Nordroute. Lutz Geißler
geworden sind.
Wir lassen uns aufklären: Religion ist mit dem Alltag eines Nepalesen untrennbar verbunden. Wichtiger Fixpunkt im Tagesablauf ist die Puja, das Gebet zu Ehren der Götter. Sie kann in den eigenen vier Wänden, aber auch bei den Tempeln und sonstigen Heiligtümern stattfinden. Hier bilden sich oft lange Schlangen, und wenn man an der Reihe ist, umwandert man zunächst die Wohnstätte des jeweiligen Gottes im Uhrzeigersinn. Dann überreicht man der Skulptur meist fünf Gaben: Blumen, Weihrauch, Licht, Sindur (gefärbtes Pulver) und Lebensmittel, z.B. Reis. Dafür empfängt man den göttlichen Segen, der zum Schluss der Kulthandlung mit einem Tika (9) „quittiert" wird: Dazu nehmen die Hindus etwas rote Farbe mit der Fingerkuppe vom Kultobjekt und tupfen sie sich als Punkt, als Tika, auf die Stirn. Klar, dass sich die zunächst optisch ansprechenden roten Pulverhäufchen im Laufe der Zeit durch unzählige Pilger in unansehnliche Farbflecken verwandelt haben!
Sadhui am Bagmati
Und wir wissen, was der rote Punkt auf der Stirn der Hindus bedeutet ....
Wir gehen die Treppen hinunter zum unten wartenden Minibus. Der bringt uns zum heiligen Fluss Bagmati und zum ...
Ort der Totenverbrennung. Für uns Europäer hat der Ort irgendwie etwas Schauriges, doch hat ein Hindu, der hier verbrannt wird, eine bessere Chance auf seine Wiedergeburt. Da dieser Ort Shiva geweiht ist, sitzen hier auch viele Sadhus (31) in abenteuerlicher Bemalung und mit verwahrlosten Bärten. Wir können in pietätvollem Abstand vom anderen Flussufer zusehen und sogar filmen und fotografieren, wie immer der älteste Sohn eines Verstorbenen (hier sind gerade zwei Verbrennungen im Gange) unter Anleitung eines Brahmanen (eines Priesters, der zur höchsten Kaste gehört) das mit Butter getränkte Strohbüschel anzündet, dieses in den Mund des Toten steckt und damit den ganzen Scheiterhaufen zum Brennen bringt. Die Asche wird in den Bagmati gestreut werden - ein paar Meter weiter wird Wäsche gewaschen und Kinder spielen im Fluss.
Wir fahren weiter am Flughafen Tribhuvan vorbei in einen der nördlichen Stadtteile Kathmandus. Hier gibt es einen von der Boudha Road aus erreichbaren, fast kreisrunden, von Touristen übervölkerten und verkehrsfreien Platz, in dessen Mitte der von unzähligen Gebetsfahnen geschmückte Boudhanath-Stupa steht. Um ihn herum Elefanten aus Stein und kunstvoll gearbeitete Gebetsmühlen. Wir erforschen die vier Ebenen des Stupa, umrunden ihn in der „vorgeschriebenen" richtigen Richtung (im Uhrzeigersinn), werfen Blicke in die vielen Geschäfte rund um den Platz. Hier gibt es Glocken und Dorje (kultische Donnerkeile aus Bergkristall), Klangschalen und Gebetsmühlen für Zuhause, Gebetsfahnen und Kalender und vor allem Thankas, die kunstvollen Gemälde buddhistisch-hinduistischer Tantra-Darstellungen. Sogar eine Thankaschule gibt es hier, und gleich werden wir hineingebeten.
Doch Santos hat Anderes mit uns vor: Im ersten Stock eines der Läden ist das Restaurant „Golden Eye", das sogar noch eine wunderschöne Dachterrasse im 2. Stock hat. Hier machen wir Mittagspause und genießen von der Terrasse aus den wunderschönen Blick auf den Boudhanath-Stupa, den Platz und die Berge in der Ferne. Im Dunst glaubt man sogar den Himalaya mit seinen schneebedeckten Gipfeln sehen zu können.
Auf der Busfahrt ins Hotel geraten wir in einen fürchterlichen Stau. Wir tragen's mit Fassung und verabschieden Santos im Innenhof des Hotels.
Da war doch noch was? - Richtig, die Uhr! Ich laufe zum Elektronikhändler um die Ecke, bekomme meine Uhr, kaufe gleich noch einen Ersatzakku für meine Filmkamera und schlendere zurück zum Hotel. Auf dem Weg dorthin treffe ich Katrin, die den weltberühmten Durbar-Square, der in der Nähe sein soll, sucht. Da ich den auch suche, schließe ich mich Katrin an, und wir machen uns nach einem Blick auf den Stadtplan ziemlich zielgerichtet auf den Weg. Wobei „ziemlich zielgerichtet" nur am Anfang wörtlich zu nehmen ist, denn alle Straßenbezeichnungen des verwinkelten Thamel sind in Sanskrit. Da es unterwegs auch noch ziemlich viel zu sehen gibt - z.B. einen Obst-und Gemüsemarkt mit völlig unbekannten Obst-und Gemüsesorten und immer wieder neue Tempel und Stupas - , verfransen wir uns hoffnungs-los und müssen die Hilfe eines Rikschafahrers in Anspruch nehmen. Der bringt uns in 5 Minuten ins gar nicht so weit entfernte Hotel ....
Im Hotel gibt es eine neue Anweisung von Gurung: Da im „Kleinflugzeug" (immerhin Airbus A318) von Kathmandu nach Lhasa nur EIN Gepäckstück transportiert wird und nur 20 kg erlaubt sind, sollen wir unsere Bike-Kartons öffnen und mit dem Gepäck aus den Reisetaschen auf genau 20 kg auflasten. Für diesen Zweck hat Gurung extra eine Waage mitgebracht. Die auf diese Weise etwas erleichterten Reisetaschen und Rücksäcke würden dann per LKW nach Lhasa transportiert werden. Diese Vorgehensweise würde nicht nur den Transportbestimmungen der „China Air" genügen, sondern würde auch den Trägern am Sunkoshi und an der Friendship Bridge nützen.
Außerdem werden wir dringend ermahnt, keine Fotos des Dalai Lama und keine kritischen Abhandlungen über Tibet mitzunehmen. Da genau dies in den meisten Reiseführern aber nicht zu vermeiden ist, sollen wir unsere Reiseführer ebenfalls in die Bike-Kartons stecken - die würden höchstwahrscheinlich nicht kontrolliert werden.
Zu Abend essen wir im „Restaurant mit der höchsten Dachterrasse Kathmandus". Stromausfall und Regen vertreiben uns aber bald von der Terrasse ins dunkle Innere des Restaurants. Es schmeckt uns trotzdem.
Mein erstes Bike
In den ersten Jahren meiner „Radsucht" war ich überzeugter Rennradler, der wie andere auch den gerade erst in „Mode kommenden" Bikern nachsagte, sie frästen mit ihren Geräten die Hänge runter und würden die Natur gefährden. Da sich meine Vorliebe für's Rad auch an meiner Schule herumsprach, erzählte mir im Sommer 1990 ein Schüler, er würde in die USA fliegen und sich dort bei der Gelegenheit eines der hierzulande noch unbekannten Mountainbikes kaufen und mitbringen. Ob ich auch eines wollte? Gar nicht nachdenkend, was ein Bike-Transport per Flugzeug für Umstände machen könnte, sagte ich zu und hatte ein paar Wochen später mein erstes Mountainbike: Ein schwarz glänzendes Cannondale mit grünen Punkten, Cantilever-Bremsen, XT-Ausstattung und noch ohne Federung. Ich lernte schnell, dass Biker gar nicht so sind, wie ihnen nachgesagt wurde (vielleicht, weil ich jetzt selbst einer war oder werden wollte?), und dass sie stets Wege benutzen. Vielleicht nicht gerade welche, die breiter als zwei Meter sind, aber immerhin...
Das Bike wurde später mit einer Federgabel nachgerüstet und hat die längste Laufleistung meiner bisherigen 5 Mountainbikes. In den letzten Jahren seines Einsatzes verwendete ich es als Alltags-Rad, und so kommt es leider nicht von ungefähr, dass auch es eines Tages (wie das Herkules-Stahlrad) vom Schulhof geklaut wurde. Derzeit fahre ich - nach einem Fully - wieder ein Hardtail aus Carbon.
Abflug aus Kathmandu, 3. Tag
Während es draußen noch regnet, gibt's drinnen in der Loggia des Hotels Frühstück. Wir laden anschließend die 20-kg-Kartons in einen von zwei Minibussen, die uns zum Flughafen Tribhuvan bringen. Durch den morgendlichen Regen sind die Straßen erneut so verschlammt wie am ersten Morgen, und Kathmandu verabschiedet sich gleich düster wie es uns begrüßt hatte. Wegen der Bike-Kartons muss man 3 Stunden vor dem Abflug einchecken - was für eine sinnlose Schikane angesichts der ansonsten problemlosen Abfertigung und der Warterei von drei geschlagenen Stunden in der spartanisch möblierten Halle „Abflug". Erneut geschäftig wirkende Gurungs, Tamangs, Sunwars usw., die mit dreckigen Lappen und noch dreckigerem Wischwasser auf den gesprungenen Großformat-Fliesen der Abflug-Halle einen weißen Dreckfilm erzeugen.
Ich habe das Sammelvisum. Wahrscheinlich, weil ich der Größte, Älteste und Weißhaarigste der Sechs bin, soll ich die Chinesen freundlich stimmen. Das scheint auch zu funktionieren, denn nach der fast endlosen Warterei ist die Grenzabfertigung ein Klacks und wir sind im Flugzeug. Bonbon Nr. zwei: Ich habe durch Zufall einen Fensterplatz ganz rechts