Tagebuch eines österreichischen Mädchens um 1901 - Band 129 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. Rita anonym um 1900
den Papa sehr geärgert; er sagt im Fleiß kann jeder einen Einser haben. Das ist schon wahr, aber wenn man irgendwo genügend hat, kriegt man keinen Einser im Fleiß. Die Inspee hat natürlich lauter Einser, nur in Englisch einen Zweier. Sie büffelt aber auch sehr. Die Beste bei uns ist die Verbenowitsch, aber wir können sie alle nicht leiden, sie bildet sich wahnsinnig viel ein, und die Franke sagt, sie ist nicht vertrauenswürdig. Die Franke lässt sich von ihrem Cousin, der geht in die 7., in die Schule begleiten; sie wird schon bald 14 und ist sehr schön. Sie sagt nicht, was für ein Zeugnis sie hat, ich glaube ein sehr schlechtes.
18. Dezember: Heute ist die Dora beim Nachtmahl ohnmächtig geworden, weil in ihrem weichen Ei schon ein kleines Henderl drin war, nämlich noch kein wirkliches, aber man hat schon die Flügel und den Kopf gesehen, aber nur angedeutet, hat der Papa gesagt. Was man aber deswegen ohnmächtig werden braucht, das sehe ich wirklich nicht ein. Nachher hat sie gesagt, es hat ihr so gegraust. Und sie kann nie mehr ein Ei essen. Zuerst war der Papa auch ganz erschrocken wie die Mama, aber dann hat er gelacht und gesagt: Solche Faxen! Sie hat sich dann gleich niederlegen müssen und ich bin noch sehr lange bei den Eltern aufgeblieben. Und wie ich dann in unser Zimmer kam, hat sie gelesen, d. h. ich habe den Lichtschein beim Türspalt gesehen; wie ich aber die Tür aufgemacht habe, war es schon finster und wie ich frage: Ah du liest ja noch, gibt sie keine Antwort und dann tut sie, als ob sie erst durch mein Lichtaufdrehn wäre wach geworden und fragt: Was ist denn? Solche Falschheiten kann ich nicht leiden, und drum habe ich auch gleich gesagt: Geh bitt' dich, du weißt recht gut, dass es 9 Uhr ist. Und weiter nichts. Heute auf dem Schulweg haben wir keine Silbe gesprochen. Glücklicherweise hat sie dann eine aus ihrer Klasse getroffen.
19. Dezember: Ich bin sehr neugierig, was ich zu Weihnachten bekomme. Gewünscht habe ich mir: Ein weißes Pelzwerk, nämlich Boa, Muff und ein Samtbarett mit dem gleichen Pelz verbrämt, Jackson-Schlittschuhe, weil die meinen immer gleich locker werden, deutsche Heldensagen, nicht am Ende Griechische; da möchte ich mich bedanken, Haarbänder, durchbrochene Strümpfe und wenn möglich eine goldene Nadel wie die Hella sie zum Geburtstag bekommen hat. Aber der Papa sagt, die wird unserem Christkindl wohl ein bisserl zu teuer sein. Die Inspee wünscht sich ein Frontmieder. Aber ich glaube, sie bekommt es nicht, weil es ungesund ist. Der Teppich für den Papa ist schon fertig und beim Scheren, das Buchtascherl für die Mama noch nicht ganz. Der Dora gebe ich eine kleine Toilette. Ja und meinen Hauptwunsch hätte ich bald vergessen, eine Schatulle zum Versperren für mein Tagebuch. Die Dora wünscht sich auch Ajourstrümpfe und 3 Bände Kränzchen. Neulich ist mir etwas Furchtbares passiert. Ich habe ein Tagebuchblatt liegen lassen oder verstreut, das weiß ich nicht genau. Wie ich nach Haus komme, sagte die Inspee: „das hast du verloren, nicht? Es sind wohl Notizen aus der Schule?“ Ich merk' es nicht einmal gleich, aber dann seh ich's gleich am Format und sage: Ja, es sind Notizen. Hmm, sagt die Inspee, aber kaum aus der Schule. Danke Gott, wenn ich das nicht der Mama sage. Übrigens wenn man nicht einmal noch orthographisch schreiben kann, dann sollte man wirklich noch kein Tagebuch schreiben. Das ist eben nichts für Kinder. Ich war wütend. Dann auf dem Klosett habe ich geschaut, was ich für einen Fehler gemacht habe; na, wenn nicht mit doppel n und dass ohne scharfes ß, das ist weiter was. Ich war nur froh, dass gerade nichts von ihr drauf gestanden ist. Das doppel n und das scharfe ß streicht sie rot an, als ob sie eine Lehrerin wäre, das ist die höhere Frechheit! Am besten wäre eigentlich in ein Buch mit Schloss zu schreiben, das man immer zusperrt, dann kann niemand etwas lesen und gar Fehler rot anstreichen. Ich schreibe doch oft so schnell, da ist ein Fehler leicht leicht möglich. Ich möchte wissen, ob sie nie einen Fehler macht. Mich ärgert das Ganze wütend. Aber wegen der Mama kann ich weiter nichts sagen, höchstens auf dem Schulweg; aber nein, wenn ich gar nichts rede, ärgert sie sich am meisten. Wenn ich viel rede drüber, so fällt der Mama das wieder ein von den 5 Seiten am Land und das ist nicht unbedingt nötig.
22. Dezember: Heute ist die Tante Dora gekommen. Sie wird jetzt einige Zeit bei uns bleiben, bis die Mama ganz gesund ist. Ich habe mich nicht mehr sehr gut erinnern können an sie, da war ich nämlich erst vier oder fünf Jahre, wie sie fort von Wien ist. Der liebe schwarze Käfer hat sie zu mir gesagt und hat mir ein Bußerl gegeben. Das schwarz höre ich nicht gerade sehr gern, aber die Hella sagt, es steht mir sehr gut, das ist pikant. Pikant sagen immer die Offiziere von ihrer Kusine in Krems, von der der Papa sagt, sie ist eine beauté das heißt soviel als Schönheit und sie ist auch ganz dunkel. Aber ich möchte doch lieber blond sein, blond und dazu braune oder noch lieber blaugraue Augen. Ob ich auch so eine beauté werde? Hoffentlich ja!!
23. Dezember: Ich freue mich schon furchtbar auf morgen. Was ich bekommen werde? Jetzt muss ich Christbaum aufputzen. Die Inspee fragt gerade: Heuer putzt die Gretel auch auf? Sie hat ja nie aufgeputzt! Ich möchte wissen, warum nicht. Aber die Tante drinnen hat gleich meine Partei genommen. „Natürlich putzt sie auch auf; aber bitte nicht allzu viel ins Kröpfchen“. „Wenn die Dora nichts isst, ess ich auch nichts“, sag ich gleich.
Am Abend. Gestern haben wir die letzte Schule gehabt. Wir haben frei vom 23. bis zum 2. Jänner. Das ist herrlich. Da gehe ich jeden Tag aufs Eis. Heute und morgen habe ich natürlich keine Zeit. Ob ich der „Goldfee“ eine Karte schicken soll. Wenn sie nur einen schöneren Namen hätte. Aber Anastasia Klastoschek; das ist grässlich ordinär. Überhaupt alle böhmischen Namen sind so grässlich ordinär. Der Papa kennt einen Grafen Wilczek, aber noch ärger ist schon Schafgotsch. Ich würde nie einen heiraten, der Schafgotsch oder Wilczek heißt und wenn er auch ein Graf und ein Millionär ist. Gestern haben wir allen Lehrkräften gratuliert, bei der Frau Dr. war ich und die Verbenowitsch, weil sie uns am liebsten hat, d. h. haben soll. Zum Professor Rigl, Igel, wir sagen immer Nickel, hat niemand gehen wollen, weil er beim Gratulieren immer sagt: „Is scho gut“. Das ist doch eine Gemeinheit und so haben müssen die Klassenordnerinnen gratulieren gehen. Vor Weihnachten hat die Frau Doktor uns ermahnt, dass wir niemanden von den Lehrkräften etwas geben dürfen. „Ich bitt' Euch Kinder, haltet Euch darnach, es kommt nur Verdruss heraus dabei, Ihr wisst es ja vom Nikolo her. Und ins Haus dürft ihr den Lehrkräften auch nichts schicken und vor die Tür stellt ein feines Christkindl auch niemanden etwas.“ Und dabei hat sie mich und die Bergler Edith furchtbar angeschaut. Also weiß sie es doch vom Krampus. Ich bin so müde, dass mir die Augen zufallen. Ah bravo, morgen ist Weihnachten!!!
24. Dezember: Der Weihnachtstag Nachmittag ist scheußlich. Man weiß nicht, was man tun soll, nichts freut einem mehr. Aufs Eis mag ich auch nicht, so schreibe ich jetzt lieber. Gestern ist der Oswald gekommen. Alle sagen, dass er gut aussieht; ich finde ihn schrecklich blass, und er hat auch ganz höhnisch gelächelt, wie alle seine gute Farbe lobten; natürlich, wie kann er denn gut aussehen, wenn er einen Liebesgram hat. Ich möchte ihm gern sagen, dass ich ihn ganz gut verstehe, aber er ist zu stolz, ein Mitleid anzunehmen. Er hat sich einen Armeerevolver zu Weihnachten gewünscht, aber ich glaube, er bekommt ihn nicht, weil Mittelschüler keine Waffen haben dürfen. Vor einiger Zeit hat im Gymnasium in Galizien ein Schüler seinen Professor aus Rache erschossen; es hat geheißen wegen schlechten Fortgang, aber in Wirklichkeit war es wegen einem Mädchen, obwohl der Professor schon 36 Jahre alt war. Heute vorm. war ich mit dem Oswald in der Stadt, Einkäufe besorgen; wir haben die Warth begegnet, nämlich die Elli und – – – den Robert. Der Oswald findet die Elli ganz passabel, aber der Robert ist ein grünes Scheusal, sagt er; und es passt ihm nicht sagt er, dass er mich so anglotzt. Wenn er erst das vom Sommer wüsste! Ich habe den Robert furchtbar von oben herunter behandelt, und das hat ihn wütend geärgert. Wenn man Euch Mädeln nur behüten könnte vor all dem Traurigen, was die Welt „Liebe“ heißt, sagte der Oswald am Nachhauseweg. Und wie ich anfangen will zu sagen „Ich weiß, dass Du unglücklich liebst und fühle mit Dir“, biegt die Inspee mit ihrer guten Freundin um die Ecke der Bognergasse und es rennen ihnen 2 Offiziere nach, so dass sie uns gar nicht gesehen haben. „Saperment, die Frieda hat sich herausgemausert, das ist ein feiner Bissen“, sagt der Oswald. Solche ordinäre Bemerkungen kann ich nicht ausstehen und ich habe auch den ganzen Weg nicht mehr geredet. Er hat es auch bemerkt und hat zur Mama gesagt: „Der Gretel ist vor Neid der Mund zugefroren“. Weiter nichts. Das ist wirklich infam, und ich weiß wenigstens, was ich zu tun habe.
Gott, schnell noch ein paar Worte. Der ganze Weihnachtsabend ist verpatzt. Ein Dienstmann hat für die Dora ein Boukett abgegeben, und der Papa ist wütend. Ich möchte nur wissen von