Dorran. Isabel Tahiri
in ein Tuch eingeschlagen, wanderte er im Morgengrauen los. Er umarmte seine Ziehmutter ein letztes Mal, wiedersehen würde er sie wahrscheinlich nie wieder. Mechthild war bereits über vierzig und bis er vielleicht seine Familie gefunden hätte, konnten Jahre ins Land gehen. Das Herz wurde ihm schwer, aber er nahm sich fest vor, sie nachzuholen, sollte es möglich sein. Am Dorfrand blieb er noch einmal stehen und schaute zurück. Bis jetzt hatte er nichts anderes gekannt, als dieses Dorf, wie die Welt wohl aussehen würde? Er drehte sich wieder um und nach ein paar Schritten war er am Waldrand. Sein Blick fiel auf Bergtal, das größte Dorf hier in der Gegend. Er war noch nie dort gewesen, aber jetzt wollte er es auch nicht mehr kennenlernen. Er würde in den Norden gehen, bis zum Ozean, dort versprach er sich fündig zu werden. Dorran sah einen alten schmalen Pfad, der in den Wald führte und beschloss diesem zu folgen. Irgendwo musste er ja hinführen, und ihm war erst einmal egal, Hauptsache weg von Bergdorf und Bergtal. Der Pfad schlängelte sich durch den dichten Wald, ein Ende war nicht abzusehen, aber eines war sicher, der Pfad führte leicht bergab. Aber das war kein Wunder, das Dorf in dem er aufwuchs, lag auf der abgeflachten Spitze eines Berges.
Nach ein paar Stunden fand er gleich neben dem Pfad eine niedergetrampelte Stelle, und, er hörte Wasser plätschern. Hier musste eine Quelle sein. Durst hatte Dorran schon länger, also folgte er dem Geräusch des Wasser. Er fand eine kleine natürliche Mulde im Stein, die das Wasser auffing, dass oberhalb aus einem Spalt im Felsen floss. Durstig trank er ein paar Schlucke. Es schmeckte süß und frisch, nur schade, dass er kein Gefäß hatte, um etwas davon mitzunehmen. Sollte er je zu Geld kommen, würde er sich einen Schlauch aus Ziegenleder kaufen. Dorran trank noch einmal soviel er konnte und machte sich wieder auf seinen Weg in die Ferne. Nach weiteren zwei Stunden Fußmarsch lichtete sich der Wald, die Bäume wurden weniger, man konnte wieder die Sonne sehen. Schließlich hörte der Wald ganz auf und man hatte einen schönen Blick in ein kleines Tal. Dort war Felder und Obstwiesen, die sich abwechselten, offenbar sehr fruchtbares Land. Er sah Ställe und Pferche für das Vieh, in deren Mitte ein kleines Dorf angesiedelt war. Fünf Häuser nur, ein paar Scheunen, einen kleinen Kräutergarten und ein Teich, auf dem Enten schwammen. Hühner liefen überall herum, auf einer Weide stand eine Herde Ziegen, Menschen sah er keine. Er hatte Hunger, aber der salzige, gerauchte Speck würde ihn wieder sehr durstig machen. Da Dorran nicht wusste, wann er das nächste mal Wasser finden würde, konnte er ja vielleicht hier etwas zu essen bekommen. Er könnte irgendeine Arbeit verrichten, um sich das Essen zu verdienen. Außerdem sah es heimelig aus, Dorran fühlte sich angezogen von dieser kleinen Ansiedlung.
Also schlug er eine Richtung ein, die ihn auf jeden Fall am Dorf vorbei führen musste. Er ging nicht direkt darauf zu, das hatte er in Bergdorf gelernt, das würden viele als Angriff verstehen. Da zog er lieber schön Kreise, die dem Beobachter signalisierten, dass er da war. Und beobachtet wurde er ziemlich sicher. Keine Ansiedlung konnte es sich leisten, nicht die Augen aufzuhalten, ein Fremder bedeutete oft nichts Gutes. Tatsächlich kam bereits bei seiner zweiten Runde, ein Bauer aus einer der Scheunen, er hielt eine Mistgabel in der Hand und bewegte sich in seine Richtung. Dorran blieb stehen und wartete, bis der Mann herangekommen war.
„Was willst Du hier?“ Die Stimme des Bauern war barsch und er musterte ihn aufmerksam.
Dorran lächelte vorsichtig. „Ich habe Hunger, und dachte, Du hast vielleicht etwas Arbeit für mich, damit ich mir eine Mahlzeit an Deinem Tisch verdienen kann. Mein Name ist Dorran, ich komme aus Bergdorf. Wo bin ich hier?“
Der Mann schaute ihn erneut prüfend an. „Aus Bergdorf? Das glaube ich Dir nicht, da sehen sie anders aus. Nicht so wie Du, lüg mich nicht an, sonst lernst Du meine Heugabel kennen.“ Dorran stöhnte innerlich, das hätte er sich denken können, warum nur hatte er sein Dorf erwähnt. Ergeben erklärte er es. „Ja, da sind alle klein, gedrungen und dunkelhaarig, ich weiß. Aber ich bin dort als Ziehsohn von Mechthild aufgewachsen, jetzt bin ich auf dem Weg, meine eigenen Leute zu suchen und kam hier vorbei.“
Das Gesicht des Bauern erhellte sich. „Ah, Du bist der kleine Fremde, den Mechthild aufgezogen hat, komm mit, ich stelle Dich meiner Familie vor, Du bleibst natürlich zum Essen.“ Dorran wunderte sich über den Stimmungswechsel, aber ihm war es recht.
Der Mann lief los, blieb dann aber noch einmal stehen. „Ach übrigens, mein Name ist Thomas, Deine Mechthild hat meinem Elias einmal das Leben gerettet, da kann ich ihrem Sohn auch ein Abendessen spendieren, meinst Du nicht?“
Die Ansiedlung nannte sich Thomasdorf, nach dem Gründer, der ihn zum Essen eingeladen hatte. Während der Mahlzeit lernte er die ganze Familie kennen, alle saßen um einen großen, blank gescheuerten Holztisch herum, und aßen direkt aus großen Tonschüsseln. Keiner sprach ein Wort, alle beschäftigten sich vornehmlich mit den Essen. Es gab einen Eintopf aus Rüben, Kartoffeln und Speck, dazu ein wohlschmeckendes Brot. Wasser stand in Krügen auf dem Tisch. Jemand reichte ihm einen Becher. Die Namen konnte Dorran sich nicht alle merken, aber das machte nichts, es sprach ja ohnehin keiner mit ihm, außer Thomas natürlich. Der erzählte, dass er als junger Mann dieses Tal gefunden und sich hier ein Haus gebaut hatte. Dann habe er sich in Bergtal eine Frau besorgt und mit ihr und den sieben Kindern, die sie ihm geboren hatte, dieses Gehöft hier aufgebaut. Sie sei leider schon gestorben, aber er, seine Kinder und ihre Familien bewirtschafteten hier alles und kamen gut über die Runden. Was Dorran denn in Zukunft so vorhaben würde, er hätte noch eine Tochter, die würde einen Mann brauchen.
Dorran wiegelte ab. „Das Angebot ehrt mich, aber ich muss weiter. Mechthild hat mir aufgetragen, nach meinem Volk zu suchen, und ich habe es ihr in die Hand versprochen. Ich kann erst eine Verbindung eingehen, wenn ich mein Versprechen erfüllt habe.“
Sein Gegenüber machte ein enttäuschtes Gesicht. Aber er fing sich gleich wieder, er verstand. Es wäre halt praktisch gewesen, da Dorran schon mal da war. Dann hätte Thomas nicht nach Bergtal gehen müssen im nächsten Frühjahr. Aber Schwamm drüber. Man wies ihm einen Platz in der Scheune zum Schlafen zu und wünschte ihm eine gute Nacht. Dorran schlief auch ziemlich bald ein, das Essen war gut gewesen, sein Magen gefüllt. Und der selbst gebrannte Schnaps von Thomas, den dieser nach dem Essen so großzügig ausgeschenkt hatte, tat sein Übriges.
Als die Sonne aufging, wurde er von Thomas geweckt, der ihn in den Kuhstall mitnahm. Dort bekam er einen Becher noch warme Milch und ein Stück Brot. Während er aß, erklärte ihm Thomas welche Richtung er am Besten einschlagen sollte.
„Geh nach Norden, ans Meer, da findest Du deine Leute bestimmt. Ich bin als junger Mann viel in der Welt herumgekommen und die Menschen aus dem Norden sehen aus wie Du.“
Dorran erklärte, das hätte er selbst auch vorgehabt, aber es freue ihn, dass Thomas seine Meinung bestätigte. Dann verabschiedete er sich und bedankte sich noch einmal für das Essen. Als er aufbrechen wollte, steckte Thomas ihm noch ein Paket mit Wegzehrung zu.
Das war ihm fast peinlich. „Danke, das ist nett von Dir, aber ich habe nichts, was ich Dir dafür geben könnte.“
Aber Thomas winkte ab. „Das ist für meinen Elias, er ist ein fleißiger Arbeiter, und ohne Mechthild wäre er schon lange tot. Also nimm es und viel Glück auf deinem Weg.“ Dorran lächelte, bedankte sich noch einmal und ging Richtung Norden davon.
Station in Keilberg
Thomas´ kleines Tal war von dichtem Wald umgeben. Dorran suchte den Waldrand nach einem Pfad oder Weg ab, der ihn nach Norden führen würde. Erst nach einer ganzen Weile wurde er fündig und begann dem schmalen Pfad zu folgen, der neben einer Brombeerhecke begann. Stunde um Stunde wanderte er dahin, er hatte schon wieder Durst, aber er sah oder hörte nirgends Wasser. Um sich abzulenken dachte er über seine Heimat nach. Die Insel, auf der er lebte war ziemlich groß. Sie hieß Adlerhorst, weil ein vorbeifahrendes Schiff, lange bevor sie besiedelt wurde, unzählige Adler hatte fliegen sehen. Dass Adlerhorst die Heimat der großen Seeadler war, ist allerdings schon ein paar hundert Jahre her, inzwischen gab es längst nicht mehr so viele davon. In Bergdorf hatten sie ganz genau ein Nest gehabt. Er sah sich um, aber der Pfad ließ nicht erkennen, wohin es ging. Alles nur dichter Wald. Seine Heimat lag im großen Weltmeer, weit weg vom Kontinent