Der Tod lauert im Internet. Jutta Pietryga
Gedrängel und der Warterei.
„Bring mir bitte auch eine mit“, schreit ihr Nele hinterher.
Na klar, wie immer! Das nächste Mal kannst du dich da durchdrängeln!
Small Talk ist nicht möglich. Sie verstehen einander kaum, so laut wummert die Musik. Man verzichtet auf jedwede Konversation, wippt lediglich im Takt der Klänge rhythmisch mit den Beinen, die Schultern zucken, ab und an ist auch der Kopf beteiligt. Nebenbei nippen sie an ihrer Cola, die lange reichen muss.
Das Scheinwerferlicht an der Decke wechselt ständig, taucht die Tanzenden abwechselnd in rosa, rot, lila, blauem und grünem Licht, in vielerlei Schattierungen.
„Das sieht echt geil aus!“, schreit Jule der Busenfreundin ins Ohr.
„Find‘ ich auch! Am besten gefallen mir die Rottöne, irgendwie verrucht!“ Brüllt diese zurück.
„Los komm, wir pogen auch!“, forderte Nele, die nicht mehr nur mit den Füßen zappeln will.
Bevor sie losziehen können, steuert ein dunkelhaariger Mann, nicht ganz ihre Altersklasse, auf sie zu. Nele wartet ab. Gut sieht er aus, ein Touch südländisch. Aber zu alt. „Hast du Lust zu tanzen?“ „Klar! Deswegen bin ich hier.“ Sie musterte ihn weiter, wie sie meint, unauffällig. Der hat was! Diese Augen! Vorsicht Nele! Dreimal tanzt sie mit ihm.
Spät ist es geworden oder früh, je nachdem von welcher Perspektive man es sieht. Seufzend schaut Nele auf die Uhr, sagt bereits zum vierten Mal.
„Ich glaube, wir müssen.“
„Du hast recht. Schade! Könnte durchtanzen bis morgen.“
„Morgen haben wir längst, Süße. Los komm jetzt!“
Ungeduldig fasst Nele die Freundin am Arm und zieht sie Richtung Garderobe. Total aufgekratzt, schwatzend und gackernd, schlendern sie die Lister Meile entlang nach Hause und schwärmen, wie toll es mal wieder war.
Wie stets bezog er Stellung an der Bar. Hier kann er alles überblicken, ohne aufzufallen. Zwei Mädchen in Minis, die knapp ihren Po bedecken, erregen sofort seine Aufmerksamkeit. Manchmal, wenn sie ausgelassen jumpen, kann er sogar ihre Slips sehen. Seine Augen suchen die mit dem knallroten Glitzertop. Ihre Brüste, die beim Tanzen hüpfen, törnen ihn an. Sein geübter Blick erkennt sofort, dass sie keinen BH trägt. Viermal tanzt er mit ihr. Einmal zu einem Schmusesong. Er achtet darauf, nicht auf Tuchfühlung zu geraten. Das wäre fatal!
Die Mädchen gehen. Ihm reicht es auch. Der Lärm der Musik, die vielen Menschen, das ständige Rotieren der Lichtorgel empfindet er inzwischen als lästig. Kopfschmerzen kündigen sich an. Überstürzt eilt er zum Ausgang.
Ihm ist schummerig. Schwindel erfasst ihn. Das Blut rauscht in seinem Kopf. Er schiebt das auf den Alkohol. Er vertrug noch nie viel. Das Rauschen im Kopf nimmt zu und steigert sich zu einem reißenden Fluss, der schließlich mit donnerndem Getöse die Klippen herunterstürzt.
Pötzliche Stille. Ganz hinten in seinem Kopf kitzelt es dezent. Er vernimmt ein Wispern, dann Flüstern, das lauter wird. Da sind sie wieder! Reglos, den Kopf geneigt, horcht er. Die Stimmen werden lauter und er setzt sich wieder in Bewegung.
Der Mann verwandelt sich in einen Schatten. Dieser Schemen will nicht gesehen werden. Er huscht in einen Geschäftseingang, der ihn vor Blicken schützt. Die dunkle Silhouette schleicht, die Deckung der Häuser nutzend, den Girls hinterher. Er kann nicht sagen warum, gehorcht dem Drang und den Stimmen, muss den Flüsterern zu Willen sein, wie immer, wenn sie in seinem Kopf sind. Momentan wispern sie nur. Er versteht sie nicht, weiß nur, er soll den Mädchen folgen. Irgendwann werden die Stimmen lauter. So ist es stets. Dann wird er wissen, was sie wollen, was er tun muss. Ein paar Schritten später stoppt er erneut. Seine Pupillen schielen Richtung Nasen, so angestrengt lauscht er. Er lächelt. Weiss jetzt, was sie wollen.
„Wie fandest du diesen blonden Typen mit dem halblangen Haaren“, will Jule wissen.
„Na ja, ganz süß. Aber die Haare viel zu lang, erinnerte mich unangenehm an diesen gewissen Talkmaster, du weißt, den, den ich nicht ausstehen kann, der, der auf jung macht, obwohl er schon fast scheintot ist.“
„Ihhh!“ Jule schaut sie entsetzt an. „An den Opa! Ne, ich fand ihn süß. Er gab mir seine Handy-Nummer. Ich soll ihn mal anrufen.“
„Echt! Ist ja krass! Mir wollte auch einer seine Nummer geben! Nein eigentlich wollte er meine. Aber ich glaube, der war eher auf eine Nummer aus!“
„Wen meinst du denn?“
„Na, diesen Dunkelhaarigen, mit dem Schlafzimmerblick und den gegelten Haaren, mit dem ich öfter getanzt habe. Wahrscheinlich hat der sich was darauf eingebildet. Obwohl schlecht sieht er nicht aus. Aber ich weiß nicht. Das ist bestimmt ein Türke oder so. Vielleicht ist er beim nächsten Mal auch wieder da.“ Ihr Kichern steigert sich zum Lachen, was sie zum Stehenbleiben zwingt.
Der Schatten übersieht im Dunkeln eine Getränkedose. Überlaut tönt ihr Scheppern durch die Nacht. Besorgt drückt er sich an die Hauswand einer Boutique, verschmilzt mit ihr. Angespannt hält er den Atem an.
„Hoffentlich haben sie nichts gehört.“
Haben sie nicht! Ihr Lachen übertönte das Geräusch. Erleichtert stößt der Schemen die angehaltene Luft aus. Mit einem Lächeln und funkelnden Augen huscht er weiter.
Wenig später bleibt Jule irritiert stehen. Argwöhnisch dreht sie sich um. Ihre Blicke durchforschen die Dunkelheit. Ihre Ohren lauschen aufmerksam. Nach einer Weile kräuselt sie ihre Nase, zuckt die Schultern und geht weiter. Nach ein paar Schrittem lauscht sie erneut.
Eine befremdliche Schwere breitet sich in ihrem Bauch aus. Sie meint zu merken, wie die feinen Härchen auf ihren Unterarmen sich aufrichten. Sie hat etwas gehört! Da ist sie ganz sicher! Panisch umklammert sie den Arm ihrer Freundin. Den Kopf zur Seite gedreht horcht sie angestrengt, wagt diesmal nicht, sich umzudrehen.
„Was ist denn los? Warum drehst du dich ständig um?“
„Ich habe was gehört. Da ist jemand.“
„Du spinnst! Das bildest du dir nur ein.“
„Ne, außerdem habe ich ein Scheißgefühl im Bauch. Da ist wer!“
Mit vor Anspannung geweiteten Augen sieht sie Nele an.
„Du immer mit deinen Gefühlen“, protestierte diese, ihr aufkommendes Unbehagen unterdrückend. Den Kopf zwischen die Schultern gezogen lauscht auch Nele. Sie zuckt zusammen.
„Da war was, ein Knacken!“
Regungslos stehen die Mädchen da, als könnten sie sich so unsichtbar machen. Schließlich wagen sie es, drehen sich vorsichtig um!
„Ich glaube, da ist eben jemand in dem Geschäftseingang verschwunden“, flüstert Jule. „Jedenfalls habe ich einen Schatten gesehen.“
„Ich weiß nicht. Mir ist nichts aufgefallen. Vielleicht bilden wir uns das alles nur ein,“ zweifelt Nele, will es glauben.
Schweigend, voller Missbehagen, setzen sie ihren Heimweg fort. Sämtliche Sinne angespannt lauschen sie wachsam. Ihr dringender Wunsch zu rennen, wächst. Obwohl sie es liebend gern getan hätten, wollen sie sich diese Blöße jedoch nicht geben und beschleunigen lediglich ihren Schritt, bestrebt, das rettende Heim zu erreichen.
Der Nachhauseweg scheint endlos. Sie spüren das Kribbeln im Rücken, das sie glauben lässt, beobachtet zu werden. Dieses Unbehagen breitet sich aus, zwingt sie schließlich doch, sich umzudrehen.
Ein Schatten huscht unter die Bäume. Das stakkatoartige Hämmern ihres Pulses hallt in ihren Ohren wider. Entsetzen springt ihnen in die Kehle. Sie schreien auf. Klammern sich aneinander.
„Der war höchstwahrscheinlich auch in der Disco“ beruhigt Nele Jule und sich selbst.
„Bestimmt“, stimmt Jule eifrig zu. „Und jetzt ist er auf dem Weg nach Hause genauso wie wir.“
„Vielleicht