft worden. Nach flügge werden ihrer beiden Kinder zogen sie wieder in die Mietwohnung des ihnen wohlvertrauten Dranske, wo mittlerweile Lehrstand in der „Platte“ herrschte. Um gerecht zu sein und um reinen Tisch zu machen, wurde der Erlös von Hartmann – eine für seine Verhältnisse beträchtliche Summe infolge der hochgetriebenen Grundstückpreise – in vier gleiche Teile geteilt. So hatte er seine Pflicht gegenüber der Familie getan und sich zugleich von ihr befreit und sich Freiheit zurückgekauft. Seither lebte er mit seiner Frau in Güterrennung auf der Grundlage eines sogenannten Ehevertrages, der sie beide gegen Ansprüche des anderen sichern sollte. Aber die Vermengung ihrer ohnehin nicht sehr guten, eher brüchigen menschlichen Beziehungen mit Geld, hatte ihnen nicht gut getan, sondern ihr Verhältnis nur noch mehr verschlechtert. Dass der Notar auf Vor- und Nachteile des Ehevertrages pflichtgemäß vor der Beurkundung hingewiesen hatte, mochte das Misstrauen gegeneinander nur noch vertieft und aus halbwegs nachsichtigen Partnern sich belauernde Feinde gemacht haben.

      Dinge, die bislang vom Staat – und sie hatten zu oft und zu leicht Gesellschaft gesagt und Staat gemeint – gelenkt worden waren, fielen nun in die Verantwortung jedes Einzelnen, worauf sie und er kaum vorbereitet waren. Zur politischen Übernahme der DDR durch die Bundesrepublik wurde ihre Zustimmung durch Plebiszit und Parlamentswahl im Nachhinein eingeholt, als an der Sache selbst nichts mehr zu ändern war, und als sie längst ahnten, in einer Falle zu stecken. In ihrem abgelegten Raum fehlte es an Anreiz und Gelegenheiten, sich ein anderes Umfeld zu wünschen. War früher verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt, so galt nun die umgekehrte Regel; diese Un-Regel wurde als Freiheit ausgegeben. Dass man für die Anpassung und Sozialisation an Vorhandenes ein ganzes Leben braucht, wurde ihnen erst klar, als die Würfel längst gefallen waren und sie nun einer aufgeblähten Rechtsbürokratie gegenüber standen und sich nicht zu helfen gewusst hatten.

      „Sie hat die Fischbräterei oben am Leuchtturm. Auf Pacht und man bloß im Sommer offen, wenn Gäste kommen, wenn sie denn man kommen; anders würde es überhaupt nicht reichen!“ Ohne die Antwort abzuwarten ließ der Busfahrer die Türen zugehen, gebot über sein Mikrophon energisch Ruhe auf dem Kutter und lavierte das für die Straßen der Ortschaft zu lange Fahrzeug um Ecken und Kanten, mit einem wachsamen Blick in den Rückspiegel und sagte: „Kaasboom übrigens, Sperrmeister im gewesenen Leben. Vor Jahr und Tag haben wir beide mal im selben Haus gewohnt, Breitscheid-Straße, Sie oben, ich unten, heute beide unten. Man nennt das die irdische Gerechtigkeit. Na, Sie erinnern sich wohl nicht mehr, sind ja auch bald weggezogen, und nun doch wieder hier.“

      „Ach, ja, natürlich, Kaasboom“, sagte Hartmann, ohne dass ihm ein Licht aufging, wer dieser Mann war, ein Sperrmeister, also hatte er auf einem der Räumboote Dienst getan. Wohl möglich, dass sie gelegentlich miteinander zu tun gehabt hatten. Dennoch versuchte er, sich dieses unglücklichen Mannes Kaasboom zu erinnern, eines Unteroffiziers ja immerhin, mit dem er unter einem Dach in einem der Plattenbauten gehaust hatte; in einem gewesenen Leben, nicht übel erfunden für die Fieberkurve ihres Abstieges. Aber die Wohnanlagen, auf die Kaasboom angespielt hatte, galten damals als eine Verbesserung ihrer Lebensqualität; diese Betonbauten, je Block mit einigen Aufgängen und Stockwerken und Wohnungen, hatten für die dürftigen Quartiere der Offiziere und Mannschaften geradezu einen Luxus bedeutet. Die meisten hatten zum ersten Mal ein Zuhause mit fließendem Wasser, warm und kalt, mit Badewanne und Dusche, mit eingebauter Küche und Klosett.

      Dranske, das alte Fischerdorf mit einer See- und einer Binnenseite war ein sauberer und begehrter Wohnort geworden, die Bevölkerung an Zahl erheblich gestiegen. Marine, Grenzer, Zivilangestellte in einem bunten Gemisch von Landtörzern war eingezogen. Ein Dach übem Kopf und ein sicherer Arbeitsplatz, Dienst oder Bereitschaft auf einem der damals auf dem Südbug stationierten Boote oder Dienst an Land, an der Seegrenze, dies hatte sich eingespielt. Dank Kaasbooms Hinweis auf die Imbissbude seiner Frau am Kap entsann sich Hartmann nun sogar eines Ausfluges mit der Familie seines Bruders bald nach der Wende; als ihm Karl-Friedrich erklärt hatte, dass er mit Familie in die Freie und Hansestadt Hamburg umsiedeln werde, Anstellung an einer Klinik winke ihm und der Professorentitel. Dass Hartmanns Schwägerin Solveig durch einen ihnen günstigen Todesfalls zu einem beträchtlichen Erbe gekommen sei, erleichtere ihnen hier wegzugehen. In dem leicht gebauten Kiosk aus Fertigteilen hatte eine Frau gebratene Schollen zu gut gefetteten Bratkartoffeln hiesiger Art zubereitet und sie den Fisch gehörig in Bier und Köm schwimmen lassen.

      Die Erinnerung an diesen Ausflug löste ein tiefes Missbehagen in Hartmann aus. Mit diesem, an Jahren nur wenig älteren Bruder hatte sich das Schicksal sozusagen selbst übertroffen. Er hatte immer alles, und er hatte alles bekommen, was er wollte. Sein Abgang zu den Fleischtöpfen Ägyptens war Hartmann damals wie Verrat erschienen, diese uns angeborene Eigenschaft, wie Hartmann unerschütterlich glaubte. Aber dieser Bruder wurde demnächst fünfundsechzig und rief ihn zur Jubelfeier. Ob er, Hartmann, zur Heerfahrt nach Hamburg rüsten werde, das stand noch in den Sternen. Die Einladung galt übrigens nur ihm, nicht seiner Frau, der Schwägerin des erfolgreichen Bruders. Durch die Geschwister Solveig und Frauke waren sie miteinander versippt; diese beiden Frauen lebten in heißer Feindschaft miteinander. Sie waren übereingekommen, sich in diesem Leben aus dem Wege zu gehen und ihre Aussöhnung in die bessere Welt zu verlegen. Standen die Schwestern schlecht miteinander so liebten sich die Brüder Hartmann um so mehr. Die Sippe Hartmanns hatte eine kurze aber achtbare


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