Nordroute. Lutz Geißler
m Höhe mitten in der Pampa und mitten in Tibet - ich habe endlich meinen Traum wahr gemacht und nehme teil an einer Mountainbike-Tour quer durch's Himalaya- Gebirge. Ich kuschele mich noch tiefer ins Innere meines Faserpelz- Innenschlafsacks, der sich wiederum im Inneren eines Hüttenschlafsacks befindet. Mir wird wieder etwas wärmer, und ich beginne zum x'ten Mal in dieser Nacht, „Schäfchen zu zählen", an gar nichts zu denken, einzuschlafen.
Von Tingri zum Basecamp - im Hintergrund der Mt. Everest - im Tal die Ansammlung von BAT-Zelten
Was die extreme Höhe so mit einem anstellt....
Tagsüber ist es noch ganz erträglich. Mir war auch schon vorher klar: Halber Sauerstoffdruck bedeutet halbe Steigleistung, halbe Geschwindigkeit, halbe Ausdauer, doppelte Zeit und ein Verzicht auf jeglichen Sprint, auf jede Aufholbeschleunigung usw. Fast besser als meine durchweg wesentlich jüngeren Reisebegleiter bewältige ich die im Vergleich zu den Alpen durchweg moderaten Anstiege, genieße die karge und trotzdem zauberhafte Landschaft, verständige mich in Zeichensprache mit überraschend zutraulichen Kindern und Yak- Hirten, die uns gelegentlich am Straßenrand erwarten. Nur die Nächte ....
Man diskutiert im Essenszelt bis gegen 22 Uhr mit seinen Reisebegleitern über den vergangenen Tag, über seine eigenen Bike-Erlebnisse, über „Gott und die Welt" und sucht danach sein Zelt auf. Macht Katzenwäsche, tauscht die kaum verschwitzten Bike-Klamotten gegen warme und bequeme Nachtwäsche, mummelt sich in die beiden Schlafsäcke. Und versucht zu schlafen. Die Einschlaf-Phase beginnt angesichts der Anstrengungen des Tages relativ schnell: Du döst ein, verlierst das Gefühl für Raum und Zeit, verlangsamst deine Atmung und „sackst weg" - aber nur für wenige Sekunden, denn dann bemerkt dein Körper den „doppelt verminderten" Sauerstoffdruck - verursacht durch die geringere Atemfrequenz - und du wachst panikartig auf, weil du denkst, du würdest sogleich ersticken. Schnappatmung setzt ein, du bist hellwach. Die ersten, raschen Atemzüge können den benötigten Sauerstoff zunächst kaum transportieren, die Panik bleibt für ein paar Sekunden, aber dann wird es besser und besser, die Atemzüge tiefer und tiefer, und nach wenigen Minuten verliert sich die Panik, und du versuchst erneut einzuschlafen. Dasselbe wiederholt sich nun seit Tagen hunderte von Malen in jeder Nacht, und eigenartigerweise bin ich tagsüber einigermaßen fit. Offensichtlich wirkt sich Schlafentzug weit weniger dramatisch aus als Sauerstoffentzug. Doch das kann andererseits so nicht weitergehen - schließlich ist das hier auch ein Stück Urlaub und kein Survival-Training.
Es gibt etwa ein halbes Dutzend Reiseveranstalter, die meinen „Traum" „all inclusive" im Programm haben. Der preiswerteste kommt aus Nepal, überlässt dir die Planung der Flugreise von deinem Heimatort nach Kathmandu und ist alles in allem etwa halb so teuer wie „BAT". Dann gibt es die „klassischen" deutschsprachigen Anbieter, die jedoch alle bis auf einen dieselbe Route anbieten: Sie fahren fast durchwegs auf dem „Southern Friendship Highway" von Lhasa am Yamdrock-See vorbei durch Gyantse und Shigatse - eine Route, die Tibet-Kenner noch vor Jahren ähnlich wie vor der berüchtigten Yungas-Straße (camino de la muerte) von La Paz nach Coroico in Bolivien vor Respekt schaudern ließ.
Im Buch „Vom Everest zur Atacama" schreibt noch im Jahre 2007 Holger Feist, der die Strecke in der Gegenrichtung befahren hat, über die Straße zwischen Zhangmu und Nyalam: „Die Bezeichnung Highway ist etwas irreführend, denn die Straße ist weder asphaltiert noch in einem Zustand, der überhaupt die Bezeichnung Straße rechtfertigt. Es ist ein ausgewaschener Karrenweg, der sich im Tal der hiesigen Fünftausender am Abgrund steiler Bergflanken entlangschlängelt und sich endlos das wunderschöne Tal hinaufwindet.... Wir fragen uns nur, wie unser Truck ... den nassen und ausgewaschenen Weg, der zum Teil von kleineren Steinlawinen überschüttet ist, hinaufkommen soll ..."
Über den „Friendship Highway" in Zentral-Tibet schreibt er: „Der Weg ist übersät mit Steinbrocken und Schlaglöchern. Durch das trockene Klima ist das Sträßchen sehr staubig, und wenn einmal ein Truck vorbeifährt, stehen wir minutenlang orientierungslos im Staub ..."
Seit 2011 ist die Südroute bis zum Grenzort Zhangmu jedoch durchgehend asphaltiert, stellenweise sogar in westlicher Schnellstraßenqualität, sodass von „Bike-Abenteuer" kaum mehr gesprochen werden kann. Einzig „BAT" bietet die Trans-Himalaya-Tour auf der Nordroute an, und die ist zumindest von Yangpachen bis zum Brahmaputra ähnlich abenteuerlich wie der Rest der Route früher war.
Also BAT? Der teuerste Anbieter hat noch weitere Schmankerl im Angebot: Die längste Akklimatisierungsphase von 4 Tagen in Lhasa auf 3.650 m Höhe, viele im Preis inbegriffene Besichtigungen und - das stellt sich aber erst vor Ort heraus - wegen der wenigen (5) Teilnehmer ein einzigartiges Zahlenverhältnis Biker-Begleiter von 1:1,2 und ein eigenes „The North Face"-Zelt pro Nase. Der durch seine Weltreisen per Rad bekannt gewordene Genfer Claude Marthaler sollte uns begleiten.
Warum ich diese Reise, wo sie doch ein Traum ist, nicht schon früher wahrgemacht habe? Einfache Antwort: Ich war Realschullehrer für Mathematik und Biologie und hätte zwar jeden Sommer von Ende Juli bis Anfang September genügend Zeit gehabt, eine solche Reise anzugehen, nur: In dieser Zeit ist im Himalaya Monsun, die Naturstraßen versinken im Morast, und kein Reiseanbieter würde sich auf ein derartig unsicheres Wetter-Abenteuer einlassen. Und kaum ein Tourist. Also blieb nur die Zeit nach der Pensionierung. Dann aber gleich.
So fuhr ich bereits im Januar mit meinem Freund Jakob zum alljährlichen Infotag von Bike Adventure Tours nach Zürich, wo im Volkshaus Powerpoint-Vorträge zu diversen Reisezielen stattfanden - außerdem sollten bereits feststehende Reiseleiter vorgestellt werden. Bereits da war ich vom designierten Führer der diesjährigen Tibet-Nepal-Tour, Claude Marthaler fasziniert. Claude hat bereits mehrere Reisebücher geschrieben (1) und nennt sich selber Cyclonaut, was ich im Internet folgendermaßen recherchiert habe: Ein Cyclonaut (2) ist ein Radfahrer, der den heutigen Straßenverkehr als lebensgefährlichen, aber hochinteressanten Raum betrachtet, den er erkunden und möglichst vollständig erforschen will. Er kann dabei verschiedene Rollen wie Aktivist, Wegbereiter, Vorbereiter, Whistleblower und Blogger einnehmen.
In Zürich konnte Claude zwar wenig von der Tour berichten - das taten dann andere - er überzeugte jedoch durch seine ehrliche und humanistische Weltanschauung.
Hauptfächer sind wichtig
Geht man der Frage nach, warum auch ich mich wie Claude von Jahr mehr als ein Süchtiger, dem Fahrrad Erlegener betrachte, der mittlerweile in seinem Wohnort als eine Art „Supersportler" angesehen wird (, und das völlig zu Unrecht, denn ich bin im Kreise meiner noch Radrennen absolvierenden Kollegen ein wahrhaft „kleines Licht"!), muss man unweigerlich in meiner Kindheit suchen.
Es war wohl im Jahre 1961 oder 1962, und ich besuchte die erste Klasse (Sexta) des Schubart-Gymnasiums in Ulm. Verwöhnt von guten bis sehr guten Noten aus der Hans-Multscher-Grundschule, wollten meine Eltern - speziell mein Vater - nicht einsehen, dass einem ähnlich gute Noten im Gymnasium nicht zufallen, sondern dass man sie durch vermehrten Fleiß erarbeiten muss. Er sagte den folgenschweren Satz: „Hauptfächer sind wichtig und werden dein Leben bestimmen. Deshalb erwarte ich dort gute Noten. Die meisten Nebenfächer sind fast so wichtig. Unwichtig sind dagegen Sport und ... (das traue ich mich nicht zu schreiben ...). Die Noten, die du dort nach Hause bringst, sind mir egal." Und weiter der berühmte Satz: „So lange du noch deine Füße unter meinen Tisch stellst, werde ich bestimmen, was für dich wichtig zu sein hat ..." Sprach's und hatte mal wieder ein Beispiel seiner „antiautoritären" Erziehung gegeben. (Allerdings wurde dieser Begriff erst in den Siebzigern modern.)
Für mich waren diese Sätze ein Freibrief. Ein Freibrief erst zum Herumkaspern im Sportunterricht und später, als Heranwachsender, zum Schwänzen des Sportunterrichts. Ich, der schon im Grundschulalter keinen Bezug zu Bällen und Ballspielen hatte, erweiterte meine Bezugslosigkeit um Leichathletik und Geräteturnen, um Bodenturnen und alles, was nicht im Wasser stattfand und die Bezeichnung