Himmelsfrost. Linda V. Kasten
höher auf den Rücken des Drachens. Er folgte ihr.
»Bereit, Prinzessin?«
Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. »Bist du dir sicher?«
»Schon vergessen? Ich habe es versprochen. In guten wie in schlechten Zeiten.«
Als der Drache wiederholt seine eisblauen Flammen über den Himmel tanzen ließ, erleuchtete er die Silhouetten eines Paares, das dem Ozean entgegenstürzte.
Ein glasklares Lachen erfüllte die Nacht, vermischt mit dem Duft nach Freiheit.
Füße versetzt. Knie gebeugt. Schultern leicht hochgezogen. Rechte Hand am Kiefer. Linke Hand kurz vor dem Gesicht.
Einatmen.
Krach.
»Ich hab dir schon tausend Mal gesagt, du sollst vorsichtig mit diesem alten Ding sein!«
Stöhnend richtete ich mich auf und klopfte mir Holzspäne und Stroh von der Kleidung.
Stirnrunzelnd betrachtete ich den Boxsack, der von der Decke gestürzt war und einen Hagel aus Holz und Dreck auf mich hatte niederregnen lassen.
»Ich hab dich gewarnt, dass das passiert, aber du wollest ja nicht hören.« Meine Tante stand Stirnrunzeln am Scheunentor und begutachtete das Loch in der Decke.
»Das ist nicht meine Schuld! Ich hab Tom bestimmt ein Dutzend Mal gefragt, ob er mit mir ins Dorf fährt und irgendwas zum Reparieren besorgt.«, verteidigte ich mich.
Seufzend sah Cora mich an. »Du weißt, dass das nicht so einfach ist Skyler. Kein Mensch stellt diese Dinger mehr her. Außerdem müssen …«
»… müssen wir vorsichtig sein, mit wem wir Geschäfte treiben, schon klar Cora, ich weiß.«
Cora kam zu mir und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Wir suchen dir was anderes zum Verprügeln.«
Ich lächelte sie an. »Schon okay, ich krieg das wieder hin.«
Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ich weiß Vögelchen, ich weiß. Es ist nur…«
Cora holte tief Luft, als müsste sie sich wappnen für das, was sie als Nächstes sagte.
»Es sind nun schon vier Wochen vergangen und ich hab einfach das Gefühl, dass du… naja, dass du zu streng zu dir selbst bist Sky. Weißt du, es ist okay, wenn man trauert.«
Ich schluckte schwer und zwang, mich ruhig zu atmen.
»Ich weiß Cora und mir geht es gut. Wirklich.«, versicherte ich ihr.
»Gut!«, sie streckte die Hand aus und zupfte etwas Stroh aus meinem Haar.
»Loretta hat heute früh Blumen vorbeigebracht. Ich dachte, du könntest sie… du weißt schon, der Ort sieht so trostlos aus und die Blumen würden sich dort bestimmt gut machen.«
Ich wusste, dass sie das nicht als Vorwurf meinte und trotzdem versetzte es mir einen Stich. »Okay.«
Die Zweige einer tief hängenden Weide kitzelten mich im Gesicht, als ich mit den Blumen in der Hand den Hügel hinab lief.
Der Friedhof von Nebelhöhe war ein düsterer Ort. Kein Ort, an dem man begraben werden wollte, kein Ort, an dem ich Sie begraben wollte.
Quietschend öffnete sich das Friedhofstor. Es war so alt und verrostest, dass es schwer zu glauben war, dass jemals eine Menschenseele diesen Ort betrat.
Und das tat auch kaum einer. Dieser Ort war den Toten vorbehalten.
Ich ließ mein Blick über die trostlose Ebene gleiten.
Nebelhöhe war an sich kein schlechter Ort. Wahrlich ein wenig düster und nach Einbruch der Nacht trieben sich auf den Straßen vor der Kaserne ein paar eigenartige Gestalten herum, doch mit den weiten Wiesen und dem Wald, der hinter dem Friedhof aus der Erde schoss, sowie den Bergen in der Ferne, war die Stadt ein schönes Fleckchen Erde. Schöner als manch anderer Ort in Elianya.
Als ich den schmalen Pfad zwischen den Gräbern entlang lief, ließ ich meine Augen über die Grabsteine wandern. Einige waren so heruntergekommen, man konnte kaum die Innenschrift lesen. Leise flüsterte ich nacheinander ihre Namen. Allaknox Wallstein, Venica Ebergruen, Maximilian von Ebendall…
Ein Schauer lief mir über den Rücken. Meine Mutter hatte mir einst erzählt, dass wenn man die Namen der Toten an ihren Gräbern laut aussprach, sie um Mitternacht die Chance bekamen, für genau die Zeit, in der die Uhr zwischen Zukunft und Vergangenheit hing, auf der Erde zu wandeln.
Sie konnten niemandem etwas tun, nichts bewirken und nicht gesehen werden, doch sie konnten nach ihren Liebsten schauen und über sie wachen. Für eine Minute konnten sie zurück zu den Lebenden.
Als ich an ihrem Grab angekommen war, hielt ich inne. Ich zögerte, ihren Namen auszusprechen. So sorgsam hatte ich meine Gefühle die letzten vier Wochen weggesperrt. Der Gedanke, dass sie mich so sah, war unerträglich. Sie würde wissen, dass ich mein Versprechen gebrochen habe. Mein Versprechen, ohne sie weiterzumachen. Ohne sie glücklich zu werden.
Ich holte tief Luft. Das war doch nur ein alberner Aberglaube!, ermahnte ich mich.
»Soey.«
So lange hatte ich es geschafft, meine Trauer wegzusperren. Aus Angst daran zu zerbrechen. Doch als ich ihren Namen aussprach, war es wie ein Pfeil ins Herz.
Und plötzlich sprudelten all die Erinnerungen und Gefühle an die Oberfläche.
Sie sprudelten aus dem dunkelsten Teil meines Herzens wie das Wasser aus einem gebrochenen Damm.
Tränen liefen über meine Wangen und ich kniete mich vor das Grab, um die Blumen abzulegen. Der Boden war feucht und ich krallte meine Hände in die Erde.
Ein klägliches Schluchzen drang aus meiner Kehle. Ich presste eine Hand auf meinen Mund, um nicht zu schreien. Ich wollte so gerne schreien. Schreien, bis meine Kehle brannte, bis meine Stimme versagte. Stattdessen legte ich meinen Kopf auf die feuchte Erde und ließ meine Tränen in den Boden sickern.
Soey.
Rotes, langes Haar. Karamellfarbene Augen und ein Herz größer als die Windberge.
Vom ersten Augenblick an waren wir unzertrennlich. Zwei Waisen, die sich fanden, als sie sich am meisten gebraucht hatten.
Ich hatte wenigstens noch Cora, doch Soey hatte niemanden. Wir fanden sie eines Nachts halb erfroren in unserer Scheune. Sie war die einzige Überlebende eines Angriffes des Lixh-Clans auf ein kleines Dorf nahe Nebelhöhe.
Wir waren beide erst elf Jahre alt und da man von einem Elfjährigen, mehr tot als lebendigen, Mädchen keine Gefahr zu erwarten hatte, nahm Cora sie bei uns auf.
Wir lebten erst seit wenigen Tagen in Nebelhöhe, als Soey zu uns stieß.
Meine Eltern kamen bei einer ihrer Reisen hinüber zu den Feuerinseln ums Leben. Man erzählte uns, dass ihr Schiff von einem Sturm erfasst wurde. Sie und ihre Besatzung wurden zwei Tage später tot an der Küste Emyrias gefunden. Auf dem Schiff befand sich auch Coras Mann. Er war Heiler und Professor an der Wächterakademie Loralliea gewesen. Alecander deLarrison.
Als Cora die Kunde erreichte, verließen wir das kleine Dorf Nahe der Küste und reisten Richtung Süden über die Windberge auf der Suche nach einem abgelegenen Dorf, wo man Fremde ohne Fragen aufnahm und jeder sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte.
Cora war der festen Ansicht, dass das Schiff meiner Eltern sabotiert worden war. Wie ich später erfuhr, hatten meine Eltern Feinde im Lixh Clan und auch hohe Persönlichkeiten Nerehlieas waren nicht gut auf sie zu sprechen gewesen.
Vier Jahre später lernte meine Tante einen Lichtkrieger namens Thomas McRuper kennen.
Als