Kirche im Nachkriegs-Mecklenburg um 1950-60. Jürgen Ruszkowski
Als wir antworteten (das tat man damals selbstverständlich !), „weil wir mit dem Inhalt nicht einverstanden waren“, wurden wir weiter gefragt, welche Dinge uns denn nicht gefallen hätten. Als wir sagten, die Gleichsetzung der Jungen Gemeinde mit den Kräften, die einen Mord verübt hätten, sei eine schlimme Unterstellung und empöre uns natürlich, griff unvermittelt einer der Männer an die Jacke eines Schülers und versuchte, ihm das Bekenntniszeichen der Jungen Gemeinde (Kreuz auf der Weltkugel) abzureißen, das er trug. Nun hatten die meisten schon länger wegen solcher Vorkommnisse vorsichtshalber die Nadel des Zeichens umgebogen, sodass das nicht gelang, was die Situation natürlich emotional aufheizte. In wirklich heiliger Erregung rief der Schüler: „Von schmutzigen Händen lasse ich mir das Zeichen nicht abreißen“, was natürlich auch bei den anderen die Emotionen hoch gehen ließ. Sie packten ihn und wollten ihn mitnehmen. Daraufhin Walter Beltz: „Ich werde das Zeichen freiwillig nur vor dem Bischof unserer Kirche ablegen und betonen, dass es unter Zwang geschieht“. Das reichte offenbar den Mitarbeitern der Stasi, denn Walter Beltz wurde von den Männern in das am Markt befindliche Polizeirevier gebracht.
In der Erregung, in der wir uns befanden, verabredeten wir, den Ausgang der Polizeiwache zu beobachten, um zu wissen, was mit unserem Mitschüler geschah und uns dabei abzulösen. Ich weiß noch, dass ich jemand bat, meine Mutter zu benachrichtigen und ihr zu erklären, warum ich nicht nach Hause kam; nachts zwischen ein und zwei Uhr wurde er dann aber freigelassen.
Am nächsten Morgen in der Schule erfuhren wir (wieder musste ein Schüler durch die Klassen gehen und alle informieren), dass Walter Beltz der Schule verwiesen worden sei wegen Beleidigung der Arbeiterklasse, wenn ich es recht entsinne.
Im Nachhinein fällt an dieser Schilderung auf, welch starker Zusammenhalt unter uns herrschte und wie gerade in der Zeit des Drucks keiner alleingelassen wurde.
Nachdem der „Kampf gegen die USA–hörige Junge Gemeinde“ zunächst von der Zeitung „Junge Welt“ am 3. August 1952 eröffnet worden war (das Exemplar habe ich noch), wurde auf allen Ebenen versucht, die einzelnen Schüler zu verunsichern bzw einen Keil zwischen Kirche und die Glieder der Jungen Gemeinden zu treiben. („Mitglieder“, so der Vorwurf, um die Fiktion mit der Agentenorganisation zu begründen – waren wir nicht und betonten das immer wieder, weil es ja auch keine Listen gab).
Für die Situation in der Zeit sind typisch auch die Einschüchterungs– und Denunzierungsversuche gewesen, die ich an folgenden beiden Beispielen schildern möchte.
2. Beispiel
Zur Einschüchterung wurde der Umtausch der Mitgliedsbücher der FDJ eingesetzt, weil damit die Möglichkeit gegeben war, Einzelgespräche mit den Schülern zu führen, die zur Jungen Gemeinde gehörten.
Mit unguten Gefühlen erinnere ich mich an das Gespräch, das oben im Dachgeschoß der Schule stattfand und von einem Funktionär wohl der Kreisleitung mit mir geführt wurde. Immer wieder ging es um die Frage, warum ich denn als doch moderner und fortschrittlicher junger Mensch in der Jungen Gemeinde sei und dass mich diese Bindung in meiner Zukunft (kleiner Druckhinweis!) doch sehr behindern würde. Ich versuchte hilflos gegen die Vorwürfe, die denen aus der „Jungen Welt“ ähnelten, anzudiskutieren und mit schlechtem Gewissen so zu argumentieren, dass ich ja nicht immer zur Kirche ginge und an solchen Sonntagen, wo die FDJ einen Arbeitseinsatz oder andere Aktivitäten plane, auch darauf verzichten würde. Außerdem wäre ich für „Kultur“ zuständig, hätte Theaterkarten zu verteilen und Geld dafür einzukassieren, was gut mit dem Anliegen des christlichen Glaubens zu vereinen sei. Ich habe den neuen FDJ– Ausweis dann später bekommen, weiß aber nicht, was hinter den Kulissen geschehen ist und wer über dieses Gespräch informiert worden ist.
3. Beispiel
Viel stärker berührte mich in der Zeit, wo schon einige von uns den Weg in den Westen gewählt hatten, ein anderes Erlebnis. Es hätte beinahe unübersehbare Folgen für mein Leben gehabt. Eines Tages flüsterte mir aufgeregt eine Mitschülerin (Ramona Raczynski) zu, dass sie unfreiwillig Zeugin verschiedener geheimer Gespräche geworden sei und gab mir den Rat, ganz schnell auch in den Westen „abzuhauen“, es war wohl an einem Freitag, ich wäre sehr gefährdet. Was hatte sie zu berichten?
Sie wohnte im Internat der Oberschule, wo natürlich die Indoktrinierung viel einfacher war, weil durch klare Regeln der Einfluß der diensthabenden Pädagogen größer war als bei uns, die wir zu Hause lebten. Unser Deutsch– und Staatsbürgerkundelehrer Herbert L., der unsere angeblich verdorbene Klasse in der Stufe 10 übernommen hatte mit der öffentlich geäußerten Zielsetzung, aus uns eine sozialistische Klasse zu formen, hatte im Internat einen Zirkel für die Anwärter auf Parteimitgliedschaft gebildet und erklärt, er müsse alle zu starker Beobachtung meiner Person aufrufen. Der Grund, den er angab: Ich hätte in einer großen Pause in der Schule (!) von einem Agenten Brückenpläne übergeben bekommen, und solle nun in nächster Zeit diese Brücke sprengen! Das müsse natürlich durch ihre Aufmerksamkeit verhindert werden. Leider war sie bei der Weitergabe dieser Informationen an mich doch von den 2–3 Mitschülerinnen dieses Zirkels beobachtet und daraufhin zur Rede gestellt worden, was letztlich aber dazu führte, dass sie nicht mehr an den Zusammenkünften teilnehmen musste.
Was sich heute wie ein schlechter Witz anhört und auch damals natürlich keinen realen Hintergrund hatte, erschreckte meine Mitschülerin und mich natürlich fürchterlich. Da man den ersten von der Schule verwiesenen Schülern sofort ihren Personalausweis abgenommen hatte, der bei der Fahrt nach Westberlin vorgezeigt werden musste, gab es natürlich nur die Möglichkeit, einem Rausschmiss aus der Schule zuvorzukommen und die „Flucht“ dorthin zu wagen.
Was sich daraufhin dann alles in unserer kleinen Familie abspielte, war schlimm, ich will es auch nur kurz schildern. Meine ältere Schwester war bereits in den Westen gegangen, weil sie nach dem Abitur wegen Nichtzugehörigkeit zur FDJ keinen Studienplatz für ein Russisch–Dolmetscherstudium bekommen hatte; meine Mutter war Witwe und arbeitete in der Poliklinik der Stadt. So besuchte ich meine Patentante, unvergesslich, wie sie wortlos an ihre Schatulle ging, sie aufschloss und mir das gesamte in ihr enthaltene Bargeld mit den Worten übergab: „Damit Du einen Anfang hast, mein Jung“ (der Tauschsatz betrug damals etwa 4 : 1 in Westberlin).
Ich packte also meine Sachen in einen kleinen Koffer und beschloss, am Sonntag den Versuch zu wagen, nach Westberlin zu fliehen. Der in Frage kommende Zug fuhr aus Schwerin kurz vor 12 Uhr, von den sicher schwierigen Gesprächen mit meiner Mutter erinnere ich leider kaum noch Einzelheiten, jedenfalls stand der Entschluss zum Gehen fest.
Aber das weiß ich genau: Wir wollten beide noch in den Gottesdienst gehen, in die Paulskirche, in der ich konfirmiert worden und jahrelang Kindergottesdiensthelfer war.
Ich mit dem Koffer neben mir unter der Bank, aufgeregt, unsicher, meine Mutter sicher noch viel mehr. Und wenn ich auch nicht viel mitgekriegt habe, an einen Satz der Predigt erinnere ich mich deutlich: Wer wegläuft, ist ein Feigling! Das habe ich gehört in einer Predigt sicher über ganz andere Zusammenhänge, und ob das überhaupt so gesagt worden ist oder bei mir nur so angekommen ist, wer will das von hinterher klären. Fakt ist, dass ich im Gottesdienst laut zu meiner Mutter gesagt habe: „Ich bleibe hier“, und dann mit meinem Koffer wieder nach Hause gegangen bin und meine Patentante ihre 400 Mark, für uns damals viel, viel Geld – zurückbekommen hat.
Und ich flog nicht von der Schule, obwohl mich manchmal wunderte, warum dieses Ereignis nicht eintraf. (Siehe dazu die Erklärung unten, weil die Namensliste der zu Relegierenden eben im Alphabet noch nicht so weit abgearbeitet war!)
4. Beispiel
Aufsatz im Fach Deutsch zu Ostrowskis „Wie der Stahl gehärtet wurde“.
Einen Höhepunkt der Angriffe gegen die Junge Gemeinde erlebten wir im Fach Deutsch. Herr Herbert L., unser Klassenlehrer, hatte uns schon einige Tage auf einen Aufsatz vorbereitet, der über alle sechs Schulstunden eines Tages geschrieben werden würde. Als wir in die Klasse kamen, saß dort Herr Rudolf Gahlbeck, unser Kunsterziehungslehrer. Er war einer der interessantesten Lehrer für mich. Wenn er einen ansah, konnte man an nichts anderes mehr denken, so fesselnd war seine Sprache und Ausstrahlung, jedenfalls