Tod eines Milliardärs. Nick Stein
legte den Kopf schief.
»Haben wir uns nicht schon einmal gesehen?«, fragte sie. »Ihre Stimme … Waren Sie schon mal bei uns?«
Johanna erinnerte sich. Marie hatte hinter dem Tisch gestanden, wo Unter Unreifen nach der Lesung zum Kauf angeboten wurde. Sie hatte sie trotz anderer Frisur, Kontaktlinsen in anderer Farbe und ihrer geänderten Körperhaltung erkannt.
Das gefiel ihr nicht. Sie wusste, dass man Stimmen kaum verstellen konnte, und dass das Stimmgedächtnis bei den meisten Menschen viel besser als das visuelle ausgebildet war.
An eine Stimme erinnerte man sich noch nach Dutzenden von Jahren, Aussehen vergaß man schneller, Fakten noch schneller.
Sie antwortete in einer etwas tieferen Tonlage.
»Nein, leider nicht. Mein erstes Mal. Schön haben Sie es hier, wirklich. Mein Kompliment. Ein wundervoller Buchladen. So etwas haben wir bei uns in Schweden nicht.«
Das Stichwort hatte Marie von ihrer Erinnerung abgelenkt. Sie hob erfreut den Kopf und strahlte Johanna an.
»Schweden. Da habe ich vielleicht etwas für Sie, falls Sie Schweden-Krimis lieben. Kommen Sie, bitte.«
Sie zupfte sie am Mantelärmel und zog sie in eine andere Ecke des Buchladens.
»Hier. Der neuste Band von Lennard Olsson. Wird zurzeit gern gekauft.«
Johanna erstarrte. Hirndieb hieß der Band. Er war der fünfte aus einer Reihe von acht Bänden von Lennard Olsson.
Lennard Olsson gab es nicht, genauso wenig wie Georgiu Ionescu. Die acht Bände hatte alle die echte Johanna Svensson geschrieben, die Viola als Caddie beim Golf spielen in Schweden kennengelernt hatte.
Johanna hatte Viola damals beiläufig von ihrem Hobby berichtet und ihr ein paar Seiten gezeigt. Viola wollte das Werk besitzen, es war gut. Acht Bände waren bereits fertig, ohne dass Johanna Anstalten gemacht hätte, etwas veröffentlichen zu wollen. Es war doch nur ihre Freizeitbeschäftigung.
Viola hatte Johanna zu sich nach Berlin eingeladen, wo sie die junge depressive Schwedin nach ein paar schönen Tagen mit einem Fingerhut-Tee umgebracht hatte. Sie hatte ihre Leiche in ihrem Keramik-Brennofen verbrannt und war auf die Idee gekommen, die Überreste zu Ehren der Autorin in eine Skulptur einzubringen, die ihr Ebenbild sein sollte.
Aus Mangel aus Erfahrung war das schiefgegangen. Ein Arm war abgebrochen, die Nase, und der Körper hatte überall Risse. Sie hatte alles zusammengeflickt und zu verkaufen versucht; die misslungene Plastik verstaubte jetzt irgendwo in den Hinterstübchen eines Mailänder Händlers. Mit der Asche von Johanna Svensson. Der echten Johanna.
Sie selbst, so wie sie hier stand, war nur das Abbild einer Toten und trug ihren Namen.
Sie war schon wieder mit ihrem eigenen Tod und ihrer Geschichte konfrontiert worden. Diesmal mit dem Tod der Schwedin, nicht dem von Viola.
Sie war schon zweimal gestorben und stand doch hier vor ihrem gemeinsamen Werk. Ein Zombie.
Vor ihr lag Johannas Werk, unter einem männlichen Pseudonym. Band fünf, drei weitere würde der Verlag nach und nach noch herausbringen, und der Ertrag würde zum Teil auf ihr Konto fließen.
Wie merkwürdig die Gerechtigkeit manchmal spielte, dachte sie. Johanna war tot, und doch bekam eine Johanna Svensson jetzt gemeinsam mit ihrer ebenfalls offiziell toten Mörderin Viola Kroll Gewinnanteile ausbezahlt.
Ihr wurde ganz schwummrig bei diesem Durcheinander.
»Ist Ihnen nicht gut?«, sorgte sich die apfelbäckige Hobbitfrau neben ihr. »Sie sind ganz blass geworden.«
Die Verkäuferin nahm das Buch in die Hand. »Band vier ging mir auch ziemlich an die Nieren.« Sie sah Johanna an.
»Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen, Ma’m?«
»Danke, es geht schon wieder«, sagte Johanna. »Ich habe den Autor mal flüchtig kennengelernt. Ich hatte das nicht erwartet, hier plötzlich auf ihn zu stoßen. Er ist ein imposanter Mann, wissen Sie?«
Sie hatte sich wieder erholt.
Die Hobbitfrau strahlte sie an. »Da sind Sie eine der wenigen Glücklichen«, freute sie sich für Johanna. »Niemand kennt ihn so richtig, er lebt wohl sehr zurückgezogen.«
»Schweden ist groß, und wir sind nur sechs Millionen«, warf Johanna ihr als Entschuldigung hin. »Die langen Winter machen uns alle ein wenig depressiv und menschenscheu. Aber wenn wir mal auftauen …«
Johanna lächelte Marie an. »Ich hatte gerade so einen Flash. Wenn Sie die Bücher kennen, verstehen Sie das vielleicht.«
Sie sah auf ihre Uhr. Eigentlich hätte sie hier gern noch ein wenig rumgestöbert, aber ihre Begleitung war ihr zu wissbegierig.
»Ich muss leider weiter. Aber ich werde wiederkommen«, versprach sie.
Marie brachte sie zur Tür und wünschte ihr alles Gute.
Johanna war immer noch schockiert, als sie die 5th Avenue zum Park überquerte. Fast wäre sie angefahren worden. Überall, wo sie hinkam, war sie tot oder verschwunden. Weg. Beseitigt.
Ein Gefühl der Unwirklichkeit beschlich sie. Vielleicht war sie tatsächlich tot, beim Autounfall umgekommen, und ihr Geist träumte sich dies alles in den letzten Minuten, wo das Gehirn noch Sauerstoff hatte, nur zusammen, unter dem Einfluss der letzten Endorphine, die ihr Körper freisetzte. Vielleicht zog sich dieser Traum subjektiv endlos hin; wer wusste das schon.
Aber es war alles so real, die Autohupen, der Lärm, die spielenden Kinder im Park, die Jogger und die Hunde. Konnte sich das Gehirn das tatsächlich so realistisch zusammenbauen?
Im Traum war es ja auch so, bemerkte sie mit Erschrecken. Da fühlte sich auch alles absolut real an.
Gab es sie noch? Sie sah auf ihre Hand, ob sie vielleicht gerade durchsichtig wurde.
So kannte sie sich nicht. Klar, sie spürte ihren Körper, sie brauchte sich gar nicht zu zwicken oder in einen Spiegel zu schauen. Dennoch hatte sie das Gefühl, unwirklich zu sein.
Sie atmete tief ein und aus und ließ die Schultern sacken. Das war alles Unsinn, sie schüttelte das ab und machte sich auf den Weg durch den Park zurück zum Hotel.
Es waren die Auswirkungen ihres Jetlags, nichts anderes.
Ein anderes Zeichen dafür, dass sie real war und nicht nur die letzten Zuckungen ihres sterbenden Gehirns erlebte, war das plötzliche Hungergefühl, das sie überfiel wie ein Sommergewitter. Sie hatte seit dem guten Frühstück nichts mehr zu sich genommen, von zwei Kaffees und einem Bagel abgesehen.
Am Eingang des Parks stand ein Verkaufsstand für belgische Waffeln. Johanna kaufte sich gleich zwei, eine de turtle wafel und eine de bom. Beim Essen ließ sie sich Zeit. Nichts Gutes für ihre Figur.
Aber ein Beweis, dass sie lebte, dass ihre Sinne funktionierten, und dass sie tatsächlich in New York angekommen war. Der Wagen war eine Institution. So etwas Gutes konnte man sich nicht erträumen.
Nach dem Verzehr der Waffeln war sie wieder sie selbst. Johanna. Eine Übersetzerin, die sich wohlig mit der Rechten über den prallen runden Magen strich und die dringend aufs Klo musste. Sie ging zurück ins Hotel, wo der Portier sie bereits mit Namen begrüßte.
»Welcome, Mrs. Svensson«, sagte er.
Na also.
Johanna war warm geworden, durch die Septembersonne und die warmen Waffeln. Sie zog sich halb aus, sah fünf Minuten durch ihr Panoramafenster auf den Central Park und legte sich dann aufs Bett, mit einer Flasche Wasser neben sich.
Der Tag war anstrengend gewesen. Draußen hatte die Dämmerung übernommen, Johanna schlief ein.
Nachts um drei weckte sie der kühle LuftSäure der Klimaanlage. Draußen auf dem Gang stritt sich ein Paar, beides zusammen hatte sie geweckt.
Sie konnte jetzt aufstehen, sich für die Nacht