Rufe aus Morgania. Brigitte H. Becker
46. Laras Einweisung
Klappentext
Eine Umweltgeschichte um eine junge Elfenkönigin und das Mädchen Lara, das Meridor nach langer vergeblicher Suche für die nach Hilfe rufende Erdmutter gewinnt. Der Schattenmeister will Chaos im Elfenreich anrichten, damit dessen Harmonie und Freude nicht mehr an Menschen weitervermittelt werden können, die von ihrer Seele und der Natur entfremdet werden sollen. Lara ist noch nicht infiziert, während ihr Bruder zum Opfer der Schattenwesen wird. Nagajana beauftragt seinen Chefspion mit der Entführung der Elfenprinzessin, die ihm angeblich gefährlich werden könnte. Der Halb-Elf fühlt sich im Elfenschloss viel wohler als auf der Schattenburg und gerät aus Sympathie für Sylvi zwischen die Fronten. Dann ist die Kleine mit seinem Sohn verschwunden. Im Wasserschloss, wo der Wassermann mit seiner Alptraumfabrik Nagajana in die Hände spielt, soll Kontrax soll nach den beiden und drei abgestürzten Elfenmädchen suchen und muss eine Entscheidung treffen. Meridor sucht den Rat der Wald-Fee und deckt das Geheimnis der Freundin ihrer verblichenen Mutter auf, die sich immer wieder überraschend einmischt, was meist nur bei Lara gutgeheißen wird.
Teil eins
Die Elfenkönigin wollte gerade mit dem Glöckchen auf dem Glastisch nach dem Kindermädchen läuten, als eine kleine Hand nach ihrer langte, um sie davon abzuhalten. „Bitte nicht!“ piepste ihr zartes Töchterchen mit flehentlichem Augenaufschlag. „Wir würden zu gerne noch die Schöpfungsgeschichte hören, wovon du uns erzählt hast.“ Sie wies auf ihren drallen Freund, der neben ihrem Moossofa auf dem Korbstuhl saß und wie ein großes Baby wirkte. „Es ist doch sein letzter Abend hier bei uns im Elfenschloss.“
Der größere Junge nickte so heftig, dass die übergroßen Ohren wackelten.
„Oh ja bitte! Ich werde doch morgen früh schon abgeholt.“
Meridor schmunzelte amüsiert und vergaß für einen Moment die bleierne Müdigkeit, die sie im Dezember immer früher überfiel, äußerte aber Bedenken. „Ich glaube nicht, dass sie sich für Kinder eignet, zumal als Gutenachtgeschichte. Ihr werdet sie nicht verstehen können.“
Das Prinzesschen mit dem Engelsgesicht rümpfte missbilligend das Näschen und wechselte vielsagende Blicke mit ihrem ungleichen Freund, der nach einiger Überlegung vorschlug: „Wenn wir den Anfang hören, könnten wir es testen.“
Zwei Augenpaare, eines lichtblau, das andere goldbraun, sahen Meridor so erwartungsvoll an, dass sie sich schließlich geschlagen gab. Zudem blinkte ihr vom Bücherregal ein Goldeinband entgegen, der sie magisch anzog. Seufzend stand sie auf. „Also gut, ich lese euch zum Abschied etwas vor, und ihr sagt mir, ob ihr mitgekommen seid.“
Der schwere Foliant mit der Geschichte von Morgania fiel ihr von selbst in die Hände.
Sie wurde von unsichtbarer Hand in einer verschnörkelten Goldhandschrift von Zeit zu Zeit weiter geschrieben, wie es nach ihrer Amtsübernahme mehrmals der Fall gewesen war. Meridor hatte schon länger nicht mehr hineingeschaut und fand beim Durchblättern tatsächlich einen Nachtrag, den sie sich für später vornahm, wenn sie alleine war.
Nachdem sie es sich mit beiden Kindern auf der Couch bequem gemacht hatte, sprang das Buch an der gesuchten Stelle auf. Verwundert begann sie vorzulesen.
Die Schöpfungsgeschichte der Elfen
Am Anfang war die Freude. Die wonnige Umarmung des himmlischen Vaters und der Erdmutter belebte die Erde und tauchte sie ins Licht. Sie wurde zu einem Paradies von vollkommener Schönheit, wo Harmonie und Friede herrschten. Elfen wurden als Mitschöpfer eingesetzt, zuständig für die Ausgestaltung ihnen anvertrauter Pflanzen.
Sie liebten und ergänzten sich und arbeiteten spielerisch Hand in Hand miteinander, lachend, singend, tanzend.
Die Schöpfung war im Gleichgewicht und alles wohl geordnet. Die Welt Uhr tickte langsam und präzise. Sonne, Mond und Planeten kreisten in immer gleichen Rhythmen auf vorbestimmten Bahnen. Die Jahreszeiten wechselten sich regelmäßig ab so wie Tag und Nacht. Sommer waren wirklich Sommer und Winter wirklich Winter.
Mutter Erde wünschte mehr Bewegung und gebar das Tier als ein vitales, instinktives Wesen und mit ihm den Daseinskampf. Dann kam der Mensch auf den Plan als ein seiner selbst bewusstes, denkendes Wesen, das sich zunächst, selbstgenügsam, glücklich und zufrieden im friedlichen Miteinander harmonisch in die kosmische Ordnung mit einfügte.
Aber Beobachter anderer Planeten fanden sein Dasein zu fade ohne einen Ansporn zur
Weiterentwickelung und schickten eine mächtige schwarze Schlange zur Erde geschickt, um den Menschen anzustacheln, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu naschen.
Als er wie erhofft, nicht widerstehen konnte, fiel er aus dem paradiesischen Zustand heraus, verlor seine Unschuld und sein Urvertrauen und geriet in Zwiespalt.
Er sonderte sich von seinen Mitmenschen ab, beäugte sie argwöhnisch und kritisch und begann, zu bewerten und abzuwerten.
Aus Angst vor dem Unbekannten wurde der Daseinskampf der Tiere nachempfunden, worin der Stärkere überlebte. In der Regel galt der Aggressor als schlecht und das schwächliche Opfer als gut und bedauernswert, obwohl die Rolle ihrem Charakter entsprach.
In dem Maße, wie sich Menschen entzweiten, verloren sie die Freude, bis nur ein schwacher Schimmer übrig blieb, flüchtiges Vergnügen.
Daraufhin sandte Mutter Erde einen Appell an ihre Elfendienerschaft, durch Hinweise auf Naturschönheit Menschenherzen erneut für die Freude zu erschließen, was häufig, zumindest kurzzeitig, gelang.
Meridor, die bis hierhin wie in Trance vorgelesen hatte, obwohl sie eigentlich früher unterbrechen wollte, nahm die Kinder in ihren Armen allmählich wieder wahr.
Beide schauten wie verabredet durch die Kristalldecke zum rot gestreiften Himmel hoch.
Ihre Kleine nuckelte versonnen am Daumen, während sich der Junge gedankenverloren am Kopf kratzte.
„Habt ihr mir folgen können?“, fragte Meridor mit zweifelndem Unterton.
„Nun, das war der harmlosere Teil. Ich sagte schon: es ist keine Geschichte für Kinder. Aber ihr wolltet sie ja unbedingt hören.“
Sylvi nahm augenblicklich den Daumen aus dem Mund und entwand sich ihrem Arm, um, sich kerzengerade aufsetzend, mit Nachdruck zu beteuern:
„Alles sonnenklar. Sind doch keine kleinen Kinder mehr, nicht wahr Meffi?“
Sie puffte dem gelbhäutigen Freund auffordernd in die Rippen, der sie, wie ertappt zusammenzuckend, verständnislos anstierte. Erst auf ihre bohrende Frage, ob er auch alles verstanden hätte, fing er an zu stammeln.
„Ich sowieso, alles kapiert. Bin doch drei Jahre älter als du.“
„Musst du das immer betonen!“, empörte sich Sylvi mit einem temperamentvollen Hopser auf dem Po, dass der Lockenschopf wippte. „Dafür entwickeln sich Elfen im Flug, und Prinzessinnen wie ich überflügeln alle.“
Sie streckte dem verdatterten Kerlchen die Zunge heraus. Der Junge lachte höhnisch.
Bevor er kontern konnte, klatschte Meridor ungehalten in die Hände.
„Kein