Rufe aus Morgania. Brigitte H. Becker
für euch.“
Die Kinder sahen sich vielsagend an, um wie aus einem Mund „Friede“ auszurufen.
„Bitte, bitte lies doch weiter“, säuselte ihre Kleine mit verwässerten Kulleraugen.
Bevor Meridor verneinen konnte, schlug sich der Goldeinband auf, um den Folgetext aufblinkend anzuzeigen. Sie konnte nicht anders, als weiter zu lesen.
„Aber im letzten Jahrhundert gerieten die Dinge außer Kontrolle, als ein schwarzer Planet auftauchte, der die anderen irritierte, indem er völlig nach Belieben mal vor und mal zurück sprang. Eigentlich war es gar kein richtiger Planet; dazu war er zu klein, doch störte er nicht nur andere Himmelskörper, sondern auch die große Schlange, die zusammengerollt tief im Erdinneren schlief, bis sie erwachte, um mit Hilfe ihrer Brut und Wesen vom eigensinnigen Planeten die Erde ins Chaos zu stürzen.
Ein fürchterlicher Kampf entbrannte zwischen den Kräften des Lichtes und der Dunkelheit, die ganze Nationen für ihre Zwecke benutzten, was zwei Weltkriege entfachte, die glücklicherweise letztendlich Mächte des Lichtes gewannen.“
Das Buch blinkte SOS. Erschreckt hielt Meridor inne.
Das hatte sie noch nie erlebt. Sie überflog die nächsten Zeilen.
„Doch Mutter Erde war zutiefst erschüttert und unruhig geworden. Die Weltuhr geriet aus dem Takt und kreist nun immer schneller, was die Menschheit antreibt und in Eile versetzt und zusehends für Naturschönheit erblinden lässt. Nicht alle Schattenwesen wurden vernichtet. Überlebende wie der Herr der Lüge sind aktiv wie nie und viele Menschen nur allzu bereit, sich ihrem verderblichen Einfluss zu öffnen.
Der Kontakt schürt Konflikte, setzt unter Druck, macht aggressiv, versetzt in Besorgnis und Angst und degradiert die Freude zu Spaß.“
Dankbar für die Warnung schlug Meridor den umfangreichen Folianten zu.
Bevor die Kinder protestieren konnten, wurde angeklopft.
Ein Rotschopf lugte durch die Tür, den sie erleichtert heranwinkte.
Der Junge lief erfreut auf die Elfe zu, während ihr Töchterchen ihr einen flehentlichen Blick zuwarf. Doch wünschte sie beiden eine gute Nacht und gebot dem Kindermädchen, beide mitzunehmen. Dann besann sie sich eines Besseren und winkte es von der Tür zurück.
„Lass die beiden ihren letzten gemeinsamen Abend auskosten und leiste ihnen Gesellschaft.“
Erleichtert aufatmend ließ sich auch ihre Sylvi bereitwillig von der Elfe fortführen.
Endlich allein ließ sich Meridor erschöpft ins weiche Moospolster ihres Sofas sinken.
Wie sehnte sie den Winterschlaf herbei!
Doch galt es, wie auch immer, bis zur Sonnenwende durchzuhalten.
Sie musste sich dazu zwingen, das Buch zur Hand zu nehmen, um die beigefügten Zeilen durchzulesen, die ihr aufgefallen waren, obwohl sie eigentlich gespannt darauf war.
Wie gut, dass sie das Buch veranlasst hatte, auf die Bitte der Kinder einzugehen, sonst hätte sie sicher nicht mehr hinein geschaut.
Beim Durchlesen stockte ihr der Atem.
„Nehmt euch in Acht vor Schattenwesen, die ins Elfenreich eingedrungen sind, um hier wie im Menschenreich Chaos anzurichten. Mit eurer Ausgewogenheit wollen sie euch auch die angestammte Harmonie und Freude rauben, damit sie Menschen nicht weiter vermittelt werden können, was Mutter Erde vor Zorn erbeben lässt.“
Erstmals war ein Notruf der Erde schriftlich festgehalten worden, der jenen glich, die sie zu hören glaubte, und mit dem Aufruf schloss:
„Sucht Menschen, die euch helfen können, das Schlimmste zu verhindern und wendet euch an Kinder, wenn kein Erwachsener euren Ruf vernimmt!“
Aufseufzend klappte Meridor den dicken Einband zu und legte ihn beiseite.
Sie hatte sich redlich bemüht, doch blieb ihr nichts anderes übrig, als ihr Land Morgania bis zum Frühling sich selbst zu überlassen.
In ihrem Abendgebet legte sie sein Schicksal in die Hände des himmlischen Vaters und eines Menschenkindes.
Zusammenkünfte
Die Erde untersteht einer geistigen Kraft,
der man nicht mit Gewalt beikommen kann.
Sie ordnen zu wollen,
bringt sie in Unordnung.
Lao-Tse
1. Die Kristallkugel
Das Lied der Kristallkugel
Ich sage dir die Wahrheit
unverblümt
Nicht viele können sie ertragen.
Drum prüfe Dich
bist du bereit
ungeschminkt
in den Spiegel zu schauen?
Willst du die Zukunft wissen
gemach, gemach
nur Schritt für Schritt
kann ich sie offenbaren
um dich vor Schaden
zu bewahren.
Soll meine Antwort deutlich sein
überlege dir die Fragen gut
und stelle sie präzise.
Im Frühling vor zwei Jahren begab sich die Elfenkönigin am späten Nachmittag auf den Weg zur Waldfee, die sie als Ebenbürtige ansah und als Beraterin schätzte, weil sie einen guten Riecher hatte und als Sterndeuterin in die Zukunft schauen konnte, gegebenenfalls mithilfe ihrer großen Kristallkugel.
Im letzten Jahr wollte die alte Königin kaum aus dem Winterschlaf erwachen. Die Feierlichkeiten zur Frühlings Tag- und Nachtgleiche waren ausgefallen, weil sie immer hinfälliger wurde. Bald konnte sie nichts mehr zu sich nehmen und verschied kurz darauf, ohne die einzige Tochter in alle Aufgaben einweisen zu können.
Meridor sah heute noch manchmal die schwerkranke Mutter vor sich liegen, als wenn es gestern gewesen wäre, in eine Fülle von Seidendecken gebettet, die nur das spitze, eingefallene Gesicht freiließen. Bei jedem Umbetten war ihre einst imposante Gestalt zerbrechlicher und durchscheinender geworden, bis sie kaum noch auszumachen war.
Eines Tages löste sie sich völlig auf, um in einer Nebelfahne durch die Decke zu entschwinden.
Eine Zeitlang konnte Meridor ihre Mutter hin und wieder schemenhaft wahrnehmen, verlor aber diese Fähigkeit sobald sie die Regierungsgeschäfte einholten.
Doch beschlich sie manchmal das vage Gefühl als wäre sie noch anwesend und würde sie beobachten. So hatte sie es sich angewöhnt, sich ihr anzuvertrauen und sie um Rat zu fragen, wenn sie alleine war und sich unbeobachtet fühlte.
Sie war sich beinahe sicher, dass sie ihr zuhörte, obwohl jedes Mal die Antwort ausblieb, doch hatte sie auch nicht ihre Hellhörigkeit geerbt.
Unberechenbar wie sie gewesen war, würde sie sich irgendwann melden, wenn es ihr beliebte, und auf ihrer jetzigen Ebene herrschte ohnehin eine andere Zeitqualität.
Als Königin Nofresia ihr Ende nahen fühlte, hatte sie in einem klaren Moment die Tochter her zitiert, um ihr Verhaltensmaßregeln einzuschärfen.
Meridor konnte sich noch an den genauen Wortlaut entsinnen.
„Sei streng, unnachgiebig und gerecht zu deinen Untertanen. Achte auf Disziplin und dulde keine