Kirche im Nachkriegs-Mecklenburg um 1950-60. Jürgen Ruszkowski
nach der Freizeit aus der Schulklasse geholt wurden und Rechenschaft geben sollten, was sie auf einer staatsfeindlichen Veranstaltung zu suchen hätten. Dies waren bisher nicht gehörte Töne, kam aber immer häufiger vor, besonders im Jahr 1953.
Das Jahr begann, wie schon seit mehreren Jahren, mit der großen Mitarbeitertagung in Schwerin. Wir hatten über 300 Anmeldungen, es waren genug Privatquartiere durch die Schweriner angeboten worden. Alle freuten sich auf die gemeinsamen Tage. Schon am Bahnhof aber begann die massive Behinderung. An jedem Ausgang stand ein Volkspolizist mit Maschinenpistole; wenn sie ein Zeichen der Jungen Gemeinde am Rockaufschlag eines Reisenden sahen, bedrohten sie denjenigen, nahmen ihm den Ausweis ab und schickten ihn nach Hause. Wenn nicht einige dabei gewesen wären, die als kirchliche Mitarbeiter nicht erkannt waren, und gleich auf die Bahnsteige liefen und den anderen rieten, die Zeichen abzunehmen, hätten wir wohl kaum Leute zur Tagung gehabt. So aber waren es noch fast 300 Leute.
Pastor Johannes Busch aus Essen sagte bei der Begrüßung: „Haben wir nicht einen mächtigen Herrn? Seine Gegner haben solche Angst vor ihm, dass sie meinen, sie müssen mit Waffen gegen ihn vorgehen.“ Zunächst aber durfte er gar nicht sprechen. Die Tagung war verboten worden.
Was nun? Sollten 300 Leute umsonst aus ganz Mecklenburg und woanders her nach Schwerin gekommen sein? Ein Gottesdienst konnte nicht verhindert werden. So verlegte mein Mann die Begrüßungsveranstaltung in die Schelfkirche. Pastor Busch zog einen Talar an und hielt seine Rede wie vorgesehen als Predigt. Inzwischen verhandelten mein Mann und zwei Mitarbeiter mit den staatlichen Stellen. Sie setzten es nach schwierigen Verhandlungen durch, dass die Tagung stattfinden durfte, aber es waren die ganze Zeit hindurch Mitarbeiter der Stasi dabei, die sich mit Gewalt Eintritt verschafft hatten. Als ein Jugenddiakon einem dieser Typen, der sich als Theologiestudent ausgab, den Eintritt verweigerte, musste er einige Tage später zur Polizei und sollte Spitzeldienste leisten. Er ist die Nacht drauf über die Grenze nach Westdeutschland gegangen mit Frau und kleinen Kindern. Einige andere Mitarbeiter sind nach dieser Tagung verhaftet und z. T. zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.
Von nun an wurde es gefährlich, zur „Jungen Gemeinde“ zu gehören. Täglich standen Artikel in den Zeitungen, besonders in der FDJ-Zeitung „Junge Welt“, die über angebliche Spionagedienste von Gliedern der Jungen Gemeinde berichteten. Es wurde immer wieder behauptet, „Junge Gemeinde“ hätte mit Kirche gar nichts zu tun, es wäre eine gefährliche Spionageorganisation, vom Westen gesteuert und unterstützt. Es wurde plötzlich gefährlich, das Zeichen des Kugelkreuzes zu tragen, in der Schule wurde es offiziell verboten. Anfang April wurden alle Oberschüler der Stadt ohne Angabe eines Grundes nachmittags auf den Schweriner Markt bestellt. Dort hielt der Direktor der Schule eine Rede, beschuldigte alle Glieder der „Jungen Gemeinde“ der Spionage und forderte alle Schüler auf, die „Machenschaften dieser Organisation“ zu verurteilen, indem sie die Hand gegen sie erheben. Ein Junge der 12. Klasse hatte das Zeichen angesteckt und hob natürlich nicht die Hand, da wollten Mitschüler es ihm abnehmen. Er aber hielt es mit aller Gewalt fest, bis ihn die Leute zur Polizei schleppten. Es hat viele Kämpfe gekostet, ihn wieder frei zu kriegen.
Einige Tage darauf waren die Teilnehmer des Laienspielkreises in der Paulskirche versammelt, um ein eingeübtes Passionsspiel der Gemeinde vorzutragen, als ein Teil der Oberschüler, der, der nachmittags Unterricht hatte (das wechselte jede Woche), kurz vor Beginn des Spiels ihren Mitspielern mitteilten, dass sie ganz plötzlich aus der Schule geflogen seien. Grund: Spionageorganisation „Junge Gemeinde“.
Das war ein Schlag! Manche hatten gerade das schriftliche Abitur fertig. Und nun – wer wird morgen früh dran sein und die Schule verlassen müssen? – Doch die Jungen spielten trotzdem. Es hat wohl selten ein Laienspiel die Gemeinde so berührt wie dies, waren die Jungen dem leidenden Herrn doch so nahe.
Aber was sollte werden? Wir merkten bald, dass dies nicht nur in Schwerin passierte, sondern die Agentenbeschuldigung der Jungen Gemeinde war DDR-weit. Konnten wir unsere Arbeit weitermachen – Freizeiten – Jugendkreise – Jugendtage? War es nicht zu gefährlich? Oft waren wir ratlos.
Und dann – wer konnte es fassen – kam der 10. Juni 1953; ich weiß es noch wie heute: Ich saß mit Freunden zusammen, wir hatten seit Tagen kein Radio gehört, als mein Mann in die Tür kam, die Zeitung aufschlug und vorlas: „Allen Jugendlichen der „Jungen Gemeinde“ ist Unrecht geschehen, sie sind sofort wieder in den Schulen aufzunehmen, die Abiturienten sind nachzuprüfen.“ Konnte das möglich sein? Es war nicht zu fassen. Ein Wunder war geschehen, ein großes Aufatmen begann.
Es war dann eine wunderbare Sache, dass der ganze Laienspielkreis, der noch als solcher regelmäßig zusammenkam, zum Hamburger Kirchentag eingeladen wurde. Die Jungen haben dort eine Sprechmotette dargeboten und den Kirchentagsbesuchern gesagt: „Gott erhört Gebet, wir haben es erlebt. Er gibt uns Kraft um des Glaubens willen Anfechtung und Druck zu ertragen und doch getrost zu bleiben.“
Für uns folgten noch drei Jahre in der mecklenburgischen Jugendarbeit. Äußerlich wurde vieles einfacher: Wir konnten ein Büro im Keller ausbauen, mein Mann bekam ein Auto, die Heime wurden mit Betten ausgestattet, die Zelte mit Luftmatratzen, aber die erste Zeit bleibt unvergessen.
Eines aber möchte ich noch erzählen: Im Jahre 1985, also dreißig Jahre später, kurz vor seinem plötzlichem Tod, hat mein Mann noch Mädchen und Jungen der 5. Klasse, die keine Christenlehre hatten, eingeladen zu „biblischer Geschichte und spannender Spielrunde“. Er hat die Stunde nicht mehr halten können, aber es macht deutlich, ihm war bis zuletzt das wichtigste Anliegen, die biblische Botschaft jungen Menschen weiterzusagen.
Inzwischen war mein Mann zehn Jahre Landesjugendpastor gewesen und meinte, da müsse jetzt ein Jüngerer ran. Er teilte dies dem Oberkirchenrat mit und auf seine Anfrage, wo für ihn eine Gemeinde frei sei, wurden ihm Sülze, Dargun und Gnoien genannt. Wir waren zunächst nicht gerade begeistert, denn alle drei Kleinstädte waren ziemlich weit weg von unsrem geliebten Schwerin. Nachdem wir dann aber die Gemeinden abgefahren waren, entschieden wir uns sehr schnell für Gnoien. Die Stadt gefiel uns, klein, aber ein Zentrum für viele umliegende Dörfer. Die Kirche stand wie eine Glucke inmitten der Häuser. Die Leute würden also keine weiten Wege zur Kirche haben. Mit entscheidend war auch, dass der Vorgänger fünfzig Jahre in dieser Gemeinde gewesen war und vieles eingeschlafen schien. Es reizte uns, in der Gemeinde altes zu beleben und neues zu versuchen. So sagten wir zu und entschieden uns für Gnoien. Im Herbst sollte es losgehen. Wir alle waren schon sehr gespannt.
Es war ein freundlicher Empfang, den die Gnoiener uns bereiteten. Gnoien war eine sogenannte Ackerbürgerstadt von 5.000 Seelen, Zentrum für viele umliegende Dörfer. Es gab hier noch keine Kanalisation, d.h. die Abwässer der Wohnungen und er Stallungen flossen am Rande der Bürgersteige auf der Straße ab. Das war besonders schwierig, wenn Frostwetter war oder wenn geschlachtet wurde und auch Blut und Schlachtabwässer auf die Straße flossen. Man kann sich kaum vorstellen, wie die Straßen dann aussahen, vom Geruch ganz zu schweigen. Aber schon am Sonntag beim Einführungsgottesdienst in der vollen Kirche waren wir versöhnt, wir merkten, hier waren wir willkommen.
Zuerst lud mein Mann die 12 bis 14jährigen Jungen ein und begeisterte sie mit Spiel und mit biblischer Geschichte, erst dann fing er mit der Konfirmandenstunde für Jungen und Mächen an und hatte bald große Scharen. Schon nach kurzer Zeit meldeten sich auch die größeren Jugendlichen und meinten, in Gnoien sei nichts los, ob sie nicht auch kommen könnten.
Es war klar, dass es den Stadtvätern nach einiger Zeit nicht verborgen blieb, dass im Gnoiener Pfarrhaus und in der Kirche immer etwas los war. Es war auch klar, dass ihnen das nicht gefiel, denn wir hatten ja den atheistischen sozialistischen Staat, der nach der Devise von Karl Marx herrschte: „Religion ist Opium fürs Volk“. Die Verfassung der DDR sollte zwar Religionsfreiheit garantieren, aber überall im Lande versuchte man, diese zu umgehen. So gab es dann bald Schwierigkeiten und Schikanen mit der Christenlehre. Christlichen Schüler wurden behindert und bedroht. Schlimm war auch die Zeit, als die Werbung für die Jugendweihe mit den bekannten Nötigungen begann.
Alle diese Auseinandersetzungen gingen nicht spurlos an meinem Mann vorüber. Die ersten gesundheitlichen Probleme