Himmelsfrost. Linda V. Kasten

Himmelsfrost - Linda V. Kasten


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Drei Finger verlor der Mann an diesem Tag. Ich habe ihn seither nie wieder gesehen. Das war der Moment, an dem ich anfing jeden Tag zu trainieren. Ich übte an allem, was ich finden konnte, ging jagen in den Wäldern und kletterte stundenlang Dächer und Bäume hinauf. Den Blick des Mannes an jenem Tag hatte ich nie vergessen. Überraschung mit einer Spur von Bewunderung.

      Als ich die alte Schenke erreichte, ließ ich meine Kapuze vom Kopf gleiten und trat ein. Draußen war die Sonne bereits untergegangen und es strömten immer mehr Menschen in den kleinen Laden. Ich kannte nur die wenigsten Leute. Nebelhöhe war ein Ort, an den man kam, wenn man etwas zu verbergen oder genug vom Rest der Welt hatte. Es wurden keine Fragen gestellt und die meisten Menschen hier waren nur auf der Durchreise. Die Hälfte der Männer in der Bar waren in lange Umhänge gehüllt und verbargen ihr Gesicht hinter Bierkrügen und Kapuzen.

      Als ich an den Tresen trat, blickte der Wirt erfreut auf.

      Er war ein stämmiger Mann mittleren Alters. Die meiste Zeit war er grummelig und nicht besonders nett zu seinen Gästen, doch mich schien er zu mögen. Er war einer der wenigen Leute aus Nebelhöhe, die ich tatsächlich kannte und auch mochte. Unsere Beziehung war einfach und ungefährlich. Er stellte keine persönlichen Fragen über mein Leben und ich keine über seins. Wenn ich mit einer neuen Verletzung oder geröteten Augen in die Bar kam, tat er so, als würde er es nicht bemerken und stellte mir irgendein Gebräu vor die Nase. Durch ihn erfuhr ich die neusten Gerüchte, dafür brachte ich ihm regelmäßig Wild mit, welches ich ihm Wald schoss. Nach Soeys Tod ließ ich mich zwei Wochen lang nicht blicken und als ich eines Abends plötzlich wieder an seinem Tresen saß, klopfte er mir zweimal fest auf die Schulter und stellte zwei Krüge Bier vor mir ab, die wir beide schweigend austranken. Dann widmete er sich wieder seiner Arbeit und tat so, als wäre nichts gewesen und dafür war ich ihm unendlich dankbar.

      Der einzige Hinweis, dass so etwas wie Zuneigung zwischen uns existierte, war, dass er mich seit dem Tag, an dem ich dem Mann vor vier Jahren seine Finger genommen hatte, Katayga nannte. Als ich ihn fragte, was dies bedeutete, schmunzelte er und erwiderte, es hieß kleine Kriegerin und wäre aus einer Sprache, die schon lange vergessen sei.

      »Taris, schön dich zu sehen mein Mädchen!«, begrüßte er mich nun. Taris. So hieß ich für alle aus Nebelhöhe. Nur die wenigsten kannten meinen richtigen Namen.

      »Ein Met bitte, Evenak.«, begrüßte ich den Wirt meinerseits.

      »Kommt sofort.«

      Ich blickte mich unauffällig in der Schenke um. Als Evenak einen Krug mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit vor mir abstelle, fragte ich ihn, ob es irgendwelche Neuigkeiten in der Stadt gab.

      Der Wirt schüttelte den Kopf. »Alles ruhig wie immer.«

      »Niemand Neues in der Stadt?«, hackte ich weiter nach.

      »Vor drei Tagen war hier ein Pärchen auf Durchreise. Wollten zu den Kristallfällen oder so. Schreckliche Leute. Haben ständig von Glück und Kindern und so 'nem Scheiß geschwafelt.«

      »Fürchterlich.«, stimmte ich ihm zu und nahm einen Schluck Met.

      »Sonst nichts?«

      Evenak schüttelte langsam den Kopf und lehnte sich über den Tresen, um einen nicht vorhandenen Fleck wegzuputzen. Ich hob wenig hilfreich mein Glas. »Rechts von dir sitzt ein Mann, er beobachtet dich, seit du die Bar betreten hast. Soweit ich weiß, ist er seit gestern in der Stadt.«, raunte er mir zu.

      Ich unterdrückte den Drang, mich umzudrehen und hob fragend eine Augenbraue.

      Evenak schüttelte den Kopf. »Hab den Kerl noch nie gesehen.«

      Nachdenklich trank ich einen Schluck. »Ich hör mich für dich um, wenn du willst.«

      Ich nickte. »Danke.«

      Vorsichtig ließ ich die Klinge unter meinem Lederband hervorgleiten und versuchte in der Spiegelung einen Blick auf den Mann zu erhaschen, jedoch sah ich nichts als einen verschwommenen dunklen Fleck mit Kapuze. Was währe, wenn der Typ etwas mit Soeys Tod zu tun hatte? Vielleicht gehörte er zum Lixh-Clan?

      Aber wieso war er dann seit gestern in der Stadt und ich bemerkte ihn erst jetzt? Wenn er wirklich hier war, um mich zu töten, hätte er es nicht schon längst getan?

      Vielleicht war ich auch nur, nach allem, was Cora mir offenbart hatte, viel zu paranoid.

      Meine Gedanken begannen sich immer weiter im Kreis zu drehen, bis ich zu dem Schluss kam, dass erstens der Honigwein nicht besonders hilfreich dabei war einen klaren Gedanken zu fassen und ich zweitens meine Antworten nur von einer Person bekommen konnte.

      Also ließ ich ein paar Münzen neben meinem leeren Glas auf den Tressen liegen und verließ die Schenke.

      Auf dem Weg hinaus erhaschte ich einen kurzen Blick auf den Mann. Er hatte sich die Kapuzen des Umhangs tief ins Gesicht gezogen, weshalb ich nur die Konturen eines markanten Kinns und aufeinandergepresste Lippen erkennen konnte.

      Kurz bevor sich die schwere Holztür hinter mir schloss, sah ich in der Spiegelung meiner Klinge, wie der Mann sich eilig erhob.

       Evenak hatte also Recht, er hatte mich beobachtet und jetzt folgte er mir. Verdammt!

      Schnell schaute ich mich um. Rechts von mir stapelten sich ein paar Kisten, die jedoch nicht hoch genug waren, um sich dahinter zu verstecken, jedoch …

      Mit einem Satz sprang ich auf die Kisten, drückte mich ab und bekam die Dachkante zu fassen. Die Ziegel waren locker und noch nass vom letzten Regenschauer und ich krallte meine Hände fest in die Lücke zwischen den Ziegeln, um nicht abzurutschen. Während ich mich so unsichtbar wie möglich machte, öffnete sich die Tür der Schenke und eine Gestalt in einem langen schwarzen Umhang trat ins Freie.

      Im Stillen verfluchte ich Nebelhöhe dafür, dass es keine Strohdächer besaß. Na schön, ich musste zugeben, dass dies bei den Wetterbedingungen vermutlich eine schlechte Idee war, jedoch machte es einem das Springen von Dach zu Dach erheblich einfacher.

      Die Gestalt blickte sich kurz um und verschwand dann in eine Gasse neben dem Gebäude. Ich schlich die Dachkante entlang und folgte ihr leise. Der Mann war nun genau unter mir. Ohne zu zögern, zückte ich meinen Dolch und sprang. Ich wäre genau auf seinen Schultern gelandet, wenn er nicht im letzten Moment ausgewichen und mich mit einer schnellen und geschickten Bewegung gepackt und gegen die Hausmauer gepresst hätte.

      Er musste gewusst haben, dass ich ihn beobachtete. Ich verpasste ihm einen Schlag gegen den Kehlkopf und duckte mich unter seinem Arm hervor. Ich holte mit einem Dolch aus, doch er war schneller und umfasste mein Handgelenk. Durch eine neunzig Grad Drehung entkam ich seinem Griff wieder. Durch eine schnelle Bewegung stand ich nun hinter ihm und verpasste ihm einen Tritt in die Kniekehlen, der ihn zu Boden gehen ließ, doch er reagierte genauso schnell und zog mich mit sich. Das Ganze endete damit, dass er schließlich auf mir lag und meine Hand mit dem Dolch auf den Boden drückte, während ich ihm die Fingernägel meiner anderen Hand in die Pulsschlagader bohrte.

      Während des Kampfes war seine Kapuze heruntergerutscht und ich blickte in zwei eisblaue Augen und ein Gesicht nicht viel älter als mein eigenes. Sein Kiefer zuckte vor Anstrengung und Strähnen seines blonden Haars fielen ihm ins Gesicht.

      »Das war gar nicht mal so schlecht.«, keuchte der Fremde.

      Mein Blick wanderte zu seinem Handgelenk, das ich noch immer umklammert hielt. Die Klinge war unter meinem Lederarmband hervorgeschnellt und lag nun knapp über seiner Plusschlagader. »Wenn du nicht willst, dass ich dich aufschlitze, solltest du lieber von mir runter gehen.«, fauchte ich und drückte die Klinge gerade so fest gegen seine Haut, dass sich ein kleines Blutrinnsal bildete.

      Langsam richtete sich der Fremde auf und gab mich frei. Mit einem Satz sprang ich auf die Füße und hielt meinen Dolch schützend vor mich.

      Abwehrend hielt er die Hände hoch. Gerade als er den Mund öffnen wollte, um etwas zu sagen, trat eine Gestalt hinter ihm aus dem Schatten.

      Ihm war mein Blick nicht entgangen, weshalb er sich alarmiert


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