Nordroute. Lutz Geißler
Kathmandu nach Lhasa fliegt man ziemlich genau eine Stunde - nach etwa 20 Minuten fliegt man westlich am Mt. Everest vorbei. Es hat viele Wolken, aber trotzdem ist dieser erste direkte Anblick dieses höchsten Berges der Erde ein unvergessliches Erlebnis. Ich zeige auf den Berg - und das tun in diesem Moment wohl mehrere ganz rechts Sitzende, und es ist ein Wunder, dass der Airbus in diesem Moment nicht mit seiner rechten Flügelspitze nach unten taucht. Alle sind begeistert. Die karge Landschaft, die sich nach dieser Zäsur an die eben noch gesehene Tropenlandschaft anschließt, wirkt geheimnisvoll und fremdartig. Aus der Luft können wir den Brahmaputra, Shigatse und Lhasa erkennen.
Ich lege noch einmal Hand an meine Uhr mit neuer Knopfzelle, auf deren Ziffernblatt seit gestern alle drei Zeiger mit rasender Geschwindigkeit um ihre Achse rotieren und den Energievorrat der neuen Knopfzelle plündern. Da die Uhr weder auf meine Einstell-oder Reset-Tastendrücke noch auf gutes Zureden reagiert, entferne ich die Knopfzelle und verzichte im Folgenden auf die Zeit am Handgelenk.
Wenig später landen wir pünktlich auf dem Lhasa Gonggar Airport.
Welcher Kontrast zu Kathmandu! Der Flughafen ist ein architektonisches Wunderwerk aus Glas, Beton und Stahl (da mögen die Ansichten auseinandergehen), sehr sauber und könnte in dieser Hinsicht mit jedem deutschen Flughafen mithalten. Die Abfertigung geht flott vonstatten - ich lege wieder das Sammelvisum vor - und kurz nach dem Aufsetzen finden wir uns bei angenehmen Temperaturen (wir sind nun auf 3.570 m Höhe !) mitsamt unserer Bike-Kartons draußen vor dem Flughafen wieder und werden von einem Fahrer namens Tshering mit dem weißen Khatag (10), dem tibetischen Begrüßungsschal, empfangen. Tshering soll uns mit seinem Kleinbus ins 45 km entfernte Lhasa bringen - ein kleiner LKW transportiert die Bikes.
Lhasa und der Bankomat
Wir fahren bei wenig Verkehr auf einer funkelnagelneuen Autobahn von Gonggar nach Lhasa, durch nagelneue, hypermoderne Tunnels, die die deutsche Sicherheitsrichtlinie spielend bestehen würden, an Tankstellen vorbei, die so neu sind, dass sie noch gar nicht in Betrieb sind. Da vor erst drei Wochen die Peking-Lhasa Bahn nach Shigatse verlängert wurde, können wir auch die neue Trasse der Bahn mit zwei soeben fertig gestellten Bahnhöfen bewundern. Kurz vor Lhasa müssen wir den ersten von vielen noch zu durchfahrenden Checkpoints passieren, und wir bekommen einen ersten Eindruck davon, mit welcher Polizei-und Militärpräsenz die Chinesen ihre Einflussnahme in Tibet sichern müssen.
Altes Stadtbild oder pseudotibetisch?
Nach einer Brücke über den Kyi Chu (Lhasa River) fahren wir zunächst durch den neueren Teil Lhasas. Hier wurden viele Häuser abgerissen, um
Platz für die breite Straße und neue Tsitsi Kang-Wohnblöcke, „Ratten-käfige" aus Beton, zu erhalten. Aber auch im älteren Teil Lhasas gibt es rechts und links der Bejing Road kaum noch hundert alt-tibetische Häuser -alles andere wurde im Schnelldurchgang abgerissen, neu hochgezogen und quasi als Feigenblatt mit pseudotibetischen Fassaden ins Straßenbild eingepasst. Hielten früher rechts und links von krummen Gassen meterdicke Mauern aus Stein und Lehm die Kälte ab und speicherten die Wärme, so erledigt dies heute der Beton, der auf vielen Baustellen seine Schnellbauqualitäten offenbart. Auf den ersten Blick wirkt die vierspurige Bejing Road vorbei am Potala-Palast großstädtisch, westlich und sauber - wir könnten auch in einer deutschen Großstadt sein.
An Firmengebäuden, Fahrzeugen, Bauprojekten und Menschen sieht man, dass durch die Expansionspolitik Chinas die Tibeter so langsam zur Minderheit in ihrem eigenen Land, in ihrer eigenen Stadt werden. Jeden Sommer kommen 100.000 chinesische Arbeitssuchende nach Lhasa, um sich ein Stückchen vom Kuchen des Baubooms und der Entstehung neuer Industrieansiedlungen abzuschneiden. Da die meisten zunächst ohne Familie kommen, folgen ihnen Prostitution, Glückspiel und sonstige Kriminalität. Durch die Peking-Lhasa-Bahn, erst recht durch deren Erweiterung bis Shigatse, wird diese Expansion noch weiter gefördert, und man spricht schon davon, wie lange es noch dauern wird, bis das sich aufblähende Lhasa mit all seinem Staub und Smog das ganze Tal ausgefüllt haben wird. Man fragt sich, wie lange es noch dauern wird, bis, ökologisch gesehen, Lhasa dieselben Probleme haben wird wie derzeit Peking, Shanghai, Chongqing oder Shenzhen.
Dieser ohne Zweifel für Tibet auch notwendige Wirtschaftsboom hat noch weitere Schattenseiten: Er erniedrigt die Tibeter, führt ihnen ihre eigene Ohnmacht vor Augen und zeigt ihnen ihre bisherige Unfähigkeit zu ähnlichen Leistungen. Als Propagandamedium dienen 80 Fernsehkanäle, die rund um die Uhr zeigen, wie toll die Chinesen erst in ihrem Kernland sind, und unreflektiert zu weiterem Konsum und Energieverbrauch anspornen.
Warum die hier nur alle mit ein einem Mundschutz rumlaufen? Zwar ist bekannt, dass der Smog weite Teil Chinas fest im Griff hat und dass 90 % der Metropolen Chinas die Grenzwerte der Weltgesundheitsorganisation (WHO) überschreiten (SPIEGEL 22.1.2015). Im Dezember 2015 wird die Smog-Belastung in Peking das 25-fache des WHO-Grenzwertes von 25 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft überschritten haben - da kann es nur wenig beruhigen, dass China mehr als jeder andere Staat der Erde in „grüne Energie" investiert und 2014 so viele Solar-und Windkraftanlagen errichtet hat wie der Rest der Welt zusammen.
Doch wir sind in Lhasa, und die wirtschaftliche Expansion setzt dem fragilen, jedoch momentan noch intakten Ökosystem weit weniger zu als im Kernland China. Hier gibt es vergleichsweise wenig Industrie, der Strom kommt vom Erdwärme-Kraftwerk in Yangbajing, und der Autoverkehr hält sich in Grenzen. Hier gibt es mehr Elektroroller als Zweitakt-oder Viertaktroller, hier gibt es an jeder Ecke E-Bikes zum Mieten, hier gibt es keine stinkenden Tuk Tuks. Zumal die meisten Atemmasken den besonders gefährlichen Feinstaub mit Partikeln, die kleiner als 2,5 Mikrometer sind, gar nicht filtern können, und zumal z.B. Schwefeldioxid oder Stickoxide überhaupt nicht von ihnen aufgehalten werden. Wozu also diese Vorsicht? Vor allem bei chinesischen Frauen! Gewohnheit? Mode?
Wir kommen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus und finden uns viel zu schnell im Innenhof eines riesengroßen Hotels, des „Tibet Gang-gyan Lhasa Hotels" ein. Bus und LKW halten - vorbei der Transfer.
Ich beziehe gemeinsam mit Ralph ein Zimmer im 4. Stock. Das Zimmer müssen wir uns von einer Angestellten öffnen lassen - die Codekarte funktioniert nicht. Sie wird auch morgen und übermorgen nicht funktionieren. Vom Fenster haben wir Aussicht auf ein paar grüne und ein paar völlig nackte Berge und tolle Wolkenformationen. Wir sehen aber auch in unmittelbarer Nähe ein trostloses Hinterhofmilieu mit abgestelltem Schrott statt belebendem Grün. Immerhin: Auf den Flachdächern wehen bunte Gebetsfahnen von den Blitzableitern und von den Kaminen.
Wir treffen uns im Atrium vor dem Hotel. Es ist überspannt mit Hunderten von Gebetsfahnen in Pastellfarben, die dem Atrium ein scheinbar luftig-leichtes Dach verleihen. Wir brauchen erst mal Geld in einheimischer Währung, also chinesische Yuan. Die Chinesin an der Rezeption erklärt uns den Weg zum nächsten Bankomaten - kaum 100 m von hier.
Der Bankomat stellt sich als Kette von 3 Bankomaten der „Bank of China" in einem kleinen Vorraum heraus. Ich bin der Mutigste, nähere mich dem mittleren Bankomaten, schiebe meine EC-Karte hinein und warte auf die Anweisungen. Die erscheinen auch - allerdings auf chinesisch. Kein Anzeichen einer anderen wählbaren Sprache. Ich studiere das Display: Keine Ähnlichkeit mit irgendeinem westlichen Bankomaten-Display. Ich drücke eine der Tasten links und rechts vom Display: Nichts. Die nächste: Nichts. Nach der nächsten Taste ändert sich der Text auf dem Display. Die Karte bleibt im Kasten.
Eine Chinesin, die sich mittlerweile genähert hat, versteht Englisch und übersetzt uns den Text auf dem Display: „Ihre Karte wurde nach drei Fehlversuchen eingezogen." Die Chinesin ist sehr nett und liest auch die Nummer der Hotline aus dem Display ab: Wenn man sich dort melde, könne man seine Karte zurückerhalten. Sie verwendet sogar ihr eigenes Handy, um gleich bei dieser Hotline anzurufen und erfährt dort, die Bank werde am nächsten Tag gegen 10 Uhr einen Mitarbeiter bei uns im Hotel vorbeischicken. Was – so erfordert es die Tragik der Situation - natürlich nicht passieren wird.
Dabei wäre alles so einfach gewesen: Automat Nummer 1 ist nämlich ein Wechselautomat. Da ich bei meinen