Geheimauftrag für SAX (4): SPECTATOR II. Hymer Georgy
Freysing fasste genervt in die Tasche seiner beigen Sommerhose, die ihn wie das fast gleichfarbige Poloshirt und der leichte Sommerstrohhut vor der Sonne schützten. Seine Hand kam mit einem zusammengefalteten Briefumschlag heraus, der, wie er wusste, fünfundzwanzig nicht banderolierte Zweitausend-Kronen-Banknoten enthielt. Er hatte sie am Samstagmittag am Bahnhof besorgt, ohne sich von den gewerblichen Geldwechslern dort im Tauschkurs über den Tisch ziehen zu lassen - kurz nachdem er mit Kisci telefoniert und die Verabredung für den Sonntag getroffen hatte. Fünfzig-tausend Tschechische Kronen, das waren gegenwärtig nicht mehr als ungefähr 2000 Euro, aber viel mehr war das, was Ernö zu bieten hatte, wohl auch nicht wert. Den Preis hatte der Informant - angeblich - noch mit Holler ausgemacht gehabt.
„Wir können es natürlich auch lassen!“, sagte Freysing knapp und wollte die Hand mit Umschlag und Geld sogleich wieder in der Hosentasche verschwinden lassen. Seine weiteren Worte gingen im Lärm des auf der Rennstrecke vorbeirasenden Feldes unter, aber als der letzte Wagen, etwas abgehängt, vorbeifuhr, reichte ihm der Mann nicht sichtbar für eventuelle Beobachter und ziemlich heimlich tuend eine kleine, flache Speicherkarte, wie sie noch in Bilderkameras Verwendung findet.
Freysing nahm sie entgegen, atmete kurz durch und steckte sie dann in einen kleinen Schlitz seines Fernglases, der einigermaßen so aussah, als gehöre er zur Tragschlaufenbefestigung. Dann hielt er das Fernglas in die Höhe und schien den Fahrzeugen hinterher zu blicken, die sich gerade noch weiter durch die Omega-Kurve bewegten. Anstelle der Rennwagen erblickte er darin nach entsprechender Justierung einer Stellschraube jedoch nun den Dateninhalt der eingeschobenen Speicherkarte: Eine Reihe von Dokumenten, die Ernö offenbar heimlich mit einer Digitalkamera fotografiert hatte. Das ermöglichte unter gewissen Lichtverhältnissen bessere Fotos, als die Miniobjektive in einem Smartphone. Die Seiten klickten automatisch annähernd im Sekundentakt weiter.
Der Inhalt war für Freysing nicht sehr verständlich, offenbar ging es um irgendwelche hitzebeständigen Kunststoffbauteile, und so setzte er das spezielle Fernglas, ein nützliches kleines Agentenwerkzeug, wieder ab, nachdem er ein gutes Dutzend Bilder betrachtet hatte. Er reichte Kisci den Geldumschlag, der sofort etwas verstohlen nachzählte, ohne dass die sie umstehenden Rennzuschauer dies mitbekamen. Der Informant schien zufrieden, aber Freysing war es noch nicht.
Die Fahrzeuge hatten sich weit von der Schikane entfernt und erreichten in den nächsten Sekunden bereits die gegenüberliegende Seite des Parcours, daher konnten sie sich nun für eine kurze Weile in beinahe gedämpfter Lautstärke unterhalten.
„Gut!“, bestätigte Freysing den nicht ganz astreinen Deal nun schnell. „Aber deswegen bin ich eigentlich nicht hergekommen.“
Kisci knurrte kurz. Dann meinte er: „Sie sagten mir, dass Herbst, der mir sonst das Geld mitbringt, seit ein paar Tagen verschwunden ist. Aber ich habe ihnen bereits am Telefon klar gesagt gehabt, dass ich auch nichts mehr von ihm gehört habe. Nicht mehr, seitdem ich ihm die Kostprobe gegeben hatte.“
Herbst, so war Freysing informiert, lautete der Deckname von Holler gegenüber dessen hiesigen Kontakten. Mit Kostprobe meinte Kisci die Fotografien von zwei Seiten eines Dokuments über die Forschungen in dem Werk, in dem er arbeitete. Wie immer hatte er zunächst nur einen Teil herausgerückt, um sicherzugehen, dass er auch eine korrekte Bezahlung für seine Informationen erhielt. Wenngleich er in den langen Jahren seiner geheimen Tätigkeit eigentlich gute Erfahrungen mit den Deutschen machte, war er stets von Misstrauen geprägt gewesen, ob man sein Engagement wirklich richtig zu würdigen wusste.
„Erzählen Sie mir etwas über ihn!“ forderte Sax.
Ernö zierte sich nur kurz. Er war fast sicher, die Deutschen diesmal mit seiner Forderung nach fünfzigtausend Kronen etwas übervorteilt zu haben, da waren ein paar zusätzliche Auskünfte durchaus mit im Preis enthalten. „Herbst?“, begann er. „Ich kenne ihn nur von den gelegentlichen Treffen persönlich, nicht weiter privat. Er ist bereits seit knapp acht Jahren mein Kontaktmann zu euch. Wir haben uns immer in Brno getroffen, nie außerhalb, oft auch hier, und soweit ich weiß ist er stets in einer kleinen Pension in der Mendlovo náměstí abgestiegen.“
Das war für Freysing alles nicht neu. Genauso stand es in den Unterlagen, die er vom Dienst in Berlin und von der Botschaft in Prag bekommen hatte. Freysing war im gleichen Haus untergekommen und noch in der ersten Nacht vorsichtig in das Zimmer Hollers eingebrochen, um nach Hinweisen zu suchen. Die Pensions-mitarbeiter hatten das Zimmer noch nicht ausgeräumt gehabt, denn Holler war ein zuverlässiger Gast und der Aufenthalt durch Kreditkarte abgesichert – da spielte es keine Rolle, wenn er für ein paar Tage dort nicht nächtigte. Die Aktion blieb ergebnislos, er fand lediglich Hollers Laptop, nahm diesen mit und achtete im Übrigen darauf, keine Spuren zu hinterlassen. Auch in den Dateien des Gerätes gab es jedoch keine Hinweise zu den Gründen dessen Verschwindens zu entdecken.
„War diesmal alles genau so, wie sonst auch?“, fragte er den Infomanten.
Kisci nickte: „Außer eben, dass er sich nach dem ersten Kontakt nicht mehr gemeldet hat, schien alles in Ordnung. Nur über den von mir geforderten Betrag hat er wie immer etwas gemault – aber das war normal“, grinste er.
„Und Sie haben sich direkt beim ersten Treffen mit ihm erneut verabredet?“
„Ja, wie immer. Für letzten Dienstag. Im Lokal auf der Festung. Aber er kam nicht.“
Die barocke Festung Špilberk, gelegen auf einer Anhöhe im Zentrum, ist eines der hervorstechendsten Bauwerke der Stadt an der Svratka. Das gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts renovierte Anwesen besitzt eine genauso wechselvolle Geschichte wie die Stadt selbst und diente als bedeutendstes Bollwerk Mährens im 18. Jahrhundert unter anderem als Kaserne und Gefängnis. Heutzutage als historisches Baudenkmal mit zahlreichen architektonischen Sehenswürdigkeiten Ausflugspunkt vieler Touristen und der einheimischen Bevölkerung, ist sie im Sommer Ort künstlerischer Darbietungen, vor allem klassischer Konzerte. Ein sogenanntes Carrilon, ein großes Glockenspiel, sorgt stündlich durch die hellen Klänge einer von über dreißig verschiedenen Kompositionen für Aufmerksamkeit und ist trotz Verkehrslärms der Umgebung vor allem in den Abendstunden auch noch im näheren Umkreis zu hören. Ein belebter, idealer Ort, um sich zufällig und ohne Aufsehen zu erregen zu treffen, dachte Sax.
Einige Minuten lang unterhielten sie sich über den gewöhnlichen Ablauf der sonst jeweils geplanten Verabredung und darüber, ob es irgendwelche Auffälligkeiten vor Ort gegeben habe - Vielleicht Personen, die ihn beobachtet hätten. Aber der kleine Informant verneinte sogleich selbstbewusst: „Bin ja kein Anfänger!“.
Die rasenden Fahrzeuge näherten sich erneut dem Standort Freysings und Kicsi´s; die weiteren Worte, die letzterer sagte, gingen für Dritte unhörbar im Lärm unter.
Der Dreiergruppe voran hatten sich nun zwei weitere Fahrzeuge angeschlossen, aber die Spitzenformation war immer noch die gleiche, wie in der Runde zuvor. Doch das Rennen schien kurz vor dem Ende insgesamt noch einmal schneller zu werden.
„Was haben Sie dann gemacht?“ fragte Freysing, nachdem sich das Feld wieder von ihnen entfernt hatte.
„Was denken Sie? Ich war sehr haragszik! Es war nicht einfach, das ganze Dokument zu fotografieren, und ich hatte das Geld schon eingeplant!“
„Haben sie nicht versucht, ihn anzurufen?“
„Natürlich habe ich das. Aber das Handy war tot.“
„Tot? Keine Mailbox?“
„Nur die Ansage, dass der Teilnehmer nicht erreichbar sei. Ich konnte nichts hinterlassen. Aber glücklicherweise haben Sie mich ja gefunden!“ Er zeigte erneut sein schiefes Grinsen und lachte dabei kurz laut auf.
„Das ist in der Tat ungewöhnlich! Das mit dem Handy…“
Freysing dachte nach, während sie gemeinsam weiterhin die finalen Runden des Rennens beobachteten. Keine neue Spur. Wo sollte er weiter suchen? Er fand, dass er hier seine Zeit verschwendete. Selbst wenn der gebürtige Ungar etwas wusste, würde er es ihm wohl nicht unbedingt mitteilen. Vielleicht war es angebracht, mit etwas weiterem Geld nachzuhelfen.