Nordroute. Lutz Geißler

Nordroute - Lutz Geißler


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bieten hatte. Als ich in den letzten Jahren meines Lehrerdaseins immer wieder von Schülern gefragt wurde: „Und hatten Sie niemals eine Fünf?" musste ich antworten: „Doch, in Sport." Und dann folgte stets das gleiche Rätsel: „Ich hatte in 13 Schuljahren einmal eine Fünf und einmal eine Drei. Was hatte ich wohl in den restlichen 24 Zeugnissen?"

      Richtig geraten! Wobei meine Schwimmnoten die durch die verheerenden sonstigen Sportnoten entstandene Gesamtnote nur minimal aufgebessert hatten - meinem Vater war's egal. Bei den Kladden zu den Bundesjugendspielen waren meist die Leistungen, die ich erbracht hatte, nicht aufgeführt - also meistens null Punkte. Ich selber merkte erst nach einigen Jahren, in welch aussichtslose Position ich mich dabei manövriert hatte: Für Mitschüler oft ein Außenseiter zu sein, den man beim Fußballspielen notgedrungen ins Tor stellte und darauf hoffte, dass kein Angriff auf's Tor erfolgte. Einer, der auch für Sportlehrer eine unrühmliche Rolle in der Mannschaft spielte. Wobei mancher Sportlehrer - heute im Nachhinein betrachtet - ebenfalls eine unrühmliche Rolle spielte, dem Pädagogik fremd zu sein schien.

      So z.B. „Hi". Im Schülermund wurde Herr Hierlewang (Name geändert) „Hi" genannt, wobei „Matt Dillon" die genauso treffende Bezeichnung gewesen wäre. Er stand nämlich in „Zivil" (Hi trug niemals Sportkleidung!) neben dem Schwimmbecken oder neben dem Spielfeld, hatte seine beiden Daumen zwischen Gürtel und Hosenbund geklemmt, machte niemals etwas vor und lästerte lieber über schwache Schüler: „Na, Geisler, du Flasche? Nichts drauf heute? ...." usw. Pädagogik 1963. Matt Dillon, der Titelheld der damals im Schwarz-Weiß-Fernsehen laufenden Serie „Rauchende Colts", stand ähnlich da: Daumen zwischen Revolverhalfter und Jeans geklemmt, spöttischer Blick. Heute noch, wenn ich eine TV-Wiederholung von „Rauchende Colts" sehe, fühle ich mich auf unschöne Weise an Hi erinnert.

      Nur zwei Mal konnte ich Hi verblüffen: Das erste Mal beim Tauchen im Lehrschwimmbecken der Schule, 50 m lang und 16 2/3 m breit. Als ich nach Abstoß am Beckenrand die dritte Breite in Angriff nahm und die 50 m voll machen wollte, bekam Hi einen ersten Eindruck davon, welch gute Lunge in einem solch schwachen Körper zu stecken schien. Angeblich - so berichteten mir hinterher Mitschüler - wollte er mich herausholen lassen, weil er einen Tiefenrausch befürchtete. Ein paar Wochen später trug er uns auf, in unserer Freizeit für den 5.000 m-Lauf zu trainieren, was ich natürlich nicht tat. Als dann Noten gemacht wurden, lief ich auf Anhieb ein bisschen länger als 17 Minuten, was Hi erstmals ein Zeichen des Respekts abrang.

      In diesem Schuljahr hatte ich die „Drei" im Sport.

      Schon in jungen Jahren faszinierte mich das Fahrrad als ideales Fortbewegungsmittel. Es machte mich frei, und da mein Vater als überzeugter Eisenbahner und Nutznießer unzähliger „Personalfahrkarten" die Anschaffung eines Autos ablehnte - er hätte sich das Auto auch nur schlecht leisten können - sehnte ich den Tag herbei, an dem ich mit meinem ersten selbstverdienten Geld mein erstes eigenes Fahrrad kaufen konnte.

      Wir hatten damals in Riedlingen an der Donau gewohnt. Bei meinem ersten Sommerferienjob im VW-Autohaus der Kleinstadt war ich 14 oder 15 Jahre alt, und der Job war lausig: Lackieren der unterirdischen Treibstofftanks ohne vorherigen Rostschutz, das hieß wieder von vorne anfangen, wenn man hinten fertig war. Außerdem säuberte ich verkalkte Werkstattfenster und schleppte gemeinsam mit VW-Azubis einmal einen VW-Boxermotor von der rechten auf die linke Seite der Werkstatt, was diese köstlich amüsierte (ich war damals ziemlich klein und unbeholfen). Der Arbeitslohn von 1,98 DM pro Stunde erscheint mir heute lächerlich, versetzte mich aber damals nach Empfang der sprichwörtlichen Lohntüte in den Status eines steinreichen Industriekapitäns. Mein erstes eigenes Rad, ein dunkelviolettes Herkules-Stahlrad mit Columbusrohren und roter Sachs-Dreigangschaltung, kostete 298.- DM, bei ca. 320 DM Monatslohn blieb sogar noch etwas übrig für die „Must-have"-Radlaufglocke und einen Sportanzug. Das Rad hielt übrigens noch lange über mein erstes wirkliches Radsportereignis, die Bodenseerundfahrt 1981 über 200 km, hinaus, wurde also über 25 Jahre von mir gehegt und gepflegt. Mitte der neunziger Jahre wurde es vom Fahrrad-Abstellplatz meiner Schule gestohlen.

      Bodensee-Radmarathon 1981

      Schon mit dem Herkules-Vorgänger hatte ich im zarten Alter von 11 oder 12 Jahren meist gemeinsam mit meinem Bruder Volker ausgedehnte Radtouren von Ulm nach Illertissen, Blaubeuren, Niederstotzingen und Lonsee unternommen.

      Als ich dann das Herkules-Rad besaß, unternahm ich Touren von Riedlingen ins nahegelegene Donauried, an den Illmensee, nach Mengen, auf den Österberg und an Zwiefalten und der Wimsener Höhle vorbei nach Hayingen.

      Während der Bundeswehrzeit und in den Jahren als junger Familienvater verstaubte und verharzte das gute Herkulesrad im Keller, wurde aber nach dem Umzug der noch jungen Familie nach Friedrichshafen wieder interessant.

      Bodensee-Rundfahrt (3) über 200 km? Davon hatte ich so oft gehört - zuerst vor vielen Jahren von meinem Vater, der ganz stolz darauf war, die 200 km außerhalb der Veranstaltung in einem Kurzurlaub in drei Tagen bewältigt zu haben. Ich wollte mehr und gemeinsam mit den nach damaliger Vorstellung lächerlich bunt gekleideten Radsportlern mit Sturzring (Sturzhelme gab es noch nicht) die Strecke an einem Tag bewältigen. Also meldete ich mich beim OK an. Am Starttag Anfang September regnete es fürchterlich, was die Stimmung schon drückte, dann machte sich auch noch der Mann an der Startnummernausgabe über mein geliebtes, seiner Meinung nach viel zu kleines 26'er Rad (mittlerweile war ich 1,87 m groß) lustig. Ein wenig aus Trotz, aber auch, um dem Dauerregen möglichst schnell zu entkommen, überholte ich viele Radsportler mit High-End-Ausrüstung und war am Ende nach etwas mehr als 9 Stunden (das entspricht einem 22'er-Schnitt) am Ziel. Das ungläubige Staunen des Mannes an der Startnummernausgabe war der Impuls für eine fast lebenswichtige Entscheidung: Zwei Wochen später besaß ich mein erstes Kotter-Renn-Sport-Rad (4).

      Aber nur ein Jahr lang. Ich war nämlich der Meinung, an diesem „Rennrad" - es hatte noch Gepäckträger, Licht und Schutzblech, aber bereits Pedalhaken - meine Kräfte voll ausleben zu können, und fuhr erst flache und kleine Berge wie den Heiligenberg und den Höchsten, kurz darauf aber immer längere Berge wie den Pfänder und steilere Berge wie den Gehrenberg (39). Wie glücklich war ich, als ich das erste Mal ohne Absteigen die steile Rampe bei Allerheiligen bezwang!

      Doch das „Rennrad" dankte es mir nicht. Ständig brachen Speichen, alle paar Wochen war ich bei meinem Radhändler „Manne" zum Speichenersetzen oder zum Nachzentrieren. Der meinte irgendwann, als er das Nachzentrieren leid war, nur lapidar: „Das Rad ist für Normalos und nicht für Kraftbolzer gebaut ..." Oder: „Den Gehrenberg fährt man auch nicht mit dem Rad - das ist was für Autos ...!" Als nach knapp einem Jahr auch noch die Speichen aus den nicht geösten Felgen rissen, hatte ich genug: Eine Rennmaschine musste her.

      So erstand ich 1986 meine erste Kotter-Rennmaschine: Rahmen anthrazit metallic, komplette Dura Ace-Ausstattung, 2745.- DM. Ich war „stolz wie Oskar".

      „Hauptsach' g'fahra" und „s' isch älles eba"

      Die meisten Mountainbiker und Rennradfahrer sind meiner Erfahrung nach wahre Kulturmuffel. Hat man eine auch kulturell interessante Tages-oder Halbtagesfahrt ausgearbeitet, so ist die Reaktion schwäbischer Radsportkollegen darauf eher ein abweichendes „Muss net sein" und ein überzeugtes „Hauptsach' g'fahra!" als eine uneingeschränkte Zustimmung. So war es zum Beispiel, als ich Ende der neunziger Jahre eine Elsass-Rundfahrt ausgearbeitet und ins Jahresprogramm übernommen hatte. Die Strecke, die Unterkünfte, das Wetter, die Kameradschaft, ... alles war toll. Aber wir hatten kein einziges Schloss, kein historisches Haus, keine Stadtmauer und kein typisch elsässisches Restaurant aus der Nähe gesehen. Geschweige denn besichtigt. Vogesen und Lothringen 2006, Pyrenäen 2008 - dasselbe. Wobei meinen Vereinsangehörigen Berge sowieso am liebsten sind, denn „s' isch älles eba" (es ist alles eben, denn da Start-und Zielort meistens identisch sind, sind auch deren Meereshöhen identisch, und daher kommt als Differenz der beiden Höhen null heraus - die Zwischenhöhen lässt man großzügig weg).

      Ein halbtägiger von mir ausgearbeiteter Paris-Rundgang anlässlich unserer Fernfahrt zur „Arrivée du Tour": Ebenfalls dasselbe. Die meisten wären lieber in den Vororten herumgeradelt anstatt sich die Notre Dame, die Sacré Cæur oder die


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