Requiem für West-Berlin. Reginald Rosenfeldt
Ausgleich zu dem tristen Ambiente wartete auf dem Schreibtisch ein Tulpenstrauß, dessen liebevolles Arrangement nur von Susan stammen konnte. Trend ging nicht davon aus, dass ihn Archer mit den Boten des noch fernen Frühlings erfreuen wollte, und abgesehen davon, war es Susan gewesen, die erst gestern die drei zaghaften Schneeglöckchen vor der Villa entdeckt hatte.
Lächelnd stellte Trend die Blumenvase auf das Fensterbrett, um einen etwaigen Wasserschaden auf dem Aktenordner zu verhindern, und ließ seine Gedanken zu der aparten Kollegin schweifen. Die zierliche Deutsche hatte sich seit seiner Ankunft als eine unentbehrliche Hilfe erwiesen, der er verständlicherweise auch menschlich näher gekommen war. Natürlich nicht zu privat, oder gar intim, denn Susan schaffte es mühelos jederzeit die nötige, feine Distanz zu wahren.
Nein, ihr gegenseitiges Verhältnis entsprach mehr dem von vertrauten, langjährigen Kollegen, und das ging so weit, dass Susan die Pausen zwischen den einzelnen, oft ermüdenden Sitzungen nutzte, um ihr Leben wie einen bunten Flickenteppich aufzurollen. Ohne sich zu zieren, zog sie spöttisch Bilanz, und füllte damit unwissentlich die letzten Lücken in ihrer Personalakte.
Laut den Unterlagen, heiratete die in Hannover geborene Susanne Paulus 1952 den US-Offizier Derek Fisher und erlangte dadurch die damals heißbegehrte amerikanische Staatsbürgerschaft. Wirtschaftlich nun besser gestellt, profitierte sie davon, dass ihr Mann bei den Streitkräften diente, denn durch seine Vermittlung erhielt sie eine Anstellung in der Wiesbaden Air Base. Hier, nur 30 Kilometer vom Frankfurter Flughafen entfernt, erklomm sie schnell die Karriereleiter durch ihre vielgeschätzten, angeblich so typisch deutschen Tugenden wie Fleiß, Präzision, und Pünktlichkeit. Zu diesen Pluspunkten gesellten sich noch die freundschaftlichen Kontakte zu ihrem ehemaligen Arbeitgeber, dem hessischen Landeskriminalamt in Wiesbaden, und so konnte es nicht ausbleiben, dass sie fast zwangsläufig in eine Spezialeinheit übernommen wurde.
Das neue Betätigungsfeld erschien ihr am Anfang wie ein modernes Märchen, eingewoben in ein Netz von Geheimnissen und aufregenden, kleinen Missionen, sah sie sich schon als die Mata Hari der jungen Bundesrepublik. Eine Einschätzung, die schnell von der banalen Wirklichkeit revidiert wurde, und zudem ihre Ehe belastete. Krise folgte auf Krise, und als sich dann die Gerüchte über Dereks nicht einmal volljährige Geliebte als wahr erwiesen, reichte sie nach elf verschwendeten Jahren die Scheidung ein.
Mit der Trennung erlosch Susannes amerikanischer Traum, von dem letztendlich nur der Spitzname Susan übrigblieb, und die das Privatleben ersetzende Arbeit bei der Armee. Eingenistet in ihrem Schutz bietendem Büro, verdiente sie sich als die notorische „Miss Unfehlbar“ den zweifelhaften Ruf der emsigen Deutschen, und Routine ersetze ihre schon vor langer Zeit erloschene Beziehung. Susan selbst kommentierte die triste „Story of her life“ mit dem Bonmot. „Es lohnt sich nicht, über vergossenes Bier zu weinen.“
Die im nüchternen Tonfall vorgetragene Selbsteinschätzung bestätigte nur Trends in den letzten Wochen gewonnenen Erfahrungen. Susan entpuppte sich nämlich als eine realistisch veranlagte junge Frau, die es trotz ihrer manchmal schon nervenden Pingeligkeit durchaus verstand eine angenehme, ja, fast private Atmosphäre zu verbreiten. Ihre Gegenwart wirkte derart entspannend, dass selbst Trend nicht umhin kam, einige Bonmots aus der eigenen Vergangenheit zum Besten zu geben.
So lüftete er erst letzte Woche das Geheimnis seiner fast akzentfreien deutschen Aussprache, die er der Großmutter verdanke. Die aus Hamburg stammende Dame hatte stets darauf bestanden, dass er bei seinen Besuchen in der Mundart der alten Heimat mit ihr plauderte, und nun kamen ihm diese Nachmittage bei seinen Aufenthalten in „good old Germany“ mehr als zupass.
Zur Not konnte er überall als „Einheimischer“ durchgehen, der eben nur im Akzent eines anderen Bundeslandes redete. Für die Berliner hörte er sich dann wie ein Norddeutscher an, und in Hamburg benutzte er wiederum den vertrauten Kreuzberger oder Neuköllner Dialekt.
Apropos Berliner Bezirke, die Bewohner der geteilten Metropole würden bestimmt nicht schlecht staunen, wenn im Sommer die Operation „Good neighborhood“ anlief, aber bis dahin galt es jede noch verbleibende Minute sinnvoll zu nutzen. Der Feind jenseits der Mauer schlief schließlich nicht, und so gönnte Trend den aufblühenden Tulpen einen letzten Blick und ergriff den Aktenordner. Zwischen den grauen Deckeln steckten die Dossiers der in West-Berlin etablierten kommunistischen Brigaden, und als Quelle für die rechtlich nicht relevanten Informationen dienten hauptsächlich verschiedene V-Männer, die sowohl für den BND, wie auch den Militärischen Abschirmdienst oder das LKA arbeiteten. Ihre Identitäten verschleierten Codenamen, für die Trend keine Freigabe besaß, und die er letztendlich auch nicht benötigte. Denn ihn interessierten nicht die ohnehin observierten Genossen, sondern die weitaus gefährlicheren, militanten Splittergruppen und Einzelgänger.
„Damned red idiots“, pflegte Captain Archer die Fanatiker so treffend zu bezeichnen. Unbelehrbare, die sich nicht im Focus der offiziellen Behörden befanden, und für deren Kontaktierung Trend auf die Mitarbeit eines Free-Lancers angewiesen war. Eines ordinären Spitzels, wie sie sich laut Susan vor allem im BKA tummelten, zu dem sie ja laut de Lisle die besten Verbindungen besaß.
Miss Unfehlbar und ihre schwarze Soldliste! Erheitert zündete sich Trend eine Camel an und blickte auf die Uhr. Susan sollte eigentlich jeden Augenblick eintreffen, denn der Major hatte sie vor vier Stunden mit einer heiklen Mission in das Polizeipräsidium in der Friesenstraße geschickt. Der ehemalige preußische Kasernenkomplex lag am Flugplatz Tempelhof und damit nicht gerade um die Ecke, aber allmählich wurde es Zeit, dass Susan zurückkehrte.
Trend rauchte die Camel zu Ende, und als er sie im Aschbecher ausdrückte, hörte er endlich das unverwechselbare Klackern energischer Schritte im Korridor. Einen Moment verharrten sie vor der Bürotür, dann drückte eine Hand die Klinke hinunter, und Susan betrat den Raum. Adrett, beherrscht, ganz dem kühlen Image von Grace Kelly entsprechend; eine moderne Frau, die trotz des sicher anstrengenden Vormittags unglaublich kompetent wirkte. Mit einem kleinen, neutralen Lächeln nahm sie unaufgefordert Platz, und Trend bot ihr kameradschaftlich eine Zigarette an. „Schön, dass Sie es noch rechtzeitig geschafft haben. Ich hoffe, Sie sind gut durch den Stau am Innsbrucker Platz gekommen?“
Bei der Erwähnung des ungeliebten Dauerthemas wölbte Susan nur vielsagend die rechte Augenbraue und lehnte sich bequem zurück. Die unangezündete Zigarette abwartend zwischen den elegant gespreizten Fingern haltend, erlaubte sie sich einen fast unhörbaren Seufzer und schlug lässig die Beine übereinander. Ihre unter dem hochgerutschten Rock hervorschimmernden Oberschenkel geflissentlich ignorierend, schnippte Trend galant sein Zippo an, und sekundenlang erfüllte ein leichter Benzingeruch das Büro. Die Spitze der Camel begann aufzuglimmen, und Trend schlug mit einer tausendfach geübten Handbewegung das Sturmfeuerzeug wieder zu. Susan, die das typische Klickgeräusch des Zippo bisher jedes Mal ungefragt registriert hatte, erlaubte sich einen tiefen Lungenzug, bevor sie belustigt feststellte: „Ein schönes Spielzeug, John, sehr sexy, sehr männlich, aber irgendwie ist das nicht Ihr Stil. Wenn überhaupt, passt so ein Macho-Lighter doch mehr zu unserem großen Cowboy.“
„Danke für die Einschätzung!“ Trend beugte sich vor und steckte das stählerne Utensil wieder in die Sakkotasche. „Also gut, nur damit Sie nicht ewig weitergrübeln müssen, für mich ist das Feuerzeug kein Gebrauchsgegenstand, sondern ein sentimentales Andenken. Eine mahnende Erinnerung an den achtunddreißigsten Breitengrad, um ganz präzise zu sein.“ Mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck entzündete der Captain die nächste Zigarette und blies den Rauch in die Richtung des geöffneten Fensters. „Aber genug der unnützen Reminiszenzen, kehren wir lieber wieder zu unserem eigenen, eisernen Vorhang zurück. Und? Wie lief es mit den Bürohengsten?“
„Wider erwarten, völlig problemlos! Schäfers Männer benötigten nur „a little bit Anschiss“ und für den hatte schon der Major gesorgt. Der leidige Rest erwies sich dann als eine reine Organisationsfrage, und damit ist die Angelegenheit zumindest bis zum nächsten Termin aus der Welt geschafft.“
„Hervorragend!“ Trend wartete geduldig bis Susan ihre Zigarette aufgeraucht hatte, und reichte ihr dann den aufgeschlagenen Ordner. Die auf dem dünnen Schreibmaschinenpapier markierten Vermerke erregten schon seit einigen Wochen Susans Unwillen, und so erlaubte sie sich die längst fällige Rüge: „John, ich unterstütze Sie jetzt