Tagebuch eines österreichischen Mädchens um 1901 - Band 129 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. Rita anonym um 1900
M., sie heißt nämlich Elisabeth; aber Namenstag feiert sie keinen, weil sie protestantisch ist; das ist riesig schade wegen dem 19. November.
31. Oktober: Ich habe doch ein Glück. Mit der Turnstunde ist nichts herausgekommen, obwohl die Mama selbst dort war. Und mündlich habe ich heute im Rechnen eins bekommen. Das Fräulein Steiner ist auch sehr lieb und hat gesagt: Ja L. was war denn das bei der Schularbeit, du rechnest ja sonst so gut? Ich habe mir nicht anders helfen können und hab gesagt: Ich hatte neulich solche Kopfschmerzen. Da lacht die Franke beinahe heraus, das war nicht schön von ihr; ich glaube überhaupt, man darf ihr nicht ganz vertrauen: sie ist vielleicht etwas falsch. Nach der Stunde hat sie zwar gesagt, sie hat gelacht, weil „Kopfschmerzen“ ganz etwas anderes bedeutet.
1. November: Heute fangen wir den Schreibtischteppich zu Weihnachten für den Papa an. Natürlich hat sich die Inspee die rechte Hälfte genommen, weil die leichter geht und ich muss die linke Hälfte machen, wo man immer den ganzen Binkel in der Hand hat. Für die Mama mach ich eine gestickte Buchtasche aus Leder mit Seide und Malerei; die Malerei darf ich in der Schule machen beim Fräulein H., die hab ich auch sehr gern. Aber am liebsten habe ich die Frau Doktor M. Ich lade die Franke nicht ein, weil sie gestern so gelacht hat und die Mama will auch nicht, dass ganz fremde Mädeln kommen.
2. November: Ich weiß noch immer nicht alles. Die Hella weiß viel mehr. Wir haben gesagt, wir prüfen uns in Naturgeschichte und sind hinüber in den Salon und dort hat sie mir noch sehr viel anvertraut. Und dann ist die Mali, unser neues Dienstmädel hinein gekommen und die hat uns etwas Grässliches gesagt. Die Resi ist nämlich im Spital, weil sie krank ist. Nämlich alle Juden müssen als ganz Kleiner eine furchtbar gefährliche Operation durchmachen; es tut schrecklich weh und davon sind sie so grausam. Sie müssen das tun, damit sie mehr Kinder bekommen; aber nur die kleinen Buben, die Mäderln nicht. Das ist grässlich und ich möchte keinen Juden heiraten. Wir haben die Mali auch gefragt, ob es wahr ist, dass das so schrecklich weh tut und da hat sie gelacht und gesagt: Es wird nicht gar so arg sein, sonst täten's nicht alle. Und die Hella hat gefragt: Haben Sie es denn auch schon getan, Sie haben ja gar keinen Mann? Und da hat sie gesagt: Gehn's Fräulein, so was redt man nicht, das ist nicht schön. Und wir haben uns sehr geniert und haben sie gebeten, dass sie nichts der Mama sagt. Und sie hat es uns geschworen.
5. November: Mit dem dummen Gürtel ist alles herausgekommen. Vorgestern räum ich meinen Kasten aus und will Ordnung machen, da kommt die Mali die Betten herrichten und sieht den Gürtel mit den Fransen. „Jö, sagt sie, der ist schön!“ Sie können ihn schon haben, ich trag ihn so nicht mehr, sag ich. Und gestern zu Mittag schaut die Mama auf einmal die Mali an und ich spür', dass ich ganz rot werde. Und nach dem Essen sagt die Mama, du Gretel, hast du der Mali den Gürtel geschenkt? Ja, sag ich, sie hat mich gebeten. Da kommt sie grad herein das Wasser hinaustragen und sagt: „Nein, ich hab nicht bitt drum, die Fräuln Grete hat mir 'n von selber geben.“ Und ich weiß nicht wie das war, ich war schon in unserem Zimmer, da kommt die Mama und sagt: Eine rechte Freude erlebt man an seinen Kindern. Die Mali hat mir gesagt, was für schöne Sachen du und die Hella redet. Ich renn gleich in die Küche und sag zur Mali: Wie können Sie einen solchen Tratsch machen? Sie haben sich in unser Gespräch gemischt. Das ist eine Gemeinheit und zwar eine kolossale. Am Abend beschwert sie sich beim Papa über mich und der Papa schimpft gräulich und sagt: Nette Rangen hab ich, das muss man sagen. Der Verkehr mit der Hella wird eingeschränkt, verstanden?
6. November: Das ist das Schönste, jetzt bin ich eine dumme Gans. Wie ich aber der Hella einen Stoß gegeben habe, sie soll vor der Mali nichts reden, da hat sie gelacht und gesagt: Was glaubst du denn, die Mali weiß doch so alles; vielleicht besser als wir zwei zusammen. Und dann erst hat die Mali das von den Juden gesagt. Und jetzt bin ich die dumme Gans. Also weiß ich wenigstens, was ich bin, eine dumme Gans. Und das sagt einem die beste Freundin, die man hat.
7. November: Die Hella und ich sind sehr kühl zusammen. Wir gehen miteinander, aber wir reden nur das ganz Gewöhnliche von der Schule und vom Lernen, sonst nichts. Seit heute gehen wir aufs Eis, so oft wir Zeit haben, das ist leider nicht sehr oft. Die Mama arbeitet für uns an dem Teppich. Es ist eine gräuliche Arbeit, aber sie hat doch weniger zu tun als wir.
8. November: Aufs Eis kommt ein wunderbares Fräulein; sie läuft großartig Bogen, Achter und Figuren. Ich bin hinter ihr gelaufen. Wie sie in die Garderobe ging, duftete es um ihr riesig. Ob sie bald heiraten wird und ob sie das alles weiß? Sie ist so schön und streicht sich immer die Haare aus der Stirn, wenn sie ihr hereinfallen. So schön möchte ich auch sein; dann wäre ich glücklich. Aber leider bin ich schwarz und sie ist blond. Wenn ich nur erfahren könnte, wie sie heißt und wo sie wohnt. Morgen muss ich wieder aufs Eis; lieber lern ich in der Nacht.
9. November: Ich bin ganz aufgeregt; sie war nicht am Eis. Vielleicht ist sie krank.
10. November: Heute auch nicht. Ich bin zwei Stunden dort geblieben, aber leider umsonst.
11. November: Endlich! heute kam sie. Gott, sie ist so schön.
12. November: Sie hat mich angeredet. Ich stehe neben der Tür und auf einmal hör ich hinter mir lachen, und da hab ich gleich gewusst: Das ist sie! Und richtig, da kommt sie und sagt: Wollen wir zusammen laufen? Oh bitte, wenn Sie es gestatten, sag ich und wir machen Gitter und laufen mit einander. Mir schlug das Herz bis zum Halse, und ich möchte immer was reden, aber mir fällt gar nichts Vernünftiges ein. Und wie wir zur Tür kommen, steht schon ein Herr da und grüßt sie und sie grüßt auch, und zu mir sagt sie: Auf Wiedersehen. Da frag ich noch schnell: Wann, morgen? Ja, vielleicht, ruft sie. – – – Nur vielleicht, vielleicht, wenn es nur schon morgen wäre.
13. November: Die Inspee behauptet, sie heißt Anastasia Klastoschek. Aber das ist nicht wahr, sie kann keinen solchen Namen haben, eher kann sie Eugenie oder Seraphine oder Laura heißen, aber Anastasia, das ist sicher nicht wahr. Wozu es so hässliche Namen gibt. Wenn sie wirklich so heißt? Und dann Klastoschek, so einen böhmischen Namen, und sie soll aus Mähren sein und schon 26 Jahre; lächerbar, 26 Jahre, sie ist vielleicht höchstens 18 Jahre, aber nein, so alt ist sie bestimmt nicht. Die Dora behauptet, sie wohnt in der Phorusgasse und sie sagt, gar so schön ist sie nicht. Das ist natürlich der pure Neid; die Dora findet keine schön außer sich selbst.
14. November: Ich habe das Fräulein an der Kassa gefragt, sie heißt wirklich Anastasia Klastoschek und wohnt in der Phorusgasse; aber wie alt sie ist, weiß das Fräulein nicht. Zuerst hat sie es mir nicht sagen wollen und hat gefragt, wozu ich es wissen will und wer mich fragen schickt. Erst als ich sagte, ich möchte es nur für mich wissen, schaut sie im Buch nach, weil ich nämlich die Nummer von ihrem Garderobekasten weiß; 36, das ist eine so schöne feine Zahl, die habe ich so gern, ich weiß eigentlich nicht warum, aber wenn man sie sagt, so ist es immer, als ob ein Eichhörnchen im Baum herumspringt.
20. November: Ich kann absolut nicht alle Tage schreiben. Die Mama liegt im Bett und der Doktor kommt alle Tage, aber ich weiß eigentlich nicht, was ihr fehlt. Ich glaube, der Doktor weiß es auch nicht ganz bestimmt. Wenn die Mama krank ist, so ist es zu Haus so unheimlich und sie sagt auch immer: Nur nicht krank sein, das ist das Ärgste. Mir liegt nichts dran, wenn ich krank bin; ich bin sogar gern krank, dann sind alle so nett zu einem, der Papa setzt sich, wenn er nach Haus kommt zu einem ans Bett, und sogar die Dora tut einem verschiedenes zu lieb; das heißt, sie muss es tun. Übrigens habe ich ihr, wie sie Diphteritis gehabt hat vor zwei Jahren, auch alles zu lieb getan, da wäre sie fast gestorben, sie hat 41,8 Fieber gehabt und die Mama war ganz verweint. Der Papa weint nie. Es muss komisch ausschauen, wenn ein Mann weint. Wie heuer mit dem Oswald der Skandal war, hat er schon geweint, ich glaube, der Papa hat ihm ein paar Ohrfeigen gegeben. Er hat zwar gesagt: O nein, aber ich glaube es doch; denn geweint hat er bestimmt, auch wenn er's leugnet. Es ist ja keine Schande und dann ist er doch so noch kein großer Mann. Wenn ich mich furchtbar ärgere, dann wein ich schon. Wegen einer Ohrfeige allerdings nicht.
21. November: Heute in der Religionsstunde ist die Schrötter Lisel, das ist der Liebling vom Herrn-Katecheten, nein wir müssen sagen Herr Professor, also sie ist der Liebling vom Herrn Professor mit der Bibel zu ihm gegangen und hat gefragt, was schwanger heißt. Bei der Maria steht das nämlich wirklich in der Bibel. Die Schrötter weiß nämlich noch gar nichts