Anna Q und das Geheimnis des Haselbusches. Norbert Wibben
weiß, etwa acht Schüler verbringen die Ferien im Internat, die aus verschiedenen Gründen nicht nach Hause können. Wie diese zwei Wochen wohl sein werden, voller Langeweile, trotz gemeinsamer Unternehmungen? Schachspiele fallen in der Zeit jedenfalls aus, da ihr keiner aus ihrem Team bekannt ist, der ebenfalls im Internat bleiben wird.
Ein feines Kribbeln entsteht in ihrem Bauch, als sie im Clubraum die Tische erblickt, die für die Schachpartien vorbereitet sind. Die Tür wird geschlossen und alle setzen sich. Erneut grenzen sich die Teams gegeneinander ab. Es wirkt so, als ob sie sich in der Gemeinschaft unter Bekannten sicherer fühlen. Es ist aber auch der Ausdruck dafür, dass sie ab jetzt zwei gegnerische Mannschaften sind. Ein leises Raunen geht durch beide Gruppen, bis Innocent Green Ruhe fordert. Gemeinsam mit Morwenna Mulham erläutert sie den geplanten Ablauf des Wettkampfes.
»Anders als sonst bei Schachturnieren, wird nicht gegen die Zeit gespielt.« Ein Raunen und Murmeln entsteht. Das Team des CC scheint erleichtert, während das heimische Team erstaunt zu seiner Leiterin blickt. Die liefert sofort die Erklärung. »Unsere Gäste haben bisher keinerlei Turniererfahrung. Da wirkt der zusätzliche Zeitdruck als Stressfaktor, den wir ihnen ersparen wollen. Sie sollen nicht den Eindruck haben, wir würden das als psychologischen Trick nutzen«, und nickt Morwenna zu.
»Aber wir haben sogar Erfahrung mit Schnellschach. Wir müssen eine Art zeitlicher Begrenzung festlegen, damit wir die geplanten Spiele an diesem Wochenende realisieren können.« Das Raunen beider Seiten verstummt. Etwas irritiert über den Einwand denkt Innocent Green nach.
»Einverstanden, dann nutzen wir die Schachuhren und lassen für jeden Spieler für vierzig Züge zwei Stunden, und für weitere zwanzig Züge zusätzliche sechzig Minuten als Bedenkzeit zu. Das ist eine übliche Vorgabe bei Wettkämpfen. Eine Spielpaarung kann dadurch maximal sechs Stunden dauern.«
Die Zeitangabe erscheint Anna, Robin und den anderen enorm lang, da sie in ihren Übungen Schnellschach mit einer Zeitvorgabe von insgesamt dreißig Minuten gespielt haben. Diese Vorgabe wird sie keinesfalls unter Druck setzen. Trotzdem sind sie unsicher, ob das klug von ihrer Teamleiterin war. Anna vermutet zu Recht, dass dies eine Reaktion auf die gewährte Erleichterung ist.
»Diese Bedingungen nehmen wir an. Sei versichert, dass meine Spieler damit klarkommen.« Ihre soeben noch angespannten Gesichtszüge glätten sich und ein Lächeln erscheint.
»Gut, dann ist das geklärt. Morwenna und ich werden als gleichberechtigte Schiedsrichter die Partien verfolgen. Für jedes gewonnene Spiel bekommt das jeweilige Team einen Punkt, für ein Remis einen halben. Die Mannschaft, die am Ende des Wettkampfes die meisten Punkte erspielt hat, gewinnt.« Sie lächelt ihrem Team zu. Ganz offensichtlich steht für sie schon fest, wer das sein wird. Morwenna fährt fort.
»In den sechs Altersgruppen von elf bis sechszehn Jahren tragen wir jeweils zwei Spielpaarungen aus, deren Teilnehmer vorher festgelegt werden. Gibt es mehrere Kandidaten einer Altersklasse, entscheidet das Los, wer spielt. Wir haben noch nicht definiert, wie wir vorgehen, wenn es in einem Jahrgang nur einen Spieler gibt.«
»Fehlende Gegner dürfen aus einer niedrigeren Altersklasse ersetzt werden, jedoch nicht umgekehrt. Notfalls muss ein Spieler zweimal antreten«, stellt Innocent klar. Das ist genau das, was Morwenna erwartet hat. »Damit wir in den drei Tagen alle Partien realisieren können, finden sie in allen Altersklassen parallel statt. Heute also die ersten und morgen die zweiten. Am Sonntag gibt es die drei Zusatzspiele, deren Teilnehmer aus allen Spielern ausgelost werden. Und jetzt tragt eure Namen in die entsprechende Jahrgangsklasse ein.« Aus Morwennas Team tragen sich die zur Verfügung stehenden Schüler in die Wettkampfliste ein.
Damit in jeder Altersgruppe die geforderten zwei Spiele ausgetragen werden können, tritt Anna zweimal an. Ihr Name wird in der Liste wiederholt. Britta, Caitlin und Benjamin losen aus, wer von ihnen in ihrer Altersklasse spielt. Caitlin scheidet aus, ihr Name wird durchgestrichen. Harald möchte, anders als Anna, nur einmal antreten. Er fühlt sich dem zweimaligen Stress nicht gewachsen. Nach Rücksprache mit Morwenna tritt Caitlin ersatzweise in der Altersklasse 16 Jahre an, damit ein Punkt nicht kampflos an den Gegner fällt. Das ist nach der Vorgabe gestattet. Die Liste für das CC sieht also wie folgt aus:
11 Jahre: Anna Q. und Anna Q.
12 Jahre: Finn Johanson und Ciana Blyton
13 Jahre: Robin Jury und Kim Syton
14 Jahre: Britta Morgan, Caitlin Neville und
Benjamin Syton
15 Jahre: Alexander Owain und
Brendan Dowson
16 Jahre: Harald Crome und Caitlin Neville
Die Liste des gegnerischen Teams ist inzwischen auch vollständig. Die Paarungen der ersten Runde werden in jeder Altersklasse ausgelost und danach aus allen Spielern die für die drei Zusatzpartien. Das Los fällt für das CC auf Alexander, Robin und Anna, womit die fünfzehn Spielpaarungen festliegen.
Die Spieler setzen sich an die Tische. Um zehn Uhr ertönt ein Gong, der Wettkampf ist gestartet.
In ihrem ersten Match tritt Anna gegen Ciaran an. Die Partie ist ausgeglichen. Der Junge spielt gut, denkt Anna und konzentriert sich auf ihre Strategie. Während sie überlegt, welchen Zug sie als nächsten machen soll, verspottet der Gegner sie urplötzlich wegen ihres Namens.
»In der Namensliste steht, du heißt Anna Q. Das ist ein Ersatz für deinen richtigen Name. Ich verstehe, dass dir Qwentiz missfällt. Der Name hört sich seltsam an und scheint ungeeignet, laut in der Öffentlichkeit ausgesprochen zu werden! Aber warum nennst du dich dann Anna Q? Das klingt wie »Kuh«. Besser ist das auf keinen Fall!« Ciaran grinst sie unverhohlen an. Das ist von ihm taktisch geschickt. Anna ist sprachlos. Woher hat der Junge Kenntnis darüber, wie empfindlich sie auf Sticheleien wegen ihres Namens reagiert und wie dieser komplett lautet? Sie ballt unter der Tischplatte die Fäuste, kneift die Augen zusammen, unterdrückt mit Mühe ihre Tränen. Sie atmet mehrfach tief durch und macht einen überhasteten Zug. Dass dabei die Lampe über ihrem Tisch flackert, entgeht allen. Mit einem leisen Knall erlischt das Licht. Morwenna wirft dem Mädchen einen forschenden Blick zu, während Innocent hinauseilt und mit einer Ersatzglühbirne zurückkehrt. Wenige Züge später ist Anna schachmatt.
Der Junge frohlockt und lässt seinem Team den errungenen Punkt gutschreiben. Das Mädchen verlässt mit gesenktem Kopf den Tisch. Es überlegt kurz, ob sie Morwenna melden soll, dass ihr Gegner gegen die Schachregeln verstoßen hat. Sie weiß, während eines Schachturniers müssen die Teilnehmer festgelegte Verhaltensweisen einhalten. Eine Regel besagt, dass die Spieler ihre Konkurrenten in keiner Weise ablenken dürfen. Nach kurzem Zögern blinzelt sie wütend ihre aufkommenden Tränen fort. Da keine der beiden Schiedsrichterinnen die Worte des Jungen gehört hat, würde ihre Beschwerde wie ein lächerlicher Versuch wirken, ihre Niederlage zu beschönigen.
Der Wettkampf des ersten Tages verläuft spannend und wird für eine kurze Mittagspause unterbrochen. Dabei wird darauf geachtet, dass die Spieler, die ihre Partie nicht beendet haben, zuerst zum Essen gehen. Die anderen bleiben bis zu deren Rückkehr in dem Clubraum. Das erfolgt, damit kein Austausch mit ihnen stattfinden und die Spiele womöglich verfälschen kann. Etwa gegen drei Uhr ist die erste Runde zu Ende. Lediglich Alexander hat gewonnen, während Robin und Britta ein Unentschieden erreicht haben.
Den Rest des Nachmittags erkunden die Schüler des CC die Innenstadt. Die Gebäude wirken majestätisch und beeindruckend auf sie. Unzählige Schornsteine und spitze Fenster streben zum Himmel, aber auch einige Gitterzäune. Die hauptsächlich gelben Kalksteine, aus denen viele der Bauwerke errichtet wurden, werfen die warmen Sonnenstrahlen zurück. Das bewirkt, dass sich die düstere Stimmung der Schüler allmählich aufhellt. Zerknirscht gesteht Britta, dass Annas erster Gegenspieler, Ciaran, ein Cousin von ihr ist. Sie haben sich beim Treffen gestern noch lange unterhalten. Sein Interesse an Anna hat sie zwar gewundert, das aber als Wissbegierde gewertet, da er ja gleichaltrig mit ihr ist. Dabei muss sie unwissentlich verraten haben, wie sensibel Anna auf Hänseleien reagiert. Sie entschuldigt sich bedrückt bei ihr. Robin versucht, Anna zu trösten. Auch Alexander spricht ihr Mut zu.
»In den folgenden zwei Tagen bietet sich uns die Möglichkeit,