Kirche im Nachkriegs-Mecklenburg um 1950-60. Jürgen Ruszkowski
– so still war es geworden.
Und zu den Vorwürfen gegen ihn persönlich sei zu sagen, dass sein Vater in (englischer?) Gefangenschaft nach dem Krieg die Möglichkeit erhalten hätte, zu studieren und eine Weiterführung dieses Studiums wäre eben nur in Westberlin möglich. Außerdem stimme nicht, dass er zu Einladungen bzw. FDJ–Veranstaltungen nicht ginge, sondern er wäre gewohnt, dahin zugehen, wo er zuerst eingeladen und zugesagt habe. Und die Proben, von denen die Rede sei, wären immer lange vorher bekanntgegeben, während die FDJ–Zusammenkünfte sehr spät, meistens kurzfristig angesetzt würden. Und so sei zu erklären, dass er dann dahinginge, wo er zuerst zugesagt habe. Sprach`s und ging ruhig, wie es schien, zu seinem Platz.
Und plötzlich, kaum zu fassen, brandete Beifall und Klatschen auf, und in uns löste sich dadurch die Spannung. Das war aber natürlich den Funktionären zuviel, und so sprang ein „Arbeiter“ (Funktionär) des Patenbetriebes auf und schrie außer sich vor Wut in die Menge, was das denn wohl zu bedeuten hätte, dass diesem Klassenfeind und Gegner Beifall geklatscht würde. Ob das denn heißen solle, dass der Recht und wir Unrecht haben? Und dann hörte man in die Stille laut und vernehmlich eine Mädchenstimme sagen: „Hat er doch auch!“
Darauf brach die Hölle los, die Lehrer steckten aufgeregt die Köpfe zusammen, eine Schülerin wurde wie in einer Massenhysterie nach draußen getrieben. Nach kurzer Absprache mit den Lehrern verkündete Herr B., dass diese Schülerin ebenfalls die Schule zu verlassen hätte wie die vorher genannten und bezeichneten Schüler von der Schule verwiesen worden seien.
Fortan ging die Furcht unter uns Gliedern der Jungen Gemeinde um (in der Propaganda gegen die Junge Gemeinde wurde immer von „Mitgliedern“ gesprochen, um den Organisationscharakter zu betonen, während wir wussten und dagegen argumentierten, dass es keine Mitgliederlisten gab, wie in der Presse dauernd zu lesen war), die wir noch auf der Schule waren, wann wir wohl der Schule verwiesen werden würden. Tatsächlich habe ich, nachdem ein uns sehr fair gegenüberstehender Lehrer (Herr Kremp) mich auch einmal einzeln gefragt hatte, ob wir denn nicht das Bekenntniszeichen eine Weile nicht tragen könnten, weil die anderen ja „spinnen“ und keine Ruhe geben würden, mein Zeichen in der Schule nicht mehr getragen, wodurch ich mir aber sehr schäbig vorkam und später geschämt habe.
Typisch für die aufgeheizte Atmosphäre war auch, dass am nächsten Tag ein Schüler durch die Klassen gehen und zur Kenntnis geben musste, dass „aus Versehen“ gestern ein falsches Mädchen aus der Aula getrieben worden wäre, das den Satz gar nicht gesagt hätte und folglich wieder in die Schule aufgenommen wäre; die Schülerin, die laut und deutlich gesprochen hatte: „Recht hat er ja auch“ sei eine FDJ–Sekretärin gewesen, die allerdings im Gespräch auch schwere ideologische Mängel gezeigt hätte, aber trotzdem auf der Schule verbleiben könne.
Erst viel später, nach dem 11. Juni und der Rücknahme aller Maßnahmen gegen die Junge Gemeinde und der ausgesprochenen Schulverweise, klärte sich, warum einige von uns noch nicht „geflogen“ waren. Das hatte einen ganz einfachen bürokratischen Grund, die Liste der Junge–Gemeinde–Glieder war eben noch nicht (im Sinne von Schulverweis) „abgearbeitet“ worden, und so waren auf der Schule noch die Schüler der Jungen Gemeinde verblieben, deren Nachnamen mit Anfangsbuchstaben im hinteren Teil des Alphabets begannen. Denn bei manchen von uns und denen, die bereits von der Schule relegiert worden waren, hatte die Tatsache, dass zum Beispiel Günther Rein, Friedrich–Karl Sagert (der spätere Landesjugendpastor) und ich (Schnauer) noch nicht geflogen waren, Unsicherheit, ja auch Misstrauen ausgelöst, weil man vermuten musste, dass wir nicht klar genug dazu gestanden hätten.
Soweit die Ereignisse von 1953.
Von hinterher gesehen hat diese Zeit mein Zugehörigkeitsgefühl zur Jungen Gemeinde und damit zur Kirche stark beeinflusst, und sehr wahrscheinlich hätte ich ohne diese Erfahrungen meinen Studienplatz für Hochfrequenztechnik in Dresden nicht aufgegeben und Theologie studiert.
Als ich dann zwei Jahre später in der 12. Klasse war, hatte ich mich bei der Technischen Hochschule Dresden um einen Studienplatz in Hochfrequenztechnik beworben und ihn bereits zugesagt bekommen.
Da zeigte sich die Art, mit der Pastor Wellingerhof seine Menschenkenntnis und seinen Einfluss auf Menschen einsetzte. Länger schon kannte mich PW (offensichtlich) gut.
Eines Tages sagte er so nebenbei zu mir: „Ich habe dich für eine Rüstzeit in Bützow an dem und dem Wochenende angemeldet.“ Darauf ich: „Was ist das denn für eine Rüstzeit?“ PW: „Für Leute, die in den kirchlichen Dienst gehen wollen.“ Ich sagte: „Ich gehe doch nicht in den kirchlichen Dienst, ich werde Ingenieur für Hochfrequenztechnik“. PW trocken und ohne jede Emphase: „Ja, ja natürlich, aber hinfahren kannst du ja ruhig mal!“
Und ich fuhr nach Bützow – und kam zurück und sagte zu meiner Mutter: „Ich studiere Theologie!“ Die Reaktion war: „Junge, du bist verrückt!“
Auch wenn ich die Argumentation auf dieser Rüstzeit hinterher ganz schön gefährlich fand und dann im Studium und später an dieser Entscheidung zu knacken hatte, weil sie wohl doch mehr von der Gemeinschaft mit denen, die ich aus der Jungen Gemeinde gut kannte, bestimmt war, mit denen ich gern den Weg zusammen weitergehen wollte – ich denke, dass PW gewusst hat, dass ich mich auf diesem Wochenende so entscheiden würde.
Und diese seine ruhige Art war schon beeindruckend und hilfreich, auch später noch.
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