Himmelsfrost. Linda V. Kasten
heimgesucht wurden. Die Natur und ihre Elemente dürfen nicht aus dem Gleichgewicht geraten. Es war egoistisch von mir wegzulaufen, das weiß ich jetzt, aber ich würde es wieder tun, Sky. Wir, dein Vater und ich, wir würden es wieder tun, nur damit Du in Sicherheit bist. Du bist das Wertvollste, das wir besitzen und diese, wie auch jede andere Welt, hat dich nicht verdient.
Es ist grausam von uns, dich so damit zu konfrontieren und es tut uns so unendlich leid, dass wir nicht mehr bei dir sein können.
Doch gleichgültig, für was du dich entscheidest, Sky, denk immer daran, du schuldest dieser Welt gar nichts. Wenn du dich dafür entschließt, einfach dein Leben weiterzuleben, wird dich niemand dafür verurteilen, weder dein Vater noch Cora und am allerwenigsten ich.
Ich bin mit dir weggelaufen, damit du ein sicheres Leben führen kannst. Ohne gejagt zu werden und jede Nacht voller Angst einschlafen zu müssen.
Du hast sicher von ihm gehört. Natürlich hast du von ihm gehört. Dem Lixh-Clan. Ein Haufen von Verrätern, die sich für etwas Besseres halten und jeden, der kein Wächter ist verachten und der Meinung sind, dass jeder Wächter alle Elemente beherrschen sollte und wir den anderen Welten nichts schuldig sind.
Aber ich sollte sie vermutlich nicht verurteilen, schließlich hab auch ich alle im Stich gelassen.
Der Grund, dass ich diesen Brief schreibe, ist, dass ich nicht weiß, wie lange ich noch zu leben habe. Dein Vater und ich haben etwas herausgefunden, dem wir auf den Grund gehen müssen.
Du musst wissen, dass du in Gefahr bist. Als ich vor vielen Jahren eine Prophezeiung an den Kristallfällen erhalten habe, dachte ich, sie beziehe sich auf mich, aber es scheint so, als hätte sie dich gemeint. Das bedeutet, dass du diejenige bist, die für das Gleichgewicht der Welten verantwortlich ist und das somit du es bist, hinter der der Lixh-Clan her sein wird.
Aber hab keine Angst, wir haben dafür gesorgt, dass sie dich niemals finden.
Du hast sicher eine Menge Fragen und Cora wird dir alles beantworten, wenn du sie darum bittest.
Gib ihr bitte nicht die Schuld daran, dass sie dir nicht die Wahrheit gesagt hat. Sie hat nur das getan, worum wir sie gebeten haben.
Wir lieben dich, Skyler! Vergiss das nicht. Wir werden immer über dich wachen, egal wo du bist und welche Entscheidungen du triffst.
Sei stark, kleiner Vogel!
Deine dich über alles liebenden Eltern,
Arabella & Geoffrey
Eine Träne tropfte auf den Brief.
Es schmerzte, die feine Handschrift meiner Mutter zu sehen und zu wissen, dass ihre Finger diesen Brief berührt hatten. Die Tatsache, dass ich mich nie von ihnen verabschieden konnte.
Ich legte den Brief beiseite und betrachtete die zweite Seite:
Jemand hatte sorgfältig die fünf Symbole der Wächter auf das zweite Blatt gezeichnet, vermutlich mein Vater.
Unter jedem Symbol stand jeweils das Element mit Übersetzung in noctarialïum.
Das erste Symbol war ein Dreizack, der an eine Welle erinnerte: Wasserwächter, Wayloc.
Unter einem Blatt, auf dem ein kleines, verschnörkeltes Symbol prangte, stand: Wächter der Natur - Naravaî.
Die Wächter der Lüfte hatten meiner Meinung nach das bemerkenswerteste Symbol:
Zwei weiße Flügel, deren Spitzen einen Kreis bildeten: Mallyc.
Fasziniert strich ich mit dem Finger über die Zeichnung. Sofort bildete ich mir ein, von einem leichten Luftzug im Nacken gekitzelt zu werden. Schnell zog ich die Hand wieder weg und schaute mir den Rest der Seite an.
Die nächste Zeichnung konnte ich nicht richtig deuten. In der Mitte war ein verschnörkeltes Symbol zu sehen. Es war schwarz wie Asche und schien an den Rändern zu lodern, als hätte jemand die Tinte in Brand gesetzt und über das Papier gekippt.
Ich streckte meine Hand aus, um es zu berühren, zog sie aber rasch wieder weg, als ich plötzliche Hitze spürte, die durch meinen Körper schoss.
Schon bevor ich die Unterschrift sah, wusste ich, dass dies das Symbol der Feuerwächter war: Fabylis
Das Symbol unter dem der Feuerwächter war das Symbol der Eiswächter, Dillian:
Das Bild zeigte eine Kugel aus Eis, die aussah, als werde sie in tausend Teile gesprengt. In der Mitte der Eissplitter befand sich ein merkwürdiger Gegenstand. Ich besah mir den Gegenstand genauer, konnte aber nicht nachvollziehen, was er darstellen sollte. Vielleicht einen Kompass?
Ich betrachtete die Symbole eine Weile, bevor ich den Brief zur Seite legte und nachdenklich in die Ferne schaute. Cora saß schweigend neben mir und schaute gedankenverloren in die Ferne. In ihren Augen spiegelte sich der Anflug eines schlechten Gewissens.
Das war alles zu viel. Ich sollte plötzlich eine Wächterin des Eises sein? Wieso hatte ich dann all die Jahre meine Magie nicht gespürt? So etwas musste man doch wissen, oder etwa nicht? Ich versuchte, in mich hinein zu horchen, doch dort war absolut gar nichts. Ich fühlte mich leer und hintergangen.
Ich saß vor unserem kleinen Kamin im Wohnzimmer und nippte an einem heißen Becher Kräutertee.
»Ich versteh immer noch nicht, was das Ganze mit Soey zu tun hat.«
Tom starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Er saß ein Stück von uns entfernt, sodass er sich möglichst weit weg vom Kaminfeuer aufhielt. Mir war früher schon aufgefallen, dass er sich, so gut es ging, von offenem Feuer fernhielt.
Vermutlich eine Gewohnheit aus der Zeit, als er noch ein Wächter des Eises war.
»Wir sind uns nicht ganz sicher, aber es könnte eine Verbindung mit dem Lixh-Clan bestehen.«, antworte Cora, die in eine Decke gehüllt neben mir saß.
»Inwiefern? Warum sollte der Lixh-Clan Interesse daran haben Soey zu ermorden?«
Cora schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie keines natürlichen Todes gestorben sein kann. Da war noch etwas anderes im Spiel.«
»Wir glauben, dass der Lixh-Clan sie für dich gehalten haben könnte.«, fügte Tom hinzu.
Ich fuhr mir aufgewühlt durchs Haar.
»Ich brauche ein wenig frische Luft.«
»Bleib nicht zu lange weg und entferne dich nicht von der Stadt.«, rief mir Cora hinterher, als ich mich erhob und Richtung Tür ging.
»Und nimm dein Schwert mit.«, fügte Tom hinzu.
Ich hüllte mich in meinen Mantel und trat vor die Tür. Kurz prüfte ich, ob meine Messer alle an ihrem Platz waren und machte mich auf den Weg ins Dorf.
Seit dem Tag, an dem Cora mit mir untergetaucht war, trug ich immer eine Waffe bei mir. Ein Messer steckte in meinem Stiefel, ein anderes an meinem Gürtel und ein drittes, kaum sichtbar und gerade groß genug, um jemanden damit die Kehle aufzuschlitzen, war unter dem Lederarmband an meinem Handgelenk befestigt.
Ich legte es nie ab. Niemals. Es war ein Geschenk von Soey. Sie hatte es, ein Jahr nachdem wir sie aufgenommen hatten, in einer Gasse hinter der Schenke gefunden. Es sollte mich beschützen. Und das tat es auch. Als ich dreizehn war, schlitzte ich einem Mann den Arm auf. Er war betrunken und versuchte, mich an den Haaren zu packen. Damals putzte ich in der Schenke, um Cora zu helfen, ein bisschen Geld zu verdienen. Eine Woche später kam er wieder.