Die Narben aus der Vergangenheit. Sabine von der Wellen
„Warte!“, ruft Carolin plötzlich, als hätte sie eine unglaubliche Idee. „Ich bin Doppelträger!“
„Was?“, frage ich verständnislos und spüre einen Schmerz durch meine Eingeweide kriechen, als wäre schon heute alles für uns vorbei.
Carolins Gesicht leuchtet auf und ihre Augen glänzen wie im Fieber. Sie wirft sich lachend auf mich. „Oh Mann, das ist die Lösung!“
Ich lege locker meine Hände auf ihren Rücken, als könne ich mich an ihr verbrennen. Ihren Stimmungswechsel kann ich nicht nachvollziehen. In mir ist alles, als läge es im Sterben.
„Ich bin Doppelträger, hat sie gesagt. Das heißt, ich habe zwei mögliche Schicksale, die sich erfüllen können. Und eins ist mit zwei Kindern und ohne Liebe und mit ganz viel Hass und Ärger“, erklärt sie völlig überdreht. „Aber das andere ist mit keinem Kind, Liebe, Verbundenheit durch schlimme Vergangenheit … Das bist du! Erik, sie meinte dich damit!“, ruft sie übermütig und sich vollkommen sicher. „Mein zweites Schicksal bist du! Ist ja logisch!“ Sie schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn.
Ich sehe sie nur verständnislos an. „Was, wie? Ich? Aber du sagtest … zwei Kinder“, raune ich verunsichert.
„Nur, wenn sich das Schicksal erfüllt, das ganz schlimm für mich ist und das ohne richtige Liebe sein wird. Aber es gibt ein weiteres, das für mich vorgesehen ist und das ist ohne Kind und mit dir. Ich will keine Kinder. Ich will nur dich! Jetzt verstehe ich, was sie mir gesagt hat“, sagt Carolin mit leuchtenden Augen.
„Und das erste Schicksal mit den zwei Kindern ist wer?“, frage ich betroffen.
Sie stutzt. „Keine Ahnung. Für mich nicht relevant. Sie hat gesagt, dass es dort nur Hass und keine Liebe gibt“, antwortet sie atemlos. „Erik, sie meint, dass wir eine Zukunft haben! Wir beide!“
Ich sehe sie verunsichert an und in mir schreit alles danach, ihr glauben zu wollen. Alles andere ist zu unerträglich. Aber wie soll ich das glauben? Wie das verstehen? Und das mit den Doppelträgern? Hat Carolin sich das gerade ausgedacht, um mich zu beruhigen?
„Ich glaube, ich will das noch mal ganz genau von ihr wissen. Ich gehe noch einmal zu ihr“, murmelt ich nur.
Carolin nickt nur und zieht mich wieder an sich.
Ich schlinge meine Arme um ihren schmalen Körper und sehe noch einmal vorsichtig in ihr Gesicht. Aber alle Anspannung scheint von ihr abgefallen zu sein. Sie sieht fast glücklich aus.
Das verunsichert mich noch mehr, weil sie sich scheinbar plötzlich ganz sicher ist, recht zu haben. Und mir wird klar, wie sehr ich mir das wünsche. Aber mir reicht eine Vermutung nicht. Ich brauche Gewissheit.
Am Sonntagabend ziehe ich Carolin erneut zu dem Zelt der Wahrsagerin. Es ist schönstes Herbstwetter und dementsprechend sind viele Menschen auf der Kirmes, die sich durch die Gänge schieben.
Mir ist es recht. So bleiben wir unerkannt. Denn ich habe nur ein Ziel, was mich auf die Kirmes treibt … und das hat nichts mit dem zu tun, was all die anderen Menschen hier wollen.
„Okay, und du gehst mit, ob du willst oder nicht“, brumme ich und dulde keine weitere Ausrede, füge aber noch ein „Bitte“, hinzu.
Carolin sieht mich fast schon panisch an. Sie will nicht noch einmal zu dieser Frau gehen. Ihr reicht ihre Einsicht vollkommen aus. Mir aber nicht.
„Erik, ich habe Angst. Was machen wir, wenn sie uns nichts Gutes zu sagen hat?“, fragt sie plötzlich. Also ist sie sich doch nicht ganz sicher.
Ich sehe sie nur an und versuche das ungute Gefühl zu unterjochen, das mich seit gestern fest im Griff hat. Ich versuche alle Gefühle aus meinem Inneren zu verbannen und nicht daran zu denken, was das für uns heißen würde. In der Nacht und den ganzen Tag über habe ich den neuen Erik in einen Kerker aus Eis gesperrt und den alten Erik wieder rausgelassen. Der, den kein Gefühl erreichen kann. Aber zu meinem Entsetzen muss ich feststellen, dass die Wut und Gefühlslosigkeit, die diesen Erik zeitlebens beherrschte, längst nicht mehr so tief sitzt.
„Aber wir brauchen Gewissheit. Es ist egal, was sie sagt. Nichts bringt uns auseinander. Aber wenn es etwas zu bekämpfen gibt, dann will ich das wissen. Und ich will wissen, was das für eine Doppelgeschichte ist“, murre ich und habe auch die alte Stimme wieder, die den alten Erik ausmachte.
Wir tauchen in das Zelt ein und die junge Frau, die ihre Aufgabe darin hat, die Kunden herein- und hinauszubegleiten und zu kassieren, sieht uns schon entgegen.
Bevor ich etwas sagen kann, sagt sie mit ihrer klaren, hohen Stimme: „Madame Moinette erwartet euch schon. Ich bringe euch zu ihr.“
Carolin sieht mich erschrocken an und ich umfasse ihre Hand fester. Diese Frau, zu der wir gehen, weiß natürlich, dass wir kommen. Mich überrascht das nicht. Schließlich ist das ihr Job.
Die schwarzhaarige Frau sieht uns schon entgegen. Aber ich habe gleich das Gefühl, dass sie unser Erscheinen nicht freut. Ihre Gesichtszüge sind starr und wie gemeißelt.
Die junge Frau deutet uns, dass wir uns setzen sollen.
Ich lasse Carolin den Vortritt und setze mich neben sie. Ohne Umschweife frage ich: „Frau Moinette, wissen Sie warum wir hier sind?“
Sie lehnt sich vor und sieht erst Carolin, dann mir in die Augen. „Erik und Carolin. E+C. Ihr wollt wissen, welche Chance ihr habt. Aber sie hat Angst. Angst vor dem, was ich sagen könnte“, sagt sie und nickt zu Carolin hin.
Ich werfe Carolin einen schnellen Blick zu, die Frau Moinette nur anstarrt.
Mich vorbeugend, raune ich: „Ich möchte wissen, ob wir eine Zukunft haben und was ich tun muss, damit wir zusammenbleiben können.“
Carolin wirft mir einen Blick zu, den ich nicht deuten kann.
Frau Moinette sieht mich lange an, bevor sie antwortet: „Zukunft! Zukunft ist wann? Und wann endet die eine Zukunft und wird zu einer anderen? Du willst wissen, ob dein Schicksal mit Carolins verknüpft ist? Das ist es natürlich. Ihr lebt zusammen, ihr liebt euch. Eure Seelen sind auf eine Weise verknüpft, dass ihr euch finden musstet. Aber du willst wissen, warum Carolin auch ein Leben als Mutter führen kann, wo du wahrscheinlich niemals Vater wirst.“
Ich setze mich zurück. „Genau.“ Sie spricht aus, was tief in mir wütet.
„Ich möchte dir etwas erklären“, sagt Madame Moinette an mich gerichtet. „Schicksale sind vorgegebene Zukunftsereignisse, die immer mehrere Menschen und Geschehnisse miteinander verbinden. Deshalb sind sie auch änderbar. Denn jeder hat einen gewissen Grad an Mitbestimmung für seinen eigenen Lebensverlauf. Erik, du hast dein Schicksal, das dir ein glückliches, aber wahrscheinlich kinderloses Leben beschert, wenn du den Weg weitergehst, den du beschritten hast. Ich habe dir im Frühjahr gesagt, dass du in diesem Sommer auf einen Menschen triffst, der dein Leben verändern kann, wenn du es zulässt. Du bist auf Carolin gestoßen. Du hättest dein Leben aber auch so weiterführen können, wie du es vorher getan hast und ihr wärt niemals auf diese Art zusammengekommen. Verstehst du das?“
Ich nicke, von den schwarzen Augen wie in einen Bann gezogen. Ahnt diese Frau, wie ich vor Carolin war? Oder weiß sie es sogar? Ich hätte Carolin tatsächlich in mein Bett zerren können, um sie wie alle anderen hinterher abzuservieren.
„Und dass Carolin sich auf dich eingelassen hat unterliegt ihrem Willen, denn sie hat zwei Wege in sich, die sie wählen kann. Der eine war lange Zeit ihr eigentlicher Hauptweg. Aber euer Schicksal ist miteinander verwoben und sie musste auf dich stoßen und eine Entscheidung treffen. Auch das war ihr vorbestimmt.
Offensichtlich hat sie sich für das Schicksal mit dir entschieden und es somit zur Realität werden lassen. Dass sie das tat, war aber keinesfalls fest vorprogrammiert.“
Sie wendet sich an Carolin. „Das andere Schicksal in dir ist sehr mächtig und fordert sein Recht auf Erfüllung. Außerdem hängen zwei Männer daran, deren Schicksale wahrscheinlich auch zwei Wege beschreiben. Doch wenn du dich weiterhin