Dorran. Isabel Tahiri
Abschied von Bergdorf
Sie hatten ihn mal wieder umringt. Drei Burschen aus dem Dorf, es war nicht das erste Mal. Aber mit denen würde er bestimmt fertig werden. Er war stärker als sie. Einer schubste ihn dreist. Er holte aus und schlug zu. Aber er traf nicht. Sein Angreifer hatte sich weg geduckt. Mist. Während er von seinem eigenen Schwung gedreht wurde, stellte ihm ein anderer Junge ein Bein. Er fiel zu Boden. Dorran hatte keine Chance. Bevor er sich aufrappeln konnte warfen sie sich auf ihn. Inzwischen hatten sie Zuschauer bekommen. Er sah aus dem Augenwinkel den Büttel, der aber nicht eingriff. Auch andere Dorfbewohner standen nun im Kreis um die Jugendlichen herum. Er erwischte einen am Ohr und zog kräftig daran. Der Junge schrie auf. Die anderen Beiden prügelten jetzt noch heftiger auf ihn ein.
Jemand schrie. „Mein Gott, sie bringen ihn ja um. Büttel, mach was...“
Plötzlich ließ das Gewicht auf ihm nach. Die Jungen wurden von ihm heruntergezogen.
Er rappelte sich auf. Blut lief ihm übers Gesicht, seine Rippen taten weh. Breitbeinig stellte er sich hin, sonst wäre er vielleicht umgefallen. Er schwankte. Der Büttel sah sich die Kontrahenten an.
Dann schüttelte er den Kopf. „Drei gegen einen, das ist ein schlechtes Verhältnis. Ihr, geht nach Hause, heute will ich euch nicht mehr sehen.“ Dann fiel sein Blick auf Dorran. „Hast Du sie wieder herausgefordert? Lass das in Zukunft sein. Zur Strafe wirst Du den Brunnen reinigen. Und jetzt ab mit Dir.“ Dorran wollte etwas sagen, aber der zornige Blick, den ihm der Büttel zuwarf, ließ ihn still sein. Auch die umstehenden Leute sahen ihn unfreundlich an. Er verstand es nicht, hatte er doch gar nichts getan. Und dass er sich verteidigte, da konnte doch keiner etwas dagegen haben. Ohne ein Wort drehte er sich um und ging nach Hause.
Mechthild, seine Ziehmutter erwartete ihn schon. Sie hatte das Geschrei gehört, konnte es aber nicht ertragen, bei der Prügelei zuzusehen. Stattdessen war schon kalter Tee zum Auswaschen seiner Wunden und diverses Verbandsmaterial bereitgestellt. Sie nötigte ihn auf einen Hocker.
„Musste das sein?“ Sie fragte fast vorwurfsvoll.
„Ich habe nicht angefangen!“ Er war beleidigt. Die anderen Jungs hatten ihn angegriffen und nur er hatte eine Strafe bekommen. Jetzt schlug Mechthild in die gleiche Kerbe. Er war sauer.
Aber dann strich sie ihm übers Haar. „Ich weiß, mein Junge. Du hast keine Schuld. Du bist einfach anders und das können sie nicht akzeptieren.“ Sie seufzte. „Lange wird das nicht mehr gut gehen.“ Solange er denken konnte, wurde er von der Dorfjugend verfolgt. Nicht einer wollte sein Freund sein. Besonders seit er so groß und kräftig geworden war, hatten sie es auf ihn abgesehen. Aber er hoffte immer noch, dass sich eines Tages alles zum Besseren wenden würde. Mechthild sah das nicht so.
In seinem Dorf in den Bergen lebten die Bewohner noch wie in uralten Zeiten. In Berdorf wurde keine Schänke geführt, es gab weder Bäcker noch Metzger, jeder sorgte selbst für sein Essen. Einzig der Dorfbrunnen, mitten im Ort, sorgte für Abwechslung im Leben der Dörfler. Er war das Zentrum allen Klatsches, jede noch so winzige Kleinigkeit wurde dort stundenlang ausführlichst erörtert. Dorran, der gerade über den Dorfplatz ging, wurde von vielen heimlich angestarrt. Er war groß, muskulös und hatte seine fremdartigen, blonden Haare zu einem Zopf geflochten, den er am Hinterkopf trug. Bis vor zwei Jahren hatte er jeden Kampf verloren, zu dem sie ihn herausgefordert hatten. Aber jetzt traute sich keiner mehr so richtig an ihn heran. Das brachte ihm manch hasserfüllten Blick ein.
Einst kam er als Findelkind in den Ort und für die Meisten war er immer noch ein Fremder. Er unterschied sich auch wirklich stark von den kleinen, stämmigen und dunkelhaarigen Bewohnern des Dorfes. Niemand wusste woher er kam, eines Tages hatte er in einem Bündel neben dem Brunnen gelegen. Mechthild, die Kräuterkundige, hatte sich schließlich seiner erbarmt und ihn mit in ihr Haus genommen. Aber das wunderte niemanden, war sie doch als sonderbar bekannt. Niemand sonst hätte ein fremdes Baby aufgenommen, oder gar aufgezogen. Ihre Eltern waren selbst Fremde gewesen, sie kamen mit dem Schiff auf diese Insel, angeblich aus dem fernen Land der Kelten. Dass es noch andere Länder auf der Welt gab, wurde von den Dörflern gern vergessen. Sie lebten auf ihrem Berg und waren es zufrieden. Man heiratete untereinander oder besorgte sich eine Braut aus Bergtal, dem nächsten und viel größeren Dorf, fast schon eine Kleinstadt. Das Bergland war dünn besiedelt, man hatte nicht viele Möglichkeiten einen Partner zu finden. Die Leute waren aber auch nicht wählerisch, Hauptsache, er war nicht zu nah verwandt. Mechthild nahm sich also des hübschen, kleinen Jungen an und nannte ihn Dorran, was im Keltischen Fremder bedeutet. Sie liebte ihn vom ersten Tag an, und bereute nie, ihn aufgenommen zu haben. Für sie gab es schließlich nirgends einen Mann, so konnte sie wenigstens Mutterfreuden genießen.
Dorran wuchs zu einem stattlichen jungen Mann heran, der, an jedem anderen Fleck in der Welt, die Mädchenherzen höher schlagen lassen würde. Nicht so in Bergdorf, dem höchstgelegenen Ort in Bergland. Hier wurde den Mädchen verboten, ihn auch nur anzuschauen, geschweige denn, mit ihm zu reden. Niemand würde ihn je als Ehemann in Betracht ziehen, also blieb ihm auch alles andere versagt. Je älter Dorran wurde, um so argwöhnischer wurde er beäugt. Es braute sich etwas zusammen. Da man nicht mehr gegen ihn ankam, fürchtete seine Ziehmutter das Schlimmste. Sie sagte nichts, aber Mechthild machte sich Sorgen um ihn. Es war Zeit für ihn fortzugehen, hier würde er sowieso keine Frau finden. Außerdem kannte sie die Dorfbewohner, irgendwann würden sie ihn davonjagen, oder Schlimmeres. Sie hatte Angst um ihn. Ihre Mutter war eine große Heilerin gewesen, und hatte ihr alles beigebracht. Wenn sie nicht so ein umfassendes Wissen über Pflanzen gehabt hätte, mit ihren Salben und Tinkturen hatte sie schon manchem hier geholfen, wäre es ihr ebenso ergangen wie ihrem Sohn. Besser sie selbst überredete ihn zu gehen, jetzt, wo er vielleicht noch nicht in unmittelbarer Gefahr war.
Heute war Dorrans Geburtstag, der zweiundzwanzigste April, er wurde sechzehn. Eigentlich war das nicht der richtige Tag, aber ganz falsch war er auch nicht. An diesem Tag vor sechzehn Jahren hatte Mechthild ihn am Brunnen gefunden. Sie machte wie immer etwas besonderes an seinem Geburtstag für ihn. Heute gab es Hasenragout mit Knödeln und als Nachtisch einen Zimtpudding mit eingemachten Kirschen. Er aß mit großem Genuss, und bedankte sich bei Mechthild für ihre Mühe. Sie lächelte ihn wehmütig an und legte ihm die Hand auf die Schulter, damit er noch sitzen blieb und erklärte ihm, warum er fortgehen müsse.
„Aber ich habe ihnen doch nie etwas getan, sie haben doch immer mich angegriffen. Warum muss ich jetzt fort?“ Er verstand es immer noch nicht.
„Es ist besser so, hier in der Gegend um Bergtal sind alle furchtbar abergläubisch, nur weil Du anders aussiehst, werden sie Dir nie vertrauen. Für die Dorfbewohner bist und bleibst Du ein Fremder, egal wie lange Du hier bist. Meine Eltern sind vor fünfzig Jahren hierhergekommen, sie starben als Fremde. Ich werde nie einen Mann haben, aber zum Glück hatte ich Dich. Du warst meine ganze Freude. Aber jetzt... Ich habe Angst um Dich, sie schweigen sofort, wenn ich irgendwo dazu komme. Das gefällt mir nicht. Dorran, es wird Zeit für Dich, mich zu verlassen. Such Deine eigenen Leute, Dein Volk. Sie müssen so aussehen wie Du, groß und blond. Dort gehörst Du hin. So kannst Du eine Frau finden und ganz normal leben. Das wünsche ich mir für Dich, Sohn meines Herzens, tu es für mich, wenn schon nicht für Dich, ich bitte Dich.“ Da endlich versprach er es, er konnte seiner Ziehmutter nichts abschlagen, dafür hatte er sie zu gern. Auch wenn er sich insgeheim ärgerte. Das war einfach ungerecht.
Mechthild bestand darauf, dass er so bald als möglich fortgehen solle, jetzt im Frühjahr hatte er noch den ganzen Sommer vor sich, um vielleicht jemanden zu finden, der ihm glich. Sie gab ihm sein Wickeltuch mit, es wäre immerhin möglich, dass er dieses Wappen irgendwo wiederfinden würde. Es war ein schönes Wappen, Ein Adler auf blauem Grund mit gestickten Wolken im Hintergrund. Selbst nach den sechzehn Jahren konnte man es noch gut erkennen, es war kaum verblasst. Sonst wies nichts auf seine Herkunft hin, das Wappen war der einzige Anhaltspunkt. Dorran bezweifelte, dass dieses Tuch ihm eine große Hilfe sein würde, aber Mechthild zuliebe, nahm er es mit. Immerhin bestand ja eine vage Möglichkeit, diesem Zeichen irgendwann einmal zu begegnen. Hätte er gewusst, welche Wendungen sein Leben durch den Träger dieses Wappens nehmen würde, er hätte es auf der Stelle verbrannt.