Gefühlslooping. Heidi Dahlsen

Gefühlslooping - Heidi Dahlsen


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fragt Lydia.

      „Natürlich. Zumal ich nicht so freiwillig wie du hier angereist bin.“

      „Wie das?“

      „Ich hatte einen Nervenzusammenbruch, deshalb musste etwas geschehen.“

      „Wahrscheinlich reagiert jeder anders auf seine Probleme.“

      „Ganz bestimmt, sonst hätten es die Psychologen einfacher mit unserer Behandlung. Eine rosarote Pille würde reichen, und alle laufen wieder wohlgemut geradeaus.“ Elfi lacht. „Wenn es doch bloß so einfach wäre …“

      „Nimmst du Medikamente?“, fragt Lydia.

      „Nein. Mit dem Chemiekram habe ich nichts am Hut. Eine Frau, die vor dir hier war, hatte so schlimme Depressionen, dass sie oft den ganzen Tag nicht aus dem Bett kam, trotz Tabletten. Aber davon sind wir ja zum Glück weit entfernt.“

      „Mehr oder weniger“, wirft Lydia ein.

      „Ach, sieh doch nicht so schwarz. Es wird nicht mehr lange dauern, und du kannst wieder optimistisch in die Zukunft schauen.“

      „Meine Freundin Jutta hatte voriges Jahr einen Nervenzusammenbruch. Bei ihr hat sich alles ganz schnell wieder von selbst eingerenkt.“

      „Wahrscheinlich war sie nur kurzzeitig Stress ausgesetzt. Bei mir hat sich alles über Jahre aufgestaut. Im Nachhinein wüsste ich gar nicht, wem ich die Schuld daran geben könnte. Es hat sich eben alles so ergeben.“

      „Wenn ich dich so reden höre, bekomme ich etwas Mut, dass ich mein Problem aufarbeiten könnte. Geht es dir jetzt wirklich besser?“

      „Ja. Ich fühle mich erleichtert und irgendwie von einer Last befreit. Mir wurde eine anschließende ambulante Gesprächstherapie angeboten. Nun fühle ich mich nicht mehr so, als würde ich nach meiner Entlassung ins kalte Wasser gestoßen. Außerdem will mein Mann nicht mehr auf Montage arbeiten. Er sucht bereits einen neuen Job.“

      „Da wird er sicher ein Machtwort sprechen, sowie du wieder in die alten Gewohnheiten fallen willst.“

      „Vielleicht wird das gar nicht nötig, und ich bekomme das schon bald allein geregelt. Mal sehen.“ Elfi schüttelt den Kopf. „Mich überfallen in meinen Träumen auch die Erinnerungen. Die Situationen, denen ich ausgesetzt war, geistern immer noch durch mein Hirn. In den ersten Wochen meiner Therapie quälte ich mich fast jede Nacht mit schreienden Kindern von einem Kinderarzt zum nächsten. Was aber noch schrecklicher war, ständig gingen mir meine Enkel auf dem Spielplatz oder im Supermarkt verloren, und ich suchte mich halbtot. Wenn ich sie endlich gefunden hatte, schauten sie mich mit großen Augen traurig an, genauso, wie sie immer gucken, wenn sie nach Hause sollen. Diese Blicke machen mich fast wahnsinnig. Glaube nicht, dass nur du Albträume hast.“

      „Ist es wirklich so schlimm?“, fragt Lydia erstaunt. „Ich dachte, ich träume meistens nur still vor mich hin … zumindest habe ich das gehofft. Und nun bestätigst du mir, dass es nicht so ist.“

      „Ich habe von zwei bis vier Uhr meine Wachphase, und du sorgst ganz schön für Unterhaltung.“

      Lydia wird rot. „Oh je. Tut mir leid … ich …“

      „Dafür kannst du doch nichts. Du musst da eben durch, wie alle hier“, sagt Elfi. „Ingrid hat schon öfter nachts für Aufregung gesorgt. Sie wurde scheinbar von Furien gehetzt und rannte schreiend durch das ganze Haus, sodass alle geweckt wurden. Auch das hat sich gegeben.“

      „Oh Gott“, sagt Lydia zutiefst schockiert.

      Elfi schmunzelt. „Jeder Mensch muss irgendwie gegen seine Dämonen kämpfen und mit denen ins Reine kommen. Du bist deinen nicht mehr allein ausgeliefert, sondern bekommst hier Unterstützung. Das sollte dich beruhigen.“

      „Letzte Nacht fühlte ich mich von einer Riesenschlange beobachtet“, erzählt Lydia. „Das war unheimlich, denn ich habe sie nicht gesehen, ihre Anwesenheit nur gespürt. Irgendwann stürzte sie sich blitzschnell auf mich und erstickte mich fast.“

      „Hmm“, macht Elfi und schmunzelt. „Frag mal Ingrid. Sie ist Fachfrau für Traumdeutungen. Die kann dir das genauer erklären. Ich würde darauf tippen, dass das Vieh für deinen Verfolger steht, der dich zum Schweigen bringen will.“

      „Aber das ist doch schon so lange her“, sagt Lydia ungläubig.

      „Du hast ein altes, nicht aufgearbeitetes Problem und ganz schön daran zu knabbern.“

      Lydia nickt und beginnt zu erzählen: „Als ich sechzehn war, habe ich mich in einen Jungen verliebt, und das mit so einer Wucht, dass mir im wahrsten Sinn Sehen und Hören verging. Heute schätze ich die Situation auch anders ein und weiß, dass er nur ein Macho war und alle Mädchen, die sich auf ihn eingelassen haben … na, du weißt schon. Nur einmal habe ich ihm nachgegeben, und schon war es passiert. Ich war schockiert, weil er bereits am nächsten Tag so tat, als würde er mich nicht kennen und mit der Nächsten vor meiner Nase rummachte. Ich verstand die Welt nicht mehr und war verzweifelt.“

      „Die jugendliche Liebelei bringt doch fast jeden durcheinander“, stellt Elfi fest und schmunzelt. „Wenn ich an meine erste große Liebe denke, bin ich froh, dass er bis heute nichts davon weiß. Zum Glück.“

      „Die hat bei dir bestimmt keine Folgen hinterlassen“, sagt Lydia. „Meine Eltern haben mir die Hölle heiß gemacht. Kaum war mir bewusst, dass ich wirklich schwanger war, lag ich schon im Krankenhaus und wurde zur Abtreibung gezwungen.“

      „Oh Gott“, sagt Elfi schockiert und fügt leise hinzu, „das ist ja furchtbar.“

      „Zwanzig Jahre ist das her“, sagt Lydia. „Trotzdem kann ich mich noch an fast jedes Detail erinnern, obwohl ich damals das Gefühl hatte, in Trance zu sein.“

      Sie schüttelt leicht den Kopf, um die Erinnerungen zu verdrängen, was ihr natürlich nicht gelingt. Erstaunt muss sie feststellen, dass sie Elfi so spontan davon erzählen konnte, denn bisher hat sie über diesen Vorfall nur mit ihrer Freundin Christine und der Ärztin, die sie von der Notwendigkeit einer Therapie überzeugt hat, sprechen können.

      Elfi schaut zur Uhr und erschrickt.

      „Oh, wir müssen los. Schließlich sind wir nicht zur Erholung hier. Zum Glück sorgt der Therapieplan laufend für Abwechslung, sonst würden wir aus dem Grübeln gar nicht rauskommen.“

      Unverzüglich machen sie sich auf den Weg zum Entspannungsraum.

      8.

Grafik 13

      Lydia kann das autogene Training noch nicht genießen, denn ihre Seele ist gewaltig in Aufruhr. Die Erinnerungen schießen ständig in ihr Bewusstsein und vermischen sich mit den Empfehlungen, die ihr Frau Doktor Lachmann-Friedrich gegeben hat. Sie bemüht sich, die Tipps anzuwenden, kann sich jedoch nicht auf die Entspannung konzentrieren.

      Sowie der Therapeut sie auffordert, das Training zu beenden, stellt sie fest, dass sie unruhiger denn je ist und sich wie gerädert fühlt.

      Da Elfi anschließend an der Gruppentherapie teilnehmen möchte, geht Lydia allein ins Zimmer zurück. Als sie sich umschaut, bleibt ihr Blick am Nachttisch hängen, auf dem ihr nagelneues Tagebuch liegt.

      Sie überlegt kurz und beginnt zu schreiben. Schon bald fliegt der Stift regelrecht übers Papier.

      Nachdem sie alles, was ihr in diesem Augenblick wichtig erschien, notiert hat, dreht sie sich zur Wand und ist unmittelbar darauf eingeschlafen.

      9.

Grafik 14

      Als Elfi zurückkommt und die beschriebenen Seiten in Lydias Tagebuch sieht, grinst sie.

      „Es ging wirklich wie


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