Nordroute. Lutz Geißler

Nordroute - Lutz Geißler


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      Für mich persönlich erfüllt das Rad neben seinem sportlichen Zweck eine Vielzahl anderer Zwecke: Einigermaßen trainiert, ist man schneller von Innenstadt-Einkäufen wieder zurück als mit dem Auto. Man kann man die meisten Dienstgänge, Dienst-und Familienfahrten ökologisch mit dem Rad absolvieren und gleichzeitig noch eine Trainingseinheit integrieren. (So hatte ich auf diversen Fahrten zu Lehrgängen und Realschulabschlussprüfungen einfach „Zivilklamotten", Unterrichts-und Prüfungsmaterial im Rucksack). Man kann auf ökologische Art und Weise Land, Leute und Kultur kennenlernen. Ähnlich wie es als Kombination von Klettern und Biken neuerdings eine „Bike&Hike"-Welle gibt, so betrachte ich mich daher „denglisch" als „Culfunbiker" (von mir zusammengesetzt aus culture, fun und biking).

      Zürich, zum Zweiten

      Das erste Treffen der Reisegruppe fand dann im Sommer, abermals in Zürich, an einem warmen Sommerabend im Biergarten des Restaurants „Subito" nicht weit weg vom Hauptbahnhof statt. Neben Claude waren zwei weitere Schweizer anwesend: Ralph, ein IT-Spezialist und später mein leistungsstärkster Begleiter, sowie Theo, der langjährige Ex-Chef von „Veloplus", einer bekannten Schweizer Outdoor-Kette. Dann Martin, ein österreichischer (Klagenfurter) Ex-Mathelehrer (und damit Kollege) mit IT-Engagement in Zürich und meine Wenigkeit. Meine Ehefrau Evi war ebenfalls interessiert und somit bei diesem Treffen dabei. Katrin, eine Ulm-münchnerische Reiseverkehrs-Kauffrau mit Weltreise-Ambitionen fehlte leider. Machte ganze 5 Personen inklusive Guide. Ich fragte die ebenfalls anwesende BAT-Mitarbeiterin Marlise, ob dann die Reise überhaupt stattfindet.

      „Molmoll, ja sich'r ..!"

      Was sie noch nicht wusste oder nur nicht sagte: Wenig später bekamen wir alle ein Schreiben von BAT mit der Bitte um Überweisung eines „Kleingruppenzuschlages" von 250 Franken.

      Wir unterhielten uns über uns alle drängende Fragen: Wie würden wir mit der Höhenkrankheit umgehen? Besteht die Gefahr für ein Lungen-oder Hirnödem? Was ist mit pochenden Kopfschmerzen, Atemnot, Schwindel, Erbrechen, Herzrasen, Schlaflosigkeit? Gibt es wirklich tödliche Gefahren? (Laut Literatur beginnen die ab 6.000 m - wir sind mit unseren 5.300 m ja nicht weit davon entfernt.) Sind Medikamente wie Diamox vernünftig, oder ist wegen der Nebenwirkungen eher davon abzuraten? Claude und Marlise rieten uns ab und hielten es sogar für Geldverschwendung, prophylaktisch Diamox mitzunehmen: So scheint es bei leichter Höhenkrankheit kaum wirksam zu sein, und bei schwerer Höhenkrankheit müssen schon schwerere Geschütze wie Dexamethason aufgefahren werden. Und Letzteres wollte Claude als Reiseapotheke „für alle" in jedem Fall mitnehmen. Jedenfalls war ich als ziemlich aktiver Rennfahrer mit jährlich über 10.000 Radkilometern froh, offensichtlich in einer Gruppe von engagierten Hobbyradlern gelandet zu sein - allerdings würden so oder so die zu fahrenden Höhenmeter oder die Länge einer Tagesetappe weniger ein Problem darstellen als die Höhenakklimatisation.

      Claude und Marlise schärften uns außerdem noch ein, ja keine Bilder des Dalai Lama und keine kritischen Abhandlungen über die Rolle Chinas in Tibet mit auf die Reise zu nehmen, „da sind die Chinesen gnadenlos ..., und ihr könntet im Knast landen ...!" Die Frage, welchen Reiseführer sie denn dann empfehlen könnten, wo doch (fast) alle Reiseführer eben diese Bilder und Abhandlungen enthalten, blieb unbeantwortet.

      11.9.2014

      Evi begleitet mich auf der Fähre Friedrichshafen- Romanshorn, im IC Romanshorn- Flughafen Zürich. Beim vereinbarten Treffpunkt in der Nähe des späteren Check-In treffen wir auf einen BAT-Mitarbeiter. Ich hole mein Simplon Carbon-Bike aus dem TranZBag-Radsack (5), ohne den ich es schwer gehabt hätte, das Rad per IC zu transportieren, gebe den Radsack auf einer Gepäckaufbewahrung in derselben Etage ab und helfe dem BAT-Mann, mein Bike in einen stabilen BAT-Karton zu verpacken. Später kommen Martin, Ralph, Theo und Claude, die alle ihre Bikes in diese Kartons verpacken, die Kartons doppelt und dreifach zukleben und dann nebeneinander aufstellen. Die Kartons werden uns später durch ganz Tibet und Nepal begleiten und werden dann ziemlich lädiert nach unserer Ankunft in Zürich entsorgt werden. Claude ist mit seiner Freundin angereist (sie würde ihn später wegen seines „Freiheitsdrangs" verlassen), Ralph und Theo mit Frau. Katrin würde erst in Istanbul nach der Zwischenlandung auf uns treffen.chapter5Image1.png

      Der Flug von Zürich nach Istanbul ist gekennzeichnet von fortwährendem Gequassel - der Beweis, dass man aneinander interessiert ist und sich kennenlernen will. In den weitläufigen Gängen und Hallen des Flughafens „IST" gibt es dann WLAN, und da niemand von uns weiß, ob die Internetversorgung in Nepal einigermaßen lückenlos funktioniert, sind die meisten von uns noch einmal mit dem Verschicken und Checken der letzten Mails beschäftigt.

      Ab Istanbul ist Katrin mit im „Boot", aber nicht auf den billigen Plätzen. Sie hat als Vielfliegerin Anspruch auf einen höherwertigen Sitzplatz. Mein eigener Sitzplatz ist dagegen eher minderwertig: Da er weder in der Höhe noch im Seitenabstand oder in der Neigung verstellbar ist, der des Vordermanns aber sehr wohl, bietet er während des Nachtflugs nach Kathmandu kaum Erholung. Dazu kommt, dass der Vordermann - ein Chinese - sich zum Schlafen bequem zurücklehnt und meine Knie dadurch einquetscht. Meine Bitte, er möge doch seinen Sitz wieder etwas steiler stellen, ignoriert er schlichtweg. Verständnisprobleme oder chinesisches „way of life"? Da das Flugzeug voll besetzt ist und ein Alternativplatz daher nicht zur Verfügung steht, bin ich froh, nach acht Stunden und durchwachter Nacht gegen 6 Uhr morgens - 15 Minuten früher als im Flugplan - wohlbehalten auf dem Flughafen von Kathmandu anzukommen. Wobei „wohlbehalten“ sich nicht auf steifen Nacken und steife Knie bezieht.

      Kathmandu, 1. Tag

      Kathmandu! Für Leute wie mich, die sich noch gut an die Bahnhöfe und Autobahnraststätten der DDR erinnern, ist dieser Flughafen in seiner Ausstattung mit denselben vergleichbar, in der Größe vielleicht mit Friedrichshafen. Und das bei knapp 1 Million Einwohnern! Traktoren statt Rollbahn-Zugmaschinen, Wellblechtunnels statt Beton, Stahl und Glas, stinkende Pissoirs statt großzügig geplanter und pieksauberer Toiletten-„landschaften" und immer wieder geschäftig wirkende Gurungs, Tamangs, Sunwars usw., die schon morgens um sieben mit dreckigen Lappen und noch dreckigerem Wischwasser auf den gesprungenen Großformat-Fliesen der Eingangshalle einen gräulich-weißen Dreckfilm erzeugen.

      Namaste! (6)

      Die Abfertigung ist trotz der allgegenwärtigen Polizeipräsenz schnell passiert, und wir Sechs „quellen" aus dem Flughafengebäude auf den Parkplatz „Arrival", wo wir sogleich von unzähligen Kleinbus-Chauffeuren umringt werden. Ich bin der Größte, Älteste und Weißhaarigste der Sechs und werde entsprechend umworben. Schnell stellt sich heraus, dass einer der Chauffeure tatsächlich im Auftrag von BAT handelt, aber er tut dies nicht umsonst. Er verlangt keck zehn Dollar für seine Dienste - ich gebe ihm widerstrebend 5 Euro. Und befinde mich in einem Zwiespalt: Angeblich sollten sämtliche Transfers inklusive sein, andererseits sind die Männer hier ohne Zweifel arme Mini-Jobber. Jedoch 10 Dollar? Der durchschnittliche Wochenlohn eines Nepalesen rangiert auf Platz 94 knapp hinter Bangladesch und weit hinter Indien (von 97 erfassten Ländern - Quelle: Laenderdaten.Info) und liegt bei 10 €. Später lasse ich mir sagen, dass die 5 Euro, also 600 Rupien wohl ganz OK waren - uff! Ganz nebenbei bekommen wir alle eine Blumenkette aus gelben Blüten umgehängt - ein Zeichen der Begrüßung und der großen nepalesischen Gastfreundschaft.

      Schild am Bus: Tourists only. Mit fällt auf, dass die Busse und Kleinbusse - meist japanisches Fabrikat - mit dem Schild „Tourists only" neueren Baujahrs und außen stets pieksauber geputzt sind. Die morgendliche Fahrt mit Linksverkehr durch's gerade erwachende Kathmandu, durch versiffte und vom Monsun veralgte Hochhaussiedlungen, über Schlaglöcher voller Pfützen und durch lehmigen Morast, vorbei an zum Trocknen aufgehängter und irgendwie dreckig erscheinender Wäsche, vorbei an stoischen, schwarzen Rindviechern und räudigen, kläffenden und bestimmt bissbereiten Hunden versetzt mir einen Kulturschock. Zumal das morgendliche Kathmandu nicht wie kaum vier Wochen später im Sonnenschein und trocken - gleichsam wie aus „1001


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