Das Deutsch Haus. Helmut H. Schulz

Das Deutsch Haus - Helmut H. Schulz


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gegen alle internationalen Regeln und Abkommen, ganz weil es sich um eine Lebensfrage der DDR handelte. Auf dem Landwege war die Flucht infolge der Mauer und Grenzzäune erheblich eingeschränkt worden, über See erschien es manch einem weniger gefährlich als der Landweg, der durch Hindernisse wie Mauer, Draht und automatische Schießeinrichten gesicherter war. Selbst auf dem sogenannten Todesstreifen lauerten Tretminen.

      Eins zog das andere nach sich; die Bundesmarine ließ es sich angelegen sein, diese Jagdszenen in den Hoheitsgewässern der DDR zu beobachten. Hartmann entsann sich einer früheren Begegnung als er dumm genug gewesen, einer Bundesfregatte den Flaggengruß zu entbieten, was drüben mit dem Vorheißen einer Galgenschlinge beantwortet worden war und ihm im Übrigens auch noch einen scharfen Verweis eintrug. Ihm war also klar, dass es sich um keine abstrakte Grenze handelte, und die Marineführungen beider Seiten betätigten sich scharfmacherisch genug. Dass sich die Bundesrepublik als alleinigen deutschen Staat sah und der DDR das Existenzrecht abstritt, hatte auf die Ausübung der Hoheitsrechte des östlichen deutschen Staates kaum Einfluss; kurz, Hartmann hatte damals über die Absichten des Kutters vor sich keinen Zweifel gehabt. Ein Fischer auf der Heimreise, gleich welcher Nationalität, benahm sich anders, zumal ihm nichts passieren konnte, sollte er aufgebracht werden. Dieser Kutter suchte offenbar in neutrales Gewässer zu entkommen.

      „Na, dann los, fangen wir uns diesen Vogel mal ein“, am gereizten Ton, den er sonst nicht anschlug, mochte die Brückenwache seine Entschlossenheit gespürt haben, das Boot aufzubringen. Nach dem Befehl, auf die höhere Fahrstufe zu gehen, Mannschaften unter Deck zu befehlen, sie also auf ihre Gefechtsstationen zu schicken, röhrte die beschleunigte Maschine auf; der Bug des Schiffskörpers hob sich aus der See und die vielen Pferdestärken brachten das Raketenboot, auf dessen Manövrierfähigkeit sie stolz waren, in kurzer Zeit in Rufweite an den Flüchtling heran. Die Marine, in der Hartmann gedient hatte, besaß wie die Landstreitkräfte der Volksarmee eine besondere Befehlsstruktur. Sein sogenannter Politstellvertreter stand zwar im Rang unter ihm, hatte aber einen bestimmten Einfluss auf die Handlungen seines Vorgesetzten; innerhalb der Parteiorganisation des Bootes und der Besatzung konnte er eventuell Befehle des Kommandanten zur Disposition stellen, falls er es für erforderlich hielt, konnte, ein bloß theoretischer Fall. Persönlich lagen Hartmann und sein Politstellvertreter in keiner Konkurrenz, was auch kaum denkbar gewesen wäre. Hartmann galt als scharf, aber korrekt, ein Kommandant, der viel verlangte, aber auch viel konnte, was andererseits wiederum der Besatzung zur Anerkennung außerhalb der Bordatmosphäre verhalf. Aber zwischen einem Manöver und einem Ernstfall besteht ein Unterschied; bestimmte Dinge sind eben nicht zu simulieren. In den Minuten, in denen der Abstand zum Fluchtkutter verringert worden war, besaß Hartmann noch immer kein Konzept, wusste nicht einmal, wohin das andere Boot wollte, dessen Fahrt durch die Nordwestdrift nach Süd versetzt wurde, also an Weg verlor. Er beobachtete, dass der Bootsführer den Kurs änderte und auf die offene See zuhielt; damit bekam er Wind und Seegang dwars. Dass der sich drüben unter diesen Wetterbedingungen ausgezeichnet hielt, alles aus der Maschine herausholte, stand bei seinen Verfolgern fest. Etwas wie ein sportliches Interesse kam ins Spiel. Auf dieser Distanz hätten sie an das der offenen See zustrebende Boot in Sekunden längs gehen können; längs gehen, Bord an Bord, um die Überprüfung des Bootes und der Besatzung vorzunehmen, die übliche Methode bei den Kontrollen durch Seepolizei, Marine oder Zoll- und Lotsenkutter. Ein solches Manöver aber konnte nur mit Zustimmung des zu kontrollierenden Bootes ausgeführt werden, beide durften keine oder nur geringe Fahrt machen, schon gar nicht bei so schwerem Wetter. Dass der dort drüben nicht bereit sein würde die Fahrt zu stoppen, stand für Hartmann fest. Das zwang, nach einem anderen Weg zu suchen, den Flüchtling aufzuhalten. Bei Seegang und Sturm musste der Bootsführer sein Fahrzeug manövrierfähig halten, dennoch ließ Hartmann den Flaggengast Stopp signalisieren. Aber was gab es denn für Möglichkeiten? Den drüben durch Waffeneinsatz, das heißt, durch eine Drohgebärde, einzuschüchtern da ein Bord-an-Bord-Manöver unter diesen Bedingungen seiner Einschätzung nach riskant oder sogar unmöglich war. Der Wachoffizier ahnte wohl, in welche Verlegenheit sich sein Kommandant gebracht hatte; aber er schwieg. Und der Kutter tanzte voraus auf den Wellen, versank, hob sich wieder aus der schweren See. Vermutlich aber hatte er noch einen anderen Grund gehabt, weshalb Hartmann das Aufbringen nach Piratenart verwarf; ein paar seiner Leute hätten hinüberspringen müssen; mit einem Handgemenge war zu rechnen, falls der oder die sich drüben zur Wehr setzten. Wenn der oder die drüben bewaffnet waren, konnte die Aktion schief gehen und der eine oder andere seiner im Polizeidienst ungeübten Männer zu Gefangenen und sie alle zu Geiseln machen. Was dann? Blutvergießen musste und wollte er vermeiden. Noch hatte er die Möglichkeit den anderen seiner Wege ziehen zu lassen und sich eine Rechtfertigung seines Handelns auszudenken.

      Unterdessen lief Zeit durchs Stundenglas; der Flüchtling hatte wiederum einen Kurswechsel eingeleitet, um ihn abzuschütteln; er hielt zurück in die Prorer Wiek. Dass sich oben etwas tat, hatte sich unter der Besatzung infolge der Maschinenmanöver herumgesprochen; ein paar Gasten lungerten trotz des Befehls unter Deck zu bleiben achtern herum und klammerten sich an den Aufbauten fest. Funkverkehr von Schiff zu Schiff war in jenen Tagen mit einem Küstenfahrer nicht immer möglich; jedenfalls reagierte der drüben nicht auf das Ansprechen über Funk und der mechanischen Klappbuchs.

      „Der spielt mit uns und wir können nichts machen“, diesen Gedanken drückte der Wachhabende auf der Brücke aus, in einem Tonfall zwischen Anerkennung und Empörung und genau so empfand auch sein Kommandant. Hartmann erinnerte sich heute eines Gefühls der Hilflosigkeit. Es galt, dem da drüben das Gesetz des Handels abzunehmen. Als Soldat sah er sich herausgefordert; was hier vor sich ging, passte nicht in sein Schema von Macht und Recht und Gesetz; dass eine solche Nussschale seinem Kampfschiff Paroli bot, hatte seinen Jagdtrieb geweckt. Es war ihm eine Lehre. Der Kampf wurde von einem einzelnen Mann an der richtigen Stelle entschieden. An der Planung eines Unternehmens konnten viele teilhaben, vor Ort fiel nur einem die Verantwortung zu. Sein Wachhabender war ihm bei dem Befehl, die Buglafette klar zu machen jedenfalls nicht nur als überflüssig, sondern sogar als hinderlich erschienen. Die Haltung des Mannes drückte weder Zustimmung noch Widerspruch aus, aber einen stummen Protest, die innere Ablehnung seines Befehls, etwa in der Art: Ist der Alte wahnsinnig? Mit Kanonen auf Spatzen schießen? Will er das? Auf dem Vordeck zogen die Artilleriegasten die Plane von der automatischen Doppellafette. Für einen Moment riss der Himmel auf, ein schräger schwefelgelber Sonnenpfeil beleuchtete den weißen Schaum auf dem bewegten Lawinenfeld, einer Wellenhöhe von anderthalb Metern. Es mochte ihm damals zum ersten Male in seiner Laufbahn als Soldat die reale Lage eines vor Ort handelnden Kommandanten klar geworden sein, diese Gelegenheit der Bewährung, der schöpferischen kinetischen Entfaltung oder einfach der Macht.

      Manchmal setzte das Boot drüben hart auf, das Heck hob sich und versank wieder, aber der Kutter machte immer noch Fahrt, wenn das Heck wieder einsetzte und die Schraube drehte. Sie kämpften beide, das Schnellboot und der Kutter unterdessen bei sechs, vielleicht sieben oder mehr Windstärken und Schneetreiben; der eine um sein Leben, der andere um den Sieg. Hartmann, entschlossen, dem Katz-und-Maus-Spiel ein Ende zu machen, ließ den stampfenden und rollenden Kutter überholen und legte sich dwars, um ihm den Kurs abzuschneiden. Sie waren jetzt nahe genug, um das Boot genauer zu identifizieren; es handelte sich um ein Fischereifahrzeug mit den typischen Deckaufbauten achtern bei einem hohen Vorsteven und seitlichem Fanggeschirr, für das Befahren von Küstengewässern und zum Fischen gebaut und auf allen europäischen Meeren ähnlich.

      „Ein polnischer Fischer“, wiederholte der Wachhabende, auf die Flagge weisend, die im Sturm steif wie ein Brett auswehte. Kurz danach hatte Hartmann den Feuerbefehl gegeben. Das Geräusch übertönte kaum den Lärm des Sturmes. Dann geschah etwas Merkwürdiges, in dieser Situation Komisches; der Steuermann trat drüben aus dem Ruderhaus, ballte die Faust und schrie etwas, das der Wind verwehte, fuhr aber weiter. Der Umschlag vom Denken zum Handeln kam in einem bestimmten Moment aus Verblüffung, Ärger und Wut wegen der Dreistigkeit dieses Flüchtlings über Hartmann. Der nächste mit Schnee vermischte Regenschauer ging auf die in geringem Abstand fahrenden Boote nieder, der Kutter auf seinem Lavierkurs, das Schnellboot längs, manchmal eine Kabellänge voraus, dann wieder zurückfallend. Sie hätten sich von Bord zu Bord unterhalten können, ohne den heulenden Sturm. Und dreißig Jahre später rief Hartmann das Gefühl wieder auf, das ihn zum Krieger gemacht hatte, als er bebend vor Zorn und Hilflosigkeit nach einer im Rahmen seiner Möglichkeiten


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