Der Tod lauert im Internet. Jutta Pietryga
Lasse nutzt die Gunst der Stunde und büxt aus. Ärgerlich ruft sie ihm hinterher. „Lasse, Lasse, komm sofort zurück!“ Tut er natürlich nicht. Ruck zuck verschwindet der Hund hinter den Abfallbehältern. Gleich darauf fängt er an zu knurren, dann bellt er. Das Bellen wird immer lauter, dazwischen winselt er kläglich. Hedwig wird ungeduldig. Sie ärgert sich, weil sie ihn holen muss, ist jedoch beunruhigt als sie sein Winseln hört. „Du verflixter ...“ mehr sagt sie nicht, kann sie nicht sagen. Stocksteif steht sie da. Die Augen aufgerissen, schaut sie auf das, was ihr Hund anbellt. Hedwig fasst nicht, was sie sieht. Ihr Herz rast in der Brust, als will es herausspringen. Sie presst eine Hand dagegen, als wollte sie es hindern, sich selbständig zu machen. Mit Grauen registriert sie, was Lasse so in Aufregung versetzt. In einer großen Blutlache liegt ein junges Mädchen. Hedwig denkt jedenfalls, dass es ein junges Mädchen ist, schließt es aus der Kleidung und den langen Haaren. Das Gesicht ist wegen des Blutes nicht zu erkennen. Sie steht da, starrt auf das viele Blut. Die Hände zu Fäusten geballt zittert jetzt nicht nur ihr Kopf. Sie versucht zu denken, zu überlegen, ist jedoch wie versteinert. Langsam öffnet sich ihr Mund zu einem „O“. Ihre Brust hebt sich und sie tut das Einzige was sie tun kann. Hedwig schreit, schreit und schreit! Sie schreit so lange, bis sich die ersten Fenster öffnen. Wütende Stimmen dringen an ihr Ohr. Aber sie schreit weiter. Bis sie endlich kommen.
Viele Nachbarn stehen um sie herum. Sie hört eine männliche Stimme fragen.
„Hat einer sein Handy dabei? Wir müssen die Polizei rufen.“
Hedwig spürt, wie jemand sie um die Schultern fasst und beiseite zieht. Es ist Frau Krüger, die Nachbarin. Zitternd lehnt Hedwig an der Mauerwand des Hauses. Jemand hat Lasse am Gitter der Pforte festgebunden.
Aus der Ferne hört sie Martinshörner. Ihr schrilles Geräusch wird lauter, kommt näher. Polizeiautos sowie ein Rettungswagen stoppen in der Straße. Ein Nachbar, Herr Wagner, der immer das große Wort führt, wenn es etwas zu regeln gibt, läuft geflissentlich auf den Krankenwagen zu.
Jemand in orangefarbener Kleidung kommt auf sie zu, ein anderer mit einem silbernen Koffer folgt. Die Männer nehmen sie in die Mitte und geleiten sie zum Notarztwagen. Einer spricht mit sanfter Stimme unentwegt auf sie ein. Das soll beruhigend sein, nervt Hedwig jedoch. Sie wundert sich, nach dem schrecklichen Geschehen, das alles so klar wahrzunehmen.
Sie soll sich auf die Trage in dem Krankenwagen legen. Es tut gut, zu liegen. Der eine Mann, der sich als Arzt vorstellt, nimmt ihren Puls, misst den Blutdruck. Anschließend gibt er ihr eine Spritze, die ihr gut tun wird, sagt er. Und das stimmt, wie sie bald merkt, entspannt döst Hedwig weg. Ihr letzter Gedanke gilt Lasse, ob er wohl zu Fressen bekommen hat.
Kapitel 10 Tatort
Am Tatort wimmelt es vor Menschen, Schaulustige und etliche Beamte des Polizeiapparates. Uniformierte Polizisten drängen die Umstehenden zurück, einer von ihnen diskutiert mit einem besonders hartnäckigen Gaffer, einem dunkelhäutigen Typen, der unbedingt fotografieren will, ein anderer rollt das blau-weiße Absperrband ab, um den Ort des Geschehens zu sichern.
Kriminalbeamte in weißen Overalls, die Kapuzen hochgezogen, bauen ihre Gerätschaften auf. Sie platzieren Schilder mit Nummern an diversen Stellen des Tatortes. Andere nehmen Bilder vom Ort und der Umgebung auf, machen von allen Seiten Aufnahmen des Mordopfers, die später der Fallakte hinzugefügt werden.
Einige suchen die Gegend nach Verdächtigem ab. Vielleicht steckt der Mörder noch in der Nähe, was durchaus möglich ist. Manche Verbrecher beobachten mit Vergnügen die Aufregung, die sie verursachen. Weitere Beamte halten Ausschau nach Spuren. Von wo ist er gekommen? In welche Richtung geflüchtet? Jedes fragwürdige Indiz sammeln sie auf, verwahren es in dafür vorgesehene Plastiktütchen, wo das Labor später nach Hinweisen auf Täter oder Tathergang forscht.
Die zuständigen Beamten der Kriminalfachinspektion 1, Abteilung Mord und Totschlag, Kriminalhauptkommissar Jens Fender sowie Kriminalkommissar Armin Lohse treffen ein. Bevor sie den Ort des Verbrechens betreten, holen sie die vorgeschriebenen Utensilien aus dem Kofferraum ihres Autos. Sie ziehen Latexhandschuhe an und stülpen Schutzbezüge über die Schuhe. Auf keinen Fall dürfen sie fremden Spuren zum Tatort tragen, diese könnten die Untersuchungen erschweren oder sogar verfälschen.
Am Fundort steht der hagere Rechtsmediziner Dr. Erik von Straaten gebeugt über der Ermordeten. Als er die Kommissare erblickt, richtet er sich ächzend auf, den unteren Rücken mit den Händen stützend. Schleppend schlurft er auf sie zu.
„Guten Morgen die Herren. Ziemlich viel Blut. Eines kann ich schon sagen. Sie ist erstochen worden. Und zwar genau hier.“
Lohse rollt mit den Augen, murmelt. „Tolle Erkenntnis.“
Unbeirrt fährt van Straaten fort. „Diverse Stiche. Das Opfer ist noch nicht lange tot sein. Die Rigor mortis, Leichenstarre, ist noch nicht voll ausgebildet. Folglich dürfte der Todeszeitpunkt bei unter sechs Stunden liegen. Alles andere später.“
Fender begutachtet die Tote. Sie ist sehr jung. Das Gesicht bestialisch zugerichtet, kaum zu erkennen. Auch er schließt aus der Kleidung des Mordopfers Rückschlüsse auf das Geschlecht. Ein Kollege der Spurensicherung tritt auf ihn zu.
„Wir wären dann soweit hier fertig. Die Leiche könnte abtransportiert werden.“
„Okay, mir reicht der Anblick auch. Bringt sie ins Rechtsmedizinische Institut.“
Grüblerisch schaut Fender den Männern zu, wie sie den Leichnam in den Zinksarg betten. Er ermahnt sich, die Sache nicht zu nah an sich heranzulassen. Er neigt dazu, Probleme mit nach Hause zu nehmen, tadelt sich oft, zu empfindsam zu sein. Ein Kriminaler darf sich das nicht erlauben, will er nicht draufgehen. Abrupt wendet er sich Armin Lohse zu. „Was sagt der Leiter der Spusi?“
Der dröhnende Bass des Kollegen hört sich fehl am Platz an, lässt ihn innerlich zusammenzucken. „Nichts! Das heißt sie haben nichts Brauchbares. Ein paar Fingerabdrücke. Ob da viel bei raus kommt? Wohnen schließlich eine Menge Leute hier, ganz zu schweigen von den Passanten. Sind längst nicht fertig mit den Befragungen. Aber bisher nichts Außergewöhnliches.“
Fender seufzt. „Also das heißt mal wieder abwarten. Lass uns zurückfahren.“
Tumult hinter ihrem Rücken lässt sie herumfahren. Eine Frau wird von zwei anderen festgehalten. Schreiend wehrt sie sich dagegen. Rasch geht Fender auf sie zu. Er ahnt, wer sie ist, sieht das Wissen in ihren Augen. Warum taucht sie erst jetzt auf, wundert er sich. Der ganze Tumult hätte sie doch längst alarmieren müssen. Als er vor ihr steht, schlägt ihm eine Fahne entgegen, was seine Frage beantwortet. Er ergreift ihren Arm, führt sie ins Haus.
Lohse fragt einen der Umstehenden nach dem Namen der Frau. Nach einer gut kalkulierten Pause folgt er den beiden. Er will vermeiden das jetzt unweigerlich folgende Drama direkt mitzuerleben. Der Blick auf die Namensschilder schockiert ihn! Er muss in den vierten Stock. Altbau! Etliche Stufen mehr zu bewältigen! Die Wärme des Sommers scheint sich in dem engen stickigen Hausflur zu konzentrieren. Bevor er die Wohnung betritt, wischt er sich mit einem riesigen, graukarierten Opataschentuch den Schweiß von der Tür. Leises Weinen dringt an sein Ohr, untermalt von der fragenden, sanften Stimme des Kollegen. Fender macht das immer so gut, denkt er, ist viel einfühlsamer als er selbst.
„Liebe Frau Kroll, es tut mir außerordentlich leid, aber ich muss ihnen jetzt ein paar Fragen stellen. Wissen sie, wo ihre Tochter gestern gewesen ist?“
Unbeholfen wartet Lohse unter dem Türrahmen, erfasst das unaufgeräumte Wohnzimmer, hört die Frau mit schriller Stimme antworten. „Ich weiß es nicht!“ Das letzte Wort schreit sie fast.
„Bitte Frau Kroll, regen Sie sich nicht auf. Wir können Sie auch später befragen, wenn sie jetzt nicht dazu imstande sind. Aber je mehr, je eher wir etwas wissen, was uns weiter bringen könnte, desto schneller klären wir das Verbrechen auf.“
Sie weint erneut. „Ich war gestern abend nicht zuhause. Ich hatte eine Verabredung. Nele auch. Soviel ich weiß, wollte sie mit ihrer Freundin Jule los ziehen.“
„Jule. Und wie weiter? Wo wohnt sie? Wir müssten sie